EZC – Kapitel 6

Mir war noch ein klein wenig schummrig von diesem sonderbaren magischen Wirbel, in den mich die drei Feen gehüllt hatten. Dennoch erkannte ich ziemlich schnell, dass ich nicht zurück in meinem Körper war.
„Was soll das denn?“, schimpfte ich und rappelte mich hoch. Das war gar nicht so leicht, denn ich trug ein gigantisches Kleid, das auch noch so eng geschnürt war, dass ich nicht richtig atmen konnte. Stirnrunzelnd betrachtete ich dieses voluminöse, glitzernde, mit Perlen übersäte Stoffwunder. Genau das war es: ein Stoffwunder! Niemals gab es einen Menschen, der das heutzutage trug. Höchstens zu einem Kostümball oder für einen Märchenfilm.
Ein ungutes Gefühl schlich sich in mich hinein und drückte schwer auf meinen Magen. Aus einem ziemlich vagen Gedanken heraus hob ich die Stoffbahnen an und blickte auf meine Füße. Ein goldener Pantoffel und ein nackter Fuß. Ich raffte das Kleid empor und drehte mich um. Tatsächlich entdeckte ich einige Stufen höher den anderen goldenen Pantoffel. Ich war also gestolpert – oder besser, diese Person, in der ich nun steckte, war gestolpert. Ganz kurz huschte mir durch den Kopf, den fehlenden Pantoffel zu holen, doch da hörte ich das Klappern von Schuhen auf Stein. Verdammt! Auf gar keinen Fall durfte mich jemand hier entdecken. Wenn ich aufflog, konnte es ungeahnten Ärger geben. Bevor ich nicht wusste, in welchen Körper mich diese unseligen Feen geschickt hatten, musste ich mich verstecken. Also floh ich. Zumindest versuchte ich es. Das war gar nicht so leicht. Die enge Schnürung des Mieders erstickte mich fast. Dazu das schwere, überbreite Kleid, wie konnte sich überhaupt ein Mensch darin bewegen? Dass ich nur einen Schuh trug, machte es nicht besser. Abgesehen davon war der goldene Pantoffel aus Stoff, wahrscheinlich nur doppellagig an der Sohle, deshalb spürte ich jeden Stein an meinen empfindlichen Fußsohlen. Von der Bodenkälte wollte ich jetzt gar nicht sprechen.
„Halt, wartet!“
Auch das noch! Irgend so ein Kerl lief mir hinterher. Der hatte bestimmt keine Pantoffeln an und sehr sicher auch kein Kleid mit zig Unterröcken. Wie sollte ich dem nur entkommen? Flach und hektisch atmend taumelte ich weiter. Nur noch fünf Stufen, danach musste ich mir überlegen, wohin ich fliehen sollte. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Seltsamerweise hörte ich keine Schritte mehr und auch kein Rufen. Es schien so, als ob der Mann mich gar nicht verfolgte. Sollte ich mich darüber freuen? Zumindest bedeutete es, dass ich nicht in den Körper eine Diebin oder sonstigen Verbrecherin geschlüpft war.
Am Ende der Treppe entwich mir ein verzweifelter Seufzer. Es gab keine Straße, nur festgetretene Erde. Das würde eine sehr kalte und schmutzige Flucht werden. Hoffentlich fand ich wenigstens ein gutes Versteck. Zum Glück kam aus dem Gebäude hinter mir genügend Licht, sodass ich den Pfad teilweise erkennen konnte. Ohne lang zu überlegen, wandte ich mich nach rechts und eilte voran. Als das Licht schwächer wurde, verlangsamte ich meine Schritte. Jetzt nahm ich mir auch die Zeit, zurückzublicken. Niemand verfolgte mich. Dafür hörte ich Musik. Die Größe und Form des Gebäudes deutete darauf hin, dass es sich um ein Schloss oder eine Burg handeln musste. Ich blickte auf das Kleid und schluckte nervös. Meine Hände glitten zu meinem Kopf und ertasteten eine kunstvolle Hochsteckfrisur mit vielen Perlen darin. An meinen Ohren baumelten Ohrklipse, sicherlich bestanden sie ebenfalls aus Perlen. Wenn das alles echte Perlen waren, dann war ich eine Prinzessin oder eine Königin. War das da vielleicht mein eigenes Fest? Gehörte das Schloss mir oder meiner Familie? Aber wer war der Mann gewesen, der mir nachgeeilt war? Falls es mein Fest war, dann hatte er sich nicht besonders bemüht, mich aufzuhalten.
Nachdenklich schritt ich weiter. Das ergab doch alles überhaupt keinen Sinn.
