SdS – Kapitel 11

°.✩┈┈∘*┈ ✩┈*∘┈┈✩.°
Jeder Stern am Himmel birgt ein Versprechen: Wir sind niemals ganz verloren.
°.✩┈┈∘*┈ ✩┈*∘┈┈✩.°
Es fühlte sich fast ein wenig … falsch an, als wir vom Sternenpfad zurück in den Raum unter dem Dach kamen. Ich konnte es nicht genau beschreiben, doch nun wirkte das Zimmer ganz anders als vor unserer kleinen Reise. Die Nacht um uns herum verschwand, der glitzernde Pfad aus Tausenden Sternen löste sich wie Sternschnuppen am nächtlichen Sternenhimmel auf – und wir standen mitten in einem gewöhnlichen Raum, der dunkel war und an dessen Wänden Sitzkissen aufgereiht lagen.
Nicole ließ meine Hand los und trat einen Schritt zurück. „Verena, vergiss bitte nicht, du darfst niemandem erzählen, was du soeben erlebt hast.“
„A-aber was soll ich denn sta-stattdessen sagen?“, fragte ich unsicher und ärgerte mich ein wenig, dass ich schon wieder stotterte. Dagegen hatte der Segen also nicht geholfen.
„Erzähl von einer Traumreise, die ich mit dir gemacht habe, um zu deinen tiefen, verborgenen Ängsten vorzudringen.“ Nicole lächelte. Ich war mir sicher, dass ich nicht die Erste war, der sie diese Erklärung genannt hatte. Und irgendwie klang das auch plausibel. In der Fantasie konnte man Einhörner und Feen sehen, Sternenstaub als Heilmittel war bestimmt nicht außergewöhnlich. „Natürlich kannst du auch sagen, dass du nichts darüber erzählen möchtest, weil es sehr persönlich war. Das wird deine Familie sicher respektieren.“
Ich nickte.
„Gut, dann lass uns zurück zu Lisa gehen.“ Nicole öffnete die Tür, und ich trat hinaus auf den Flur. Das helle Licht der Wandlampen blendete mich im ersten Moment. Ich blinzelte und schüttelte kurz den Kopf. Aber rasch hatte ich mich auch daran gewöhnt. Gemeinsam gingen wir die Treppe nach unten. Alles sah so normal aus, dass es fast ein bisschen enttäuschend war. Nach diesem besonderen Erlebnis hatte ich erwartet, dass sich auch meine reale Welt ein wenig verändert hätte. Leider war es nicht so. Alles wirkte wie vorher.
Als wir das Wartezimmer betraten, konnte ich einen fruchtigen Duft wahrnehmen, der vorhin nicht da gewesen war. Lisa saß noch immer in dem bequemen Sessel und war in ein Magazin vertieft. Auf dem Beistelltisch stand eine Tasse mit Tee – daher der Geruch. Lisa blickte hoch, kaum dass wir zur Tür hereinkamen, und warf sofort das Magazin zur Seite.
„Und? Wie war es?“, fragte sie und eilte zu mir. Neugierig musterte sie mich. Ob sie mir ansehen konnte, dass ich gesegnet worden war? Befand sich vielleicht irgendwo noch etwas von dem Sternenstaub? „Erzähl schon! Das war die längste Stunde meines Lebens!“, erklärte sie aufgeregt. „Was habt ihr gemacht?“ Ihr Blick wanderte zwischen Nicole und mir hin und her.
„Traumreise“, stieß ich hervor und überlegte, ob sie das mit der Stunde wortwörtlich meinte. Ich war sicherlich mehrere Stunden im Sternenland gewesen oder vielleicht doch nicht?
„Traumreise?“ Lisa runzelte verwirrt die Stirn.
„Ich habe Verena angeleitet“, sprang mir Nicole hilfreich zur Seite, „eine Traumreise zu unternehmen. So kann man in tiefe, innere Bereiche vordringen und bestehende Blockaden erkennen.“
„Also irgendwie so etwas wie eine Meditation, wo man mit dem Geist durch den ganzen Körper geht?“
Nicole schmunzelte. „So ähnlich, nur geht es etwas tiefer.“
Lisa nickte verstehend. „Das ist wirklich gut.“ Dann blickte sie wieder zu mir. „Und, spürst du schon etwas?“
Ich sah verlegen zu Nicole hin. Sollte ich sagen, dass ich etwas spürte? Aber konnte man das nach einer Traumreise? Außerdem war ich mir gar nicht sicher, ob der Segen tatsächlich etwas verändert hatte – vielleicht wirkte er erst später. Im Moment fühlte ich mich noch immer unsicher. Dass ich noch stotterte, hatte ich leider bereits bemerkt. Im Moment spürte ich eine leichte Schwerelosigkeit in mir von dieser mystischen Erfahrung. Ich war mich leider sicher, dass auch diese Erinnerung im Laufe der Zeit verblassen würde.
„Lisa, lass deiner Schwester etwas Zeit. Wir haben heute nur den ersten Schritt gemacht. Es fehlen noch viele weitere Schritte, bis sich wirklich etwas ändern wird.“
„Okay, ich verstehe“, murmelte Lisa. „Wann soll ich Verena wieder bringen?“
„Ich denke, dass Verena den Weg allein hierher findet.“ Sie sah zu mir und lächelte mich an. „Nicht wahr? Wir werden schon passende Termine finden.“
Ich nickte. „Ja.“ Mehr brachte ich nicht heraus. Doch mehr war auch nicht nötig. Die Töchter der Sterne hatten mir gesagt, dass ich jederzeit wiederkommen dürfe. Und es war bestimmt besser, wenn Lisa nicht im Wartezimmer warten musste. Außerdem würde sie irgendwann Antworten haben wollen, wenn sie hier unten herumsitzen musste, während ich irgendwas im oberen Stockwerk erlebte.
„Na komm, dann lass uns nach Hause fahren.“ Lisa schnappte sich ihre Tasche. „Matthias ist sicher froh, wenn wir zurück sind.“
Nicole begleitete uns zur Tür. „Ich wünsche euch beiden und euren Familien ein segensreiches Wochenende.“
Wir bedankten uns und gingen zum Parkplatz. Im Auto blickte ich sofort auf die Uhr und war erstaunt, dass tatsächlich nicht viel mehr als eine Stunde vergangen war, seit wir die Praxisräume der Heilpraktikerin betreten hatten. Wenn ich genauer darüber nachdachte, hatten wir tatsächlich nur kurze Wege zurückgelegt. Mir war alles viel länger erschienen, weil es so fremd und ungewöhnlich gewesen war.
Lisa fuhr schweigend zurück. Ab und zu warf sie mir Blicke zu, die ich als neugierig bezeichnen würde. Aber sie fragte nichts, was mich erleichterte. So konnte ich darüber nachdenken, was überhaupt geschehen war. Bis auf die Erfahrung, dass es neben unserer Realität noch eine zweite Wirklichkeit gab, hatte sich eigentlich nichts für mich geändert. Ich wusste nicht einmal, welchen Segen die Sterne mir geschenkt hatten. War es so etwas wie der Gutenachtkuss meiner Eltern? Nur eine symbolische Geste? Denn von dem glitzernden, funkelnden Sternenstaub war nichts mehr an mir zu sehen.
Ich sah hinaus auf die Felder, an denen Lisa vorbeifuhr. Ab und zu entdeckte ich einen Hasen, der im hohen Gras davonlief. Einige Vögel flogen am Himmel, und in der Ferne konnte ich ein Reh ausmachen. Es waren ganz gewöhnliche Tiere in einer ganz gewöhnlichen Umgebung. Grüne Wiesen, braune Baumstämme, grüne Büsche – keine bunten Farben, die leuchteten und glitzerten. Alles war vertraut.
Als Lisa den Wagen parkte, kamen Emma und Noah herausgestürmt. „Tante Verena!“ Sie sprangen an mir hoch, als ob ich jahrelang fortgewesen wäre. „Wir dachten schon, du kommst nicht wieder.“
„Aber, Kinder“, erwiderte Lisa lachend, „wir waren nur bei einer Heilpraktikerin. Das habe ich euch doch erzählt.“
„Das habe ich ihnen auch immer wieder gesagt“, rief Matthias von der Haustür herüber. „Aber sie wollten mir nicht glauben. Zum Glück seid ihr schon so früh zurück. Hat denn alles geklappt?“
Ich nickte, und Lisa antwortete: „Ja, aber die Heilpraktikerin sagte, das wäre erst die erste Sitzung von vielen gewesen.“
„Das klingt doch eigentlich ganz gut. Dann scheint sie helfen zu können, sonst würde sie sicherlich keine zweite Sitzung empfehlen.“
Lisa und ich sahen einander an. „Das stimmt, so habe ich das gar nicht gesehen.“ Wieder nickte ich nur, dabei strich ich meinem Neffen und meiner Nichte über deren Köpfe. Vielleicht war eine zweite Sitzung wirklich gut. Bestimmt half es mir, wenn ich öfter in diesem wunderbaren Land war, wo alles so friedlich und voller Zuneigung war.
„Wir können nachher weiter reden“, meinte Matthias plötzlich, und seine Stimme wurde leicht kommandierend, als er weitersprach: „Emma, Noah, wie lautete die Aufgabe, bevor ihr Tante Verena entdeckt habt?“
„Tisch decken!“, krähte Noah laut, und Emma rief: „Wir sollten den Tisch decken.“
Ich grinste. Immer versuchte Emma, sich als die Klügere zu präsentieren, dabei war sie zwei Jahre älter als Noah und natürlich viel weiter in allem. Ich erinnerte mich nicht mehr daran, ob ich genauso mit Lisa gewesen war. Hatte ich ihr auch zeigen wollen, dass ich besser sprechen, schreiben oder zählen konnte als sie?
„Na, worauf wartet ihr dann noch?“, fragte Matthias. Und ehe er weitersprechen konnte, stürmten die zwei Kinder schon zur Haustür und an ihm vorbei. Lisa lachte, und ich schüttelte schmunzelnd den Kopf. Langsamer folgten wir ihnen.
Ein herrlicher Duft strömte uns entgegen. Bratkartoffeln mit Spiegeleiern und Spinat. Da hatte sich Matthias richtig ins Zeug gelegt. Nach einem Blick in die Küche wusste ich, dass ihm die zwei Kleinen geholfen hatten. Für mich stand fest, dass wir nach dem Essen aufräumen würden, während sich Matthias und Lisa zurückziehen durften. Und vielleicht würde ich zur Belohnung mit den Kindern anschließend auf den Spielplatz gehen. Ich wusste, wie sehr Emma die Rutsche liebte und wie gern Noah schaukelte.
Nach dem Ausflug ins Reich der Magie war die kleine Familie von Lisa und Matthias genau das, was ich brauchte. Etwas Normalität. Ein Stück Frieden in meiner eigenen Welt.
Kommentare