EZC – Kapitel 7
Fieberhaft kramte ich in meinen Erinnerungen nach dem genauen Ablauf des Märchens. Den Schuh hatte Aschenputtel am dritten Ballabend verloren.
„Anara, denk nach“, jammerte ich und blickte suchend um mich. Da ich in Aschenputtels Körper war, musste ich doch auch irgendwelche Informationen haben, wie es jetzt weiter ging. Wo war der Gutshof des Vaters? Zum Grab der Mutter hatte ich unbewusst gefunden.
Mein Blick glitt nach oben. „Taube, du hast mich hierher gelockt. Kannst du mich nicht auch nach Hause bringen?“ Eigentlich glaubte ich nicht daran, dass mich der Vogel verstand, aber ich befand mich in einem Märchen. Hier war alles möglich, oder nicht? Zumindest verstand ich jetzt, warum mich der Mann nicht verfolgt hatte. Bestimmt war er nur bis zu dem Schuh gelaufen. Weiter brauchte er nicht. Zumindest sah das Märchen nichts weiter vor. So ein Ärger! Bestimmt hätte sich alles für mich neu gestaltet, wenn er versucht hätte, mich einzuholen.
Ich seufzte laut, starrte noch ein paar weitere Sekunden auf die Taube und wandte mich schließlich wieder dem Weg zu. Bestimmt kam ich beim Gutshof an, wenn ich nur lang genug lief. Weit konnte es ja nicht sein. Aschenputtel – ich – war mit Tanzpantoffeln von zu Hause bis … Meine Gedanken stockten.
„Nein, so ein Ärger! Sie ist vom Grab bis zum Schloss gelaufen. Nicht von ihrem Zuhause aus.“ Ich hob den Saum meines schäbigen Gewandes und entdeckte klobige Holzschuhe. „Auch das noch! Hoffentlich habe ich zumindest die abgehärteten Füße von Aschenputtel. Nur kann das irgendwie nicht sein.“ Ich runzelte die Stirn. „In allen Verfilmungen hat Aschenputtel zarte Füße. Und der Königssohn ekelt sich ja auch nicht vor ihrem Fuß, als er ihr den Pantoffel anzieht. O wei. Plattfüße mit Hornschicht hat sie also nicht.“
Ich schluckte und verzog das Gesicht. Ohne Strümpfe in klobigen Holzschuhen sollte ich ins Unbekannte wandern. Das konnte jetzt eine wirklich ungemütliche Nacht werden. Wenn ich dann noch daran dachte, dass ich vor meinen Eltern und Stiefschwestern ankommen musste, war es noch schrecklicher.
„Von wegen, ich soll mich nicht beschweren“, schimpfte ich, als ich mich auf den Weg machte. Wenn ich vorhin jeden Stein durch den dünnen Stoff des einen Pantoffels gespürt hatte, fühlte ich nun das Scheuern des Holzes an meiner empfindlichen Haut. Bestimmt gab das entsetzliche Blasen. Ich malte mir schon aus, wie sie aufplatzten, Blasenflüssigkeit und Blut in das Holz floss und ich am nächsten Tag keinen einzigen Schritt machen konnte. Doch bevor ich so richtig im Selbstmitleid ertrinken konnte, bemerkte ich einen riesigen, dunklen Schatten. Das musste ein Gebäude sein!
Hoffnung erwachte in mir. Nicht eine Sekunde befürchtete ich, es könnte sich um feindliche Bewohner handeln. Das wäre bestimmt irgendwo im Märchen aufgetaucht, wenn Aschenputtel an Räubern oder Dieben hätte vorbeimarschieren müssen.
Ich behielt recht. Es war das Haus meines Vaters. Erleichtert huschte ich durch den Gesindeeingang hinein. Ich wollte schon die Stiege nach oben zu den Schlafzimmern nehmen, als mir noch rechtzeitig einfiel, dass ich in der Küche schlief, in der Asche. Daher ja mein Name.
Augenrollend machte ich mich auf den Weg dorthin. Das Feuer war heruntergebrannt. Nur noch vereinzelte Kohlestücke glühten. Na, da konnte ich mich morgen freuen. Ich hatte noch nie einen Ofen entzündet oder ein Feuer gemacht. Beim Elektroherd wurde ein Schalter gedreht, mehr nicht. Aber hier war es bestimmt die Aufgabe von Aschenputtel, morgens das Feuer zu machen. Ob sie in jedem einzelnen Zimmer des Hauses das Feuer entfachen musste? Das könnte sehr interessant werden. Vielleicht hatte diese sonderbare Märchenwelt ein Einsehen mit mir und brachte mir im Schlaf alles bei.
Ich schlüpfte aus meinen Schuhen. Ein wenig hilflos stand ich vor dem großen Kamin. Es gab kein Kissen und keine Decke. Ich sah an mir herunter. Und auch kein Nachtgewand. Seufzend ließ ich mich auf dem Boden nieder. Es würde eine sehr unruhige und sicher schmerzende Nacht werden. Ich rollte mich ein wenig zusammen, rückte so dicht an die glimmende Glut, wie es mir möglich war, und versuchte, nicht die Ascheteilchen einzuatmen. Besonders große Lust, an einer Lungenkrankheit verfrüht zu sterben, hatte ich nicht.
„Vielleicht haben die Leute in den Märchen deshalb immer bis zu ihrem Tod zusammengelebt“, murmelte ich. „Scheidung war gar nicht nötig. Man hat nicht lang genug gelebt, um sich auseinanderzuleben oder sich zu entlieben.“
Ich schloss die Augen und hoffte, wenn ich sie wieder öffnete, dass ich dann zurück bei den drei Feen war oder – noch besser – in meinem eigenen Körper erwachte. Vielleicht war dies hier alles doch nur ein Traum. Ich hoffte es so sehr!
Stöhnend drehte ich mich auf den Rücken, als meine Seite zu schmerzen begann. Zumindest in dem Punkt kam mir das Märchen nicht entgegen. Bequem war es hier auf dem Boden wirklich nicht. Vergeblich versuchte ich, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Das bisschen Glut reichte nicht, um irgendetwas zu sehen. Die Fenster des Hauses waren auch nicht die größten, sodass nur wenig Licht vom Mond und den Sternen hereinfiel, falls da überhaupt etwas bis hierher drang.
Leider wurde mir rasch kalt, als ich so lang auf dem Rücken lag und die Kälte des Raums in mich sickern konnte. Es fehlte eine Decke. Also drehte ich mich auf die linke Seite, rollte mich wieder zusammen und rückte erneut möglichst dicht an den Kamin. Statt einer einlullenden Müdigkeit durchdrang mich ein heißer Schreck. Das Getrampel von Schuhen und lamentierende Stimmen erfüllten die nächtliche Stille.
„Da geht doch was nicht mit rechten Dingen zu.“ Ich wusste, das war die Stimme meiner Stiefmutter. „Eine völlig Fremde, die unserem Königssohn den Kopf verdreht.“
„Frau, es ist nun einmal seine Entscheidung, wen er freit.“ Das war eindeutig mein Vater. Seine Stimme klang müde und dunkel. Er schien es leid zu sein, immerzu mit seiner zweiten Ehefrau diskutieren zu müssen.
„Er hat uns keines Blickes gewürdigt“, sagte eine meiner Stiefschwestern mit schmollender Stimme, und die andere fügte hinzu: „Dabei tragen wir unsere besten Kleider.“
Ja, da hatten sie recht. Sie ragten tatsächlich zwischen allen anderen Mädchen hervor. Keine der jungen Frauen konnte mit ihrer zur Schau gestellten Pracht mithalten. Sie waren hinreißend schön. Viel schöner, als ich sie mir je beim Lesen des Märchens vorgestellt hatte. Und woher mein Vater all das viele Geld nahm, um Stoffe und Schmuck zu kaufen, der wertvoller war als der Schmuck der adligen Töchter aus den Nachbarreichen, war mir schleierhaft.
Der Hauch eines schlechten Gewissens überkam mich. Aschenputtel hätte eigentlich niemals eine Chance bei dem Königssohn gehabt. Auch wenn es im Märchen so dargestellt wurde, als ob die Mutter aus dem Himmel heraus die Hilfe schickte, fand ich jetzt Cinderella logischer. Magie und Feen passten sehr viel besser zum Erfolg des schmutzigen Mädchens.
Während meine Familie weiter schimpfte, jammerte und klagte und sich in Richtung ihrer Schlafräume begab, wanderten meine Gedanken zum sonderbaren Märcheninhalt. Aschenputtel war blitzblank sauber gewesen, als sie beim Schloss eingetroffen war. Sie hatte nicht gestunken, keinen Schmutz in den Haaren und am Körper gehabt. Als ob mit dem Überstreifen des wunderschönen Kleides alles abgewaschen wäre. Und als ich vorhin das Kleid ausgezogen hatte, um das erbärmliche, staubige Gewand überzuziehen, hatte mein Körper auch gleich die Verunreinigung an Armen, Händen und wahrscheinlich auch dem Gesicht mit übernommen.
Ich richtete mich auf und zog die Beine an. Langsam tastete ich nach meinen Füßen. Keine Blasen, keine Schmerzen. Alles schien heil und gesund zu sein. „Unmöglich“, hauchte ich und wusste doch, es war möglich. Es war ein Märchen. Da war alles möglich. Auch dass meine untrainierten Stadtfüße keine Wunden beim Laufen mit Holzschuhen davontrugen.
Mein Blick wanderte wieder zum Fenster, und mit ungläubig geweiteten Augen erkannte ich, dass die Sonne bereits aufging. Der Horizont färbte sich dezent rot. Die Nacht war vergangen, ohne dass ich geschlafen hatte! Und ich wusste, was heute geschehen sollte: Der Königssohn würde kommen, um seine Braut zu holen.


































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