Kapitel 24

Als ich wach wurde, musste ich mich kurz orientieren. Ich lag nicht in meinem Bett. Ich blinzelte und streckte mich. Dann lächelte ich. Natürlich, ich lag auf meiner Couch. Wenn Yasmin länger bei mir bleiben würde, sollte ich mir von meinen Eltern das Gästeklappbett ausleihen. Meine Couch war ein Zweisitzer und etwas zu klein, sogar für mich.

Ich huschte in mein Schlafzimmer und betrachtete Yasmin, die in einem weiten Nachthemd von meiner Mutter schlief. Sie sah bezaubernd aus. Auch wenn ihr Gesicht noch immer etwas blass war, wirkte sie so friedlich und zufrieden. Am liebsten hätte ich mich an sie gekuschelt und meine Hände auf ihren Bauch gelegt, um unser kleines Mädchen zu spüren. Stattdessen verschwand ich im Badezimmer und machte mich fertig.

Meine Eltern würden nachher mit uns in die Stadt fahren, um einige Dinge für Yasmin zu besorgen. Wir hatten gestern nach dem Besuch bei Nicole noch bei meinen Eltern vorbeigeschaut. Meine Mutter konnte eher helfen, wenn es um die Ernährung und Körperpflege von Schwangeren ging. Ich hatte gar nicht gewusst, was man so alles in einer Schwangerschaft brauchte: Cremes, vitaminreiche Kost, Nackenrollen, Schwangerschaftskissen, entspannende Musik. Yasmin und meine Mutter waren sehr schnell in eine angeregte Unterhaltung vertieft gewesen, während mein Vater und ich das Abendessen zubereitet hatten.

Heute Morgen wollte ich sie überraschen. Ich kochte Pfefferminztee und bereitete Rührei zu. Leider hatte ich Yasmins Lieblingstee nicht da, aber ich würde nachher welchen kaufen. Entweder war ich zu laut oder die Gerüche hatten Yasmin geweckt. Auf jeden Fall lugte sie zur Küchentür herein, als ich gerade alles auf Tellern anrichtete: Toastbrotscheiben, die ich mit Margarine bestrichen hatte, zusammen mit dem Rührei.

„Mmh, das duftet aber lecker“, meinte Yasmin. „Darf ich noch rasch ins Bad gehen?“

Ich nickte und holte Besteck. Yasmin beeilte sich wirklich. Nur wenige Minuten später saß sie mir gegenüber in der Küche, und wir ließen uns das einfache Essen schmecken.

„Wir können nachher Aufbackbrötchen kaufen, die sind noch besser als Toast, was meinst du?“

Yasmin sah konzentriert auf ihren Teller und stocherte im Ei herum. Sie schob es hin und her, ehe sie etwas in den Mund nahm. Dann blickte sie doch noch hoch und lächelte verlegen. „Wäre es sehr schlimm, wenn ich lieber hierbleibe?“



„Äh, ich dachte, du würdest es genießen, mit uns einzukaufen.“

„Ich … ich …“ Sie brach ab, stocherte wieder im Ei herum, ehe es aus ihr hervorbrach: „Ich habe Angst, Ahmed oder einem unserer Bekannten zu begegnen.“

„Du hast recht“, sagte ich und wunderte mich, dass ich nicht selbst daran gedacht hatte. Wir würden schließlich einiges in Geschäften kaufen, die spezielle Kost für Muslime führten. Da war die Wahrscheinlichkeit recht hoch, jemanden zu treffen, der sie erkannte. „Das ist kein Problem. Du kannst fernsehen oder Bücher lesen. Vielleicht gefällt dir was von denen, die ich im Regal im Wohnzimmer habe. Ansonsten kannst du auch hier im Ort spazieren gehen. Hier erkennt dich sicherlich niemand.“

Yasmin lächelte erleichtert, und nun aß sie ihr Ei und die Toastscheibe mit viel mehr Appetit.

Nach dem Frühstück holten meine Eltern mich ab. Zuerst fuhren wir in einen Drogeriemarkt, um Hygieneartikel zu besorgen, danach in ein Kaufhaus für Kissen und Nackenpolster, zuletzt suchten wir ein spezielles Lebensmittelgeschäft auf. Ich war überrascht, dass es dort von Obst über Gemüse bis hin zu Fleischprodukten wirklich alles gab, sogar eine Süßwarenabteilung. Ich hatte keine Ahnung, was Yasmin mögen könnte. Dummerweise hatte ich immer noch nicht ihre Nummer, sonst hätte ich sie anrufen und nachfragen können. Aber eines konnte ich zielsicher greifen: Marokkanische Minze. Alles andere suchte ich gemeinsam mit meiner Mutter aus und hoffte, dass es richtig war.

Die Rückfahrt verlief schweigend, wir waren eine ruhige Familie, die sich auch ohne viele Worte verstand. Mein Vater hielt vor meiner Wohnung. „Wir helfen dir noch beim Reintragen“, meinte er und schaltete den Motor ab. Wir holten die Sachen aus dem Kofferraum und gingen zur Haustür.

„Sonderbar“, murmelte ich, „die Tür steht ja offen.“ War Yasmin spazieren gegangen und hatte sie nicht richtig zugezogen? Wenn sie tatsächlich unterwegs war, könnte ich sie nachher mit ihrem Lieblingstee überraschen. Ich freute mich schon auf ihr Lächeln, wenn sie den Duft wahrnahm, sobald sie den Flur betrat.

Ich stieß mit einem Fuß die Tür auf und rief „Yasmin!“, obwohl ich überzeugt war, dass sie eine Erkundungstour durch den Ort machte. Natürlich kam keine Antwort. Ich schlüpfte aus meinen Schuhen und ging zur Küche.



Plötzlich hatte ich ein ganz sonderbares Gefühl. Ich wurde langsamer. Dann blieb ich stehen. Es dauerte noch einen Moment, ehe ich begriff, was mich irritierte. Auf dem Boden waren rote Flecken. Mein Herz blieb einen Moment stehen, bevor es heftig zu rasen begann. Ich ließ die Tüte fallen, stürzte ins Wohnzimmer und erstarrte. Blut, da war überall Blut. Meine Mutter kam hinter mir herein. „Was ist denn los, Kind, warum hast du den Einkauf fallen lassen?“

Ihre Worte schreckten mich auf. Ich machte einen Schritt nach vorn, danach noch einen und noch einen. Ich konnte Yasmins nackte Füße sehen. Auch an ihnen war Blut. Dann hörte ich sie stöhnen. Mit aufgerissenen Augen stürzte ich auf sie zu, ließ mich neben sie zu Boden fallen. Sie trug noch das Nachthemd meiner Mutter. Halb zerrissen. Ahmed musste hier gewesen sein. Wie hatte er sie nur finden können?

„Yasmin“, sagte ich, oder schrie ich es? „Yasmin, wach auf, du darfst nicht sterben, hörst du? Yasmin, ich liebe dich doch. Du darfst mich nicht verlassen!“ Ich zog sie in meine Arme, ganz vorsichtig. Es war mir egal, dass sie über und über mit Blut beschmiert war. Was hatte er ihr nur angetan?

„Der Krankenwagen ist gleich da“, hörte ich wie durch einen Nebel meine Eltern sagen. „Ich packe ein paar Sachen für das Krankenhaus zusammen“, sagte meine Mutter. Es war mir egal, mir war alles egal. Tränen flossen mir aus den Augen und tropften auf Yasmin hinunter. Ich streichelte über ihre Wange. „Bleib bei mir, bitte bleib bei mir.“

Irgendwann näherten sich Sirenen, derbe Schritte kamen zur Haustür herein, Stimmen von Fremden erklangen. Sie zogen mich von Yasmin weg. Schluchzend starrte ich auf meine Freundin. Sie sollte bei mir in Sicherheit sein, und nun würde sie vielleicht sterben! Ich dachte an das Sternenland, den Greif – dann fiel mir der Segen wieder ein. Sollte ich ihn für Yasmin erhalten haben? Nein, nein, das durfte nicht sein! Sie würde keine Erinnerungen mehr haben und keine Emotionen. Wie sollte sie für ihr Baby da sein können, wenn sie sich nicht einmal an die Schwangerschaft erinnern konnte?

„Wollen Sie Ihre Freundin begleiten?“ Einer der Rettungssanitäter sah mich fragend an. Ich nickte. Mechanisch zog ich meine Schuhe an. Meine Mutter drückte mir eine Tasche in die Hand, gab mir einen Kuss auf die Stirn und schob mich dann den Männern und Frauen hinterher. Ich nahm alles nur noch wie durch einen dichten Nebel wahr. Es rauschte in meinen Ohren. Während der gesamten Fahrt hielt ich Yasmins Hand. Ihr wurde ein Notfallzugang gelegt, weil sie viel Blut verloren hatte. Doch sie stöhnte nur und öffnete nicht ihre Augen. Ich legte eine Hand auf ihren Bauch. Es war nichts zu spüren. Hoffentlich lebte unser Mädchen noch.



Im Krankenhaus musste ich sie allein lassen. Sie wurde in den OP geschoben, während ich im Warteraum saß. Ich erntete sonderbare Blicke, aber es war mir egal. Ich hatte nicht die Kraft, darüber nachzudenken. Ich klammerte mich an die Tasche, die meine Mutter gepackt hatte. Bestimmt waren dort einige der neu gekauften Hygieneartikel drin. Yasmin würde sie brauchen, wenn sie von der Notaufnahme verlegt wurde.

Irgendwann kam eine Frau in einem blauen Kittel in den Wartebereich. „Frau Verena Sommer?“ Ich sprang auf und sah sie an. Sie trat näher an mich heran, ehe sie weitersprach. „Bei Ihrer Lebensgefährtin haben die Wehen eingesetzt. Sie ist aufgewacht und verlangt nach Ihnen.“

„Ich … darf zu ihr?“ Wieder schossen Tränen in meine Augen, ich konnte es nicht verhindern. Yasmin war aufgewacht. Sie hatte meinen Namen genannt. Sie erinnerte sich an mich. Also war mein Sternensegen nicht irgendwie aktiviert worden. Und wenn die Sterne uns noch etwas mehr Glück schenkten, würde sie bald ein gesundes Mädchen bekommen. Unser süßes Mädchen!

„Ja. Kommen Sie mit. Es geht bald los.“

Sie brachte mich in einen Raum, der voller Instrumente war, die blinkten und piepten. Yasmin lag auf einem Krankenbett, abgeschirmt durch fahrbare Raumteiler vom restlichen Raum. Sie war nackt und sah schrecklich aus, so viele Blutergüsse und Wunden. Mir wurde übel, aber ich riss mich zusammen. Sie brauchte jetzt eine starke Frau an ihrer Seite.

„Du bist hier“, flüsterte sie, und Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.

„Ja, ich bin hier.“ Ich trat neben sie, nahm ihre Hand und drückte sie. „Ich bleibe bei dir, so lange du willst.“

Yasmin keuchte auf, dann verkrampfte sie sich und schrie. Sie zerquetschte mir fast die Hand, aber ich sagte nichts. Ich sah sie nur an und blieb an ihrer Seite. Die Hebamme gab einige Anweisungen, Yasmin keuchte und schrie, und immer wieder verkrampfte sich ihr Körper. Plötzlich wurde es ganz hektisch. Eine junge Frau eilte davon, nur Sekunden später kam eine Ärztin. Yasmin bäumte sich noch einmal auf, dann fiel sie einfach so in sich zusammen, ihr Blick wurde fast schon leer. Ich sah nach unten, dort, wo unser Mädchen geboren worden war. Die Hebamme hielt es in den Händen, die Ärztin drückte mit ihrem Stethoskop auf dem winzig kleinen Körper herum. Sie schüttelte den Kopf.



Nein. Ich ließ Yasmins Hand los, wischte mir über mein Gesicht, um die brennenden Tränen loszuwerden. Mit weit aufgerissenen Augen ging ich einen Schritt auf unsere Tochter zu. „Es tut mir leid …“, begann die Ärztin, doch ich wollte es nicht hören. Der Segen! Er war nie für Yasmin bestimmt, er war für ihre Tochter bestimmt. Denn die Kleine hatte noch keine Erinnerungen, die sie verlieren konnte, und falls doch, so waren es schon viel zu viele schmerzhafte, grausame Erinnerungen, die sie nicht vermissen würde. Und ihre Emotionen würden sie im Laufe ihres Lebens entwickeln. Für sie wäre dieser Segen wirklich ein Segen.

„Geben Sie mir unsere Tochter“, flüsterte ich und streckte die Hände aus. Die Ärztin legte das kleine, süße Geschöpf in meine zitternden Hände. Der Körper war noch warm von der Geburt, aber ich konnte bereits fühlen, wie er kälter wurde. Ich beugte mich hinunter und küsste die Kleine auf die Stirn. Ich dachte an all die wundervollen Empfindungen, die ich im Sternenland erfahren hatte, dachte an all die Liebe und Zuneigung. Vor meinem inneren Auge sah ich den glitzernden, funkelnden Sternenstaub, der mich umhüllt hatte, kurz bevor der Stern mich berührt und gesegnet hatte. Ich spürte, wie all diese Empfindungen von mir zu dem kleinen Mädchen hinüber flossen. Der Segen berührte das Herz der Kleinen, und plötzlich öffnete sie ihren Mund, holte tief Luft und schrie!

„Aber das ist unmöglich“, stieß die Ärztin hervor.

„Wie kann das sein, sie war doch …?“ Die Hebamme brach ab. Vielleicht wollte sie dieses Wort angesichts des neuen Lebens nicht aussprechen.

Ich ging mit dem Mädchen zu Yasmin und reichte es ihr. Sie nahm ihre Tochter zitternd entgegen. „Sie lebt“, hauchte sie. „Meine Tochter lebt.“ Sie gab dem Mädchen einen innigen Kuss auf die Stirn. „Meine süße, kleine Aisha.“ Dann sah sie zu mir. „Unsere süße, kleine Aisha.“

„Ja“, sagte ich. „Unsere Aisha.“

Kommentare