„Denk nach, Anara, denk nach“, murmelte ich und biss nachdenklich auf meine Unterlippe. „Ich habe um eine zweite Chance gebettelt. Und ich habe versprochen, dass ich nie mehr davonlaufe … Ha, ha, besonders lange habe ich mein Wort ja nicht gehalten. Meine erste Handlung war, vor einem Fremden zu flüchten. Aber das ist nicht wirklich meine Schuld. Hört ihr mich?“ Ich rief es in die Nacht. „Falls ihr mich hört, Fauna, Flora und Sonnenschein, ich finde das gar nicht lustig!“
Ärgerlich humpelte ich weiter. Hoffentlich führte der Weg zu einer Scheune, wo ich für die Nacht Unterschlupf finden konnte. Außerdem musste ich dieses auffällige Kleid loswerden. Jetzt glaubte ich, zu verstehen, was die drei Feen damit gemeint hatten, als sie sagten, ich solle mich nicht beschweren, wenn es mir nicht gefiel. Denn tatsächlich gefiel mir diese zweite Chance überhaupt nicht. Ich wollte nicht in einen fremden Körper in eine unbekannte Gegend. Ich wollte in meinen Körper zurück. Was war das denn für eine zweite Chance? Sie hatten mich in einen fremden Körper gezaubert. Das war dann doch wohl eine neue Chance, schließlich war ich zum ersten Mal in diesem Körper.
Ich stutzte und blieb verwirrt stehen. Meine Stimme! Die hatte wie immer geklungen. Oder stimmte etwas mit meinen Ohren nicht? Es konnte doch unmöglich sein, dass die Frau, deren Körper ich übernommen hatte, genau so sprach wie ich? Ein weiterer Schreck durchzuckte mich.
„Oh mein Gott! Was ist, wenn die Frau jetzt bei den Feen ist und diese ebenfalls um eine zweite Chance anfleht? Kommt sie dann in diesen Körper zurück und wir sind zu zweit hier drin?“
Keuchend stand ich wie erstarrt da. Das Gefühl einer Panik machte sich in mir breit. Und bei dem schrecklichen Korsett, das mir die Luft abschnürte, war das kein gutes Gefühl. Erst nächtliche Geräusche, die ich keinem Tier zuordnen konnte, holten mich aus meinem Schockzustand. Ich musste raus aus diesem Kleid. Die Luftknappheit nahm meinem Gehirn den nötigen Sauerstoff! Das musste es sein. Und deshalb kam nur noch Schwachsinn zustande. Ich war auf der Treppe aufgewacht, also konnte die Frau gar nicht gestorben und bei den Feen sein.
Mein Verstand wollte schon wieder, dass ich anhielt und nachdachte, doch ich zwang mich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich musste aus diesem Kleid raus. Ich brauchte eine sichere Unterkunft für die Nacht. Alles andere musste warten. Auch die fixe Idee, die mein Hirn flutete, dass der Mann mich erschossen hatte und erschrocken gewesen war, als ich mich erhoben hatte. Doch er hatte mich nicht verfolgt, weil … weil … Ja, und da setzte eben die Logik erneut aus. Ich hatte eindeutig Verwirrungen im Gehirn aufgrund von Sauerstoffmangel. Vielleicht konnten deshalb die Damen in Regency-Romanen nur dümmlich kichern, weil ihnen der Sauerstoff für geistreiche Unterhaltung fehlte. Wer, um Himmels willen, hatte zu eng geschnürte Korsetts in Mode gebracht?
Während ich frierend weiter humpelte, kaum Luft bekam und jeden, wirklich jeden Stein und jede Unebenheit spürte, ging ich alle Möglichkeiten durch, was für ein Körper es sein konnte. Gab es überhaupt noch Prinzessinnen, die so ein Kleid trugen? Auf irgendwelchen Veranstaltungen zeigten die Frauen für gewöhnlich Haut und trugen enge Kleidung, die von Beinschlitzen über Ärmellosigkeit und extrem langen Rückenausschnitten alles mitnahmen, was auch nur hauchweise auf einen perfekt trainierten Körper hinwies. Nackte Frauenhaut gehörte zu einem roten Teppich genauso dazu wie ein Mann in einem Anzug. Also schied eine normale Veranstaltung aus, es musste ein Kostümball gewesen sein, von dem ich geflohen war.
„Rucke di guck, rucke di guck.“
Huch, was war das? Abrupt blieb ich stehen und streckte den Kopf leicht vor, öffnete erschrocken den Mund und lauschte. Was für ein Tier machte solche Geräusche? Und das mitten in der Nacht? Ein Waldkauz? Fledermäuse, da war ich absolut sicher, flogen geräuschlos durch die Dunkelheit. Deren Ultraschallschwingungen konnte mein Trommelfell niemals hören.
„Rucke di guck, rucke di guck.“
Das kam von rechts, irgendwo dort in der Dunkelheit musste das Tier stecken. Ich presste meinen Atem hektisch aus meinem gequälten Brustkorb und entschied mich, dass es nicht verkehrt sein konnte, dorthin zu gehen. Vielleicht gab es dort ein Anwesen, wo Vögel gehalten wurden. Einen großen Baum erkannte ich auf jeden Fall schon einmal.
„Rucke di guck, rucke di guck.“
Das Geräusch wurde lauter. Doch noch konnte ich es keinem Tier zuordnen. Kein Wunder, ich war kein Landmädchen. Auf der Gesamtschule stand Tierstimmenkunde nicht auf dem Lehrplan. Deshalb erkannte ich auch nicht den Baum, aus dem diese Tierstimme erklang. Oder war es ein großer, stämmiger Busch? Was ich auf jeden Fall erkannte, war das Grab. Ein Schauder durchfuhr mich. Dieses Mal nicht äußerlich, sondern von ganz tief innen.
Nein, ich glaubte nicht an Horrorgeschichten mit irgendwelchen Zombies, die sich aus Gräbern schälten. Das verwitterte Holzkreuz wies auch darauf hin, dass es schon länger hier war. Da müsste der Untote längst herausgekrochen sein und hätte die Erde aufgeworfen. Aber wer begrub einen Menschen am Straßenrand – oder in diesem Fall: Wegrand? Ein Symbolkreuz, wie es an stark befahrenen Straßen stand und auf einen tödlich verunglückten Menschen hinwies, war es definitiv nicht. Denn hier waren Steine geschichtet, in der Mitte waren auf der aufgehäuften Erde Blumen gepflanzt und der Baum oder riesige Strauch stand am Kopfende.
Obwohl mich die Angst fest umklammert hielt, schritt ich zu dem Holzkreuz. Stand dort vielleicht ein Name oder eine Jahreszahl, die mir einen Hinweis geben konnten, wo ich war?
„Rucke di guck, rucke di guck.“
Ich blickte nach oben. In dem Wirrwarr an Zweigen und Laub saß ein Vogel, wahrscheinlich eine Taube. Wieso war sie um diese Uhrzeit wach? War das normal bei Tauben? Hatte sie vielleicht schlecht geschlafen oder im Traum gegurrt? Ach, was machte ich mir über einen Vogel Gedanken? Jetzt war es wichtig, herauszufinden, wohin mich die Feen geschickt hatten. Ich hob den Kleidersaum an, schritt möglichst nah an das Kreuz heran und bückte mich. Nichts. Da stand rein gar nichts! Ärgerlich presste ich die Lippen aufeinander. Wer auch immer dieses Grab pflegte, das Kreuz gehörte offensichtlich nicht zur Grabpflege mit dazu.
Ich wollte mich schon wieder abwenden und zum Weg zurückgehen, da bemerkte ich einen Haufen am kurzen Stamm des Baumes. Das sah nach Kleidung aus. Obwohl mich ein Ekelschauer durchfuhr, zwang ich mich, dorthin zu gehen. Hoffentlich versteckten sich keine Mäuse und Würmer in dem Stoff. Doch ich musste es zumindest überprüfen. Mein prächtiges Ballkleid taugte wirklich zu nichts, besonders nicht zum Atmen.
Zunächst stieß ich mit dem beschuhten Fuß gegen den Haufen. Nichts rührte sich. Das war doch ein gutes Zeichen, oder? Mit weit ausgestrecktem Arm ergriff ich einen Zipfel und hob den Stoff vorsichtig an. Er war schäbig, mehrfach geflickt und irgendwas rieselte aus ihm heraus. Nach Tieren sah es nicht aus. Ich schüttelte den Stoff etwas kräftiger und schluckte mühsam. Ein unsinniger Gedanke huschte durch meinen Kopf: Asche. Aber den verwarf ich schnell wieder. Nur eines war jetzt wichtig. Es schien ein brauchbares Kleidungsstück zu sein, bei dem ich wieder Sauerstoff in meine Lungen bekam. Ich ließ es fallen und tastete mein voluminöses Ballkleid ab, wo die Haken, Ösen oder Bänder waren, um es zu öffnen. Wie überrascht war ich, als ich es einfach von den Schultern streifen konnte! Es fiel fast schon wie von selbst herab. Dieses Mal atmete ich nicht flach und schnell, weil mein Brustkorb zu eng geschnürt war, sondern weil mich ein sonderbares Angstgefühl durchzog. Aber noch wollte ich mich dem nicht stellen. Bloß nicht darüber nachdenken!
Ich stieg aus dem Kleid, warf es zu dem Baum und schlüpfte in das schäbige Gewand. Es passte perfekt. Viel zu perfekt. Und als ich mit zitternden Händen über den geflickten Stoff fuhr, einen letzten Blick auf das kostbare Ballkleid warf – da war es verschwunden!
Entsetzt wich ich einen Schritt zurück.
„Rucke di guck, rucke di guck.“
Mein Kopf fuhr nach oben. Auf die Taube. Unmöglich. Grenzenlose Fassungslosigkeit erfüllte mich.
„Aschenputtel“, keuchte ich ungläubig. „Das ist das Märchen von Aschenputtel!“
Kommentare