SdS – Kapitel 3

„Das schaffst du schon, mein Schatz.“
Meine Mutter lächelte mir aufmunternd zu, während sie mir eine dampfende Thermosflasche in die Hand drückte. Der süße Duft von Vanille und Honig stieg mir in die Nase. Kamillentee. Beruhigend, sanft – als könnte er all das Chaos in meinem Kopf einfach wegspülen. Dabei war mir gar nicht nach Beruhigung zumute, in meinem Magen herrschte ein heilloser Aufruhr. Da half auch kein Kräutertee. Vielleicht hätte ich mich nicht auf alle Stellen bewerben sollen, die mir Frau Behrens gegeben hatte. Aber es war zu spät, um sich darüber Gedanken zu machen. Ein Herr Wagner hatte mich zum Bewerbungsgespräch eingeladen.
„Und hier“, fuhr meine Mutter lächelnd fort, während sie eine kleine Dose auf den Küchentisch stellte. „Ein bisschen Obst für unterwegs. Du brauchst Energie.“
Ich nickte stumm, schraubte den Verschluss auf die Thermosflasche, griff nach der Dose und steckte beides in meine Tasche. Ich versuchte, mich zu bedanken, ohne dass meine Stimme allzu unsicher klang. Aber meine Mutter sah es mir trotzdem an. Sie kannte mich und meine Unsicherheit, all meine Ängstlichkeit, die ich schon vor meiner Kindergartenzeit als Ballast mit mir herumgeschleppt hatte und wohl nie loswerden würde.
„Ich weiß, dass das nicht dein Traumjob ist. Aber es ist ein Anfang.“ Sie strich mir über die Schultern. „Und es wird gut bezahlt.“
Ein Anfang. Oder ein weiterer Umweg? War Geld wirklich so wichtig, dass ich meine eigenen Träume aufgeben musste, in einem Büro ganz allein sitzen zu dürfen und irgendwelche Tabellen zu aktualisieren oder Bestandslisten zu überprüfen?
Ich zwang mich zu einem Lächeln, drückte ihr kurz die Hand und zog mir meine Jacke über. Draußen wartete die erste von drei Busfahrten auf mich. Ausgerechnet die Stellenausschreibung, die tatsächlich achtunddreißig Kilometer von mir entfernt war, war es geworden. Ausgerechnet das am weiten entfernteste Lager hatte Interesse an meiner Bewerbung gezeigt. Vielleicht war das aber auch ein Zeichen, das ich nicht ignorieren sollte.
Nein, ich war kein esoterischer Mensch, der an Wunder glaubte, an irgendwelche übersinnlichen Geschehnisse, die unser aller Leben verändern konnten. Auch glaubte ich nicht an Karma, an ein festgelegtes Schicksal, dem niemand entkommen konnte. Ich war davon überzeugt, dass man selbst etwas tun musste, um zu bekommen, was man haben wollte.




Nur leider war mir bislang nicht gelungen, herauszufinden, wie ich meine Träume und Wünsche realisieren konnte. Irgendwie war das so wie mit den Emojis. Ich wählte etwas aus – doch meine Mitmenschen verstanden etwas anderes als ich. Während ich dachte, dass ich meine Arbeit sehr gut machte, fanden die Chefs mich austauschbar. Mein Output war leider nicht identisch mit deren Input.
Heute hatte ich aber etwas mehr Glück als bei der letzten Busfahrt – es regnete nicht. Als sich irgendwann eine Frau neben mich setzte, wurde ich zwar auch dicht an das Fenster des Busses gedrückt, aber ich wurde nicht nass. Und eiskalt war es glücklicherweise auch nicht. Dieses Mal presste ich meine Tasche auf dem Schoß an mich und starrte hinaus. Mich interessierte die Umgebung überhaupt nicht. Nur – die Menschen im Bus interessierten mich noch viel weniger. Und auf eine Unterhaltung hatte ich ebenfalls keine Lust. Schließlich musste ich nachher noch genug reden.
Nach anderthalb Stunden Fahrt, in denen ich jede Kurve und jeden Halt innerlich mitgezählt hatte, und zwei Umstiegen war ich endlich am Ziel. Oder zumindest fast am Ziel. Ich hängte mir meine Tasche um und gab in den Routenplaner am Handy die Adresse des Lagers ein. Zehn Minuten Fußweg trennten mich von meiner möglichen neuen Arbeitsstelle.
Je näher ich meinem Ziel kam, desto schneller schlug mein Herz in meiner Brust. Ich griff in meine Tasche und holte die Dose mit dem Obst heraus. Jetzt brauchte ich etwas zwischen meinen Zähnen, wenn schon kein Kaugummi, dann wenigstens ein Stück Apfel. Als ich Karottenschnitze