Kapitel 21

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Stern über Schatten, Licht über Leid – Wer ruft, der wird gehört in der Unendlichkeit.
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Den gesamten Dienstag war ich voller Unruhe. Heute würde Yasmin erfahren, ob das Kleine ein Junge oder ein Mädchen war. Es war nicht das erste Mal, dass ich allein im Archiv arbeitete, da sie bereits einen Vorsorgetermin gehabt hatte, seit ich in der Zentralbibliothek arbeitete. Trotzdem war es dieses Mal etwas anderes. Ich war so nervös wie nie zuvor und bedauerte, dass wir keine Handynummern ausgetauscht hatten.
Nach Feierabend fuhr ich zu Nicole. Während der Busfahrt wurde mir bewusst, dass ich schon lang nicht mehr zu ihr gefahren war. Ich hatte es völlig vergessen. Alles lief so hervorragend, dass ich selbst an meine ehemalige Arbeitsvermittlerin kaum noch einen Gedanken verschwendete. Ich hatte Frau Behrens das Formular von Nicole mit einer Kopie meines Arbeitsvertrages per Post geschickt. Und sie hatte mich vorerst aus ihrer Liste der Suchenden gestrichen. Dabei war ich mir sicher, dass sie sich das Ende meiner Probezeit notiert hatte. Aber das konnte mir egal sein.
Als ich die Praxisräume betrat, kam mir Nicole persönlich entgegen. Sie trug ein weinrotes Kleid mit leicht ausgestellten Ärmeln, und ihre Haare waren zu einem lockeren Knoten gebunden, aus dem sich eine einzelne Strähne gelöst hatte.
„Verena!“, begrüßte sie mich mit einem Lächeln. „Ich habe schon gespürt, dass du heute kommst.“
Ich war überrascht. „Wirklich?“
„Mhm.“ Sie deutete mit einer einladenden Geste den Flur entlang. „Dein Herz war laut. Und ich bin mir sicher, dass du etwas Sternenschimmer gebrauchen kannst.“
„Mein Herz war laut?“ Ich konnte mit ihrer Aussage nichts anfangen. Natürlich wusste ich, dass mein Herz manchmal schneller und kräftiger schlug – aber lauter? Dafür müsste sie schon sehr nah an mich herantreten, um es hören zu können.
„Ach, meine liebe Sternenschwester“, erwiderte Nicole sanft, „wenn du erst so lange im Sternenreich wie ich zugebracht hast, dann kannst auch du die Herzen der anderen Schwestern hören.“
Ich nickte. Vielleicht hatte sie recht. Auch wenn es mich ein wenig verunsicherte. Wollte ich das überhaupt? Die Herzen der anderen spüren? Ich dachte an die vielen Frauen im Sternenland, es waren Hunderte. Wie konnte man noch klar denken, wenn man so viele Herzen fühlte? Eigentlich würde es mir reichen, wenn ich Yasmins Herz fühlte.
Yasmin.
Mein Rücken streckte sich, und ich sah Nicole mit großen Augen an. „Yasmin hatte heute einen Termin bei ihrer Frauenärztin. Sie hat erfahren, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird.“
Nicole nickte kaum merklich und wartete still ab.
„Ich … Ich weiß nicht, warum mich das so … mitnimmt. Ich meine, es ist ihr Kind, es ist ihr Leben. Aber ich …“ Ich brach ab, weil ich meine Gedanken nicht ordnen konnte. Meine Hände verschränkten sich vor lauter innerer Unruhe. Ich drückte sie, bis die Fingerspitzen rot wurden. „Ich bin so nervös. Ich kann kaum denken.“
Nicole streckte ihre Hände aus, legte sie über meine, und eine sanfte Ruhe floss zu mir herüber. „Weil du fühlst, Verena“, sprach sie mit leiser, warmer Stimme. „Und weil du siehst.“
„Weil … weil ich sehe?“
„Du siehst nicht nur ihren Bauch, der von Woche zu Woche wächst. Du siehst ihre Unsicherheit, wenn sie vom Geschlecht des Ungeborenen spricht. Du siehst, wie sie zwischen den Welten balanciert, zwischen der Tradition ihrer Herkunft und der Freiheit in unserer Kultur. Yasmin ist ein Mensch, der gehört werden möchte. Und du willst zuhören.“
„Aber ich habe keine Handynummer. Ich weiß nicht, wie ich für sie da sein kann. Ich weiß nicht mal, wo sie wohnt! Ich bin doch nur eine Kollegin für sie. Ich … Ich weiß nicht, wie ich helfen kann. Ich weiß nur, dass ich es will.“
Nicole lächelte, strich noch einmal sanft über meine Hände, ehe sie mich losließ. „Manchmal, Verena, reicht das Wollen schon aus. Die Sterne kennen viele Wege, Verena. Nicht alle führen durch Worte. Manche führen über Nähe. Über Geduld. Über den Moment, in dem du einfach da bist, wenn jemand anders zu zerbrechen droht.“
„Glaubst du, sie zerbricht?“ Meine Unruhe, die soeben fast verschwunden war, flammte wieder hoch. Ich wollte auf keinen Fall, dass es Yasmin schlecht ging.
„Ich glaube, sie kämpft.“ Nicole seufzte. „Du bist auf deinem Weg, Verena. Und sie ist auf ihrem. Vielleicht geht ihr ein Stück gemeinsam. Vielleicht wird es mehr. Oder weniger. Aber was zählt, ist, dass du für sie da bist.“
Ich schwieg, ließ die Worte auf mich wirken. Sicher hatte Nicole recht, ich konnte Yasmin nur helfen, indem ich für sie da war. Welchen Weg sie ging, konnte nur sie selbst entscheiden.
„Willst du ins Sternenland?“, fragte Nicole schließlich. „Ich glaube, es gibt einen Stern, der heute auf dich wartet.“
Ich nickte stumm.
Nicole führte mich ins Sternenzimmer. Leise flüsterte ich den Spruch mit, der den Sternenpfad erscheinen ließ. Als wir den Schleier am Ende des Sternenpfades durchschritten und ich den Weg zum Wald sah, blieb ich stehen und atmete tief den Duft von frisch gemähtem, nassem Gras ein. Einige Einhörner grasten friedlich vor den silbern schimmernden Stämmen der großen Bäume. Feen schwirrten umher, und ich sah zum ersten Mal einen Greif. Ein echter Greif!
Majestätisch, stolz, vollkommen.
Seine Flügel waren ausgebreitet, ihre Spitzen glühten in einem tiefen Rot, als hätten sie das Feuer der Abenddämmerung eingefangen. Seine Brustfedern schimmerten wie flammendes Kupfer, und sein Löwenkörper glänzte in einem samtigen Gold, das zugleich Wärme und Kraft ausstrahlte.
Er hob den Kopf, und ich konnte kaum glauben, wie lebendig seine Augen wirkten – silbrig, intelligent, forschend.
„Ein Greif“, hauchte ich voller Bewunderung, die mich bei seinem Anblick durchströmte.
Weder die Pegasi noch die Einhörner hatten je ein solch überwältigendes Gefühl in mir ausgelöst. Der Greif war mehr als ein Fabelwesen. Er war Sinnbild für Mut, für Aufbruch, für eine Kraft, die nicht einschüchterte, sondern beschützte.
„Ja, ein Greif“, stimmte Nicole zu. „Er ist selten hier anzutreffen.“ Sie sah von ihm zu mir. „Lass uns etwas ausprobieren.“ Sie lächelte mir aufmunternd zu und schritt voran. Unsicher folgte ich ihr. Was hatte sie vor?
Es dauerte nicht lang, da begriff ich. Sie wollte mich zu ihm führen. Dabei war er ein scheues Fabelwesen und ich noch immer ein Neuling im Sternenland. Ich erinnerte mich, wie die Einhörner fortgelaufen waren, als ich mich ihnen das erste Mal genähert hatte. Ich wollte den Greif nicht vertreiben.
Doch Nicole ließ sich nicht beirren. Sie ging ruhig und zielstrebig auf ihn zu. Als sie ihn beinahe erreicht hatte, blieb sie stehen.
„Mein Lieber“, sagte sie mit warmer Stimme, „bist du für unsere Verena gekommen?“
Der Greif neigte seinen Kopf, als hätte er sie verstanden. Seine silbrigen Augen sahen zu mir, und sein Blick schien in mich zu tauchen. Es war kein strenger Blick. Und doch lag etwas Prüfendes darin, etwas, das mich frösteln ließ. Er schien mich aufzufordern, an ihn heranzutreten.
Zögernd trat ich einen Schritt vor. Dann noch einen. Ich hob meine linke Hand und berührte die schneeweißen Federn an seinem Hals. Wärme und Kraft durchfluteten mich. Ich schloss die Augen, nahm die Gefühle in mich auf. Eine tiefe Ruhe strömte in mich hinein. Vertrauen.
Unbewusst trat ich noch näher an ihn heran, bis ich seinen würzigen Duft wahrnehmen konnte. Er roch nach Tannenwäldern, herb und aromatisch – eine Erinnerung an Weihnachten keimte hoch. Es war dasselbe Gefühl, das mich auch jedes Mal auf dem Sternenpfad erfüllte.
„Du darfst dich anlehnen“, sagte Nicole leise hinter mir.
Mein Herz schlug schneller, und ich schluckte nervös. Dann legte ich meine Stirn gegen den Hals des Greifs. Er bewegte sich nicht, doch auch sein Herz schlug schnell und laut. Ich konnte es nicht nur fühlen, sondern auch hören, als wäre es mein eigenes. Die Wärme seiner Nähe schien mein Innerstes zu erreichen.
Langsam senkte er seinen Kopf, und sein Schnabel berührte meine Schulter. Dennoch verspürte ich keine Angst. Vertrauen. Dieses eine Wort floss durch mich wie ein belebendes Mantra.
Ich wusste nicht, wie lange ich so stand. Sekunden? Minuten? Vielleicht eine Ewigkeit. Aber in dieser stillen Ewigkeit löste sich etwas in mir. All meine Zweifel und Unsicherheiten. Meine Ängste und Sorgen, nicht genug zu sein. Ich konnte tiefer atmen. Mein Herzschlag wurde langsamer, kam in Gleichklang mit dem Herz des Greifs.
Langsam öffnete ich die Augen. Er hob seinen Kopf und sah mich von oben herab an – mit einem Ausdruck, den ich nicht deuten konnte. Aber es war kein Abschied. Ich ging ein paar Schritte zurück, spürte unendlich viel Liebe in mir, und Tränen schossen mir in die Augen.
Mit einem krächzenden Ruf breitete der Greif seine Flügel aus. Dann stieß er sich vom Boden ab und flog hinauf. Er wandte sich dem Wald zu und flog über ihn hinweg. Ich sah ihm nach, bis er verschwunden war und nicht einmal mehr ein winziger Punkt am Himmel zu erkennen war.
Nicole trat neben mich. „Greifen begegnet man nicht zufällig“, sagte sie leise. „Sie zeigen sich jenen, die einen schweren Weg vor sich haben und viel Kraft dafür brauchen.“ Ihre Hand griff nach meiner, und sie drückte sie leicht. „Nutze die Stärke, die er dir geschenkt hat.“
Ich atmete tief durch. Irgendwie ahnte ich, dass er mir wegen Yasmin begegnet war. Doch ich hoffte, dass ich mich irrte.
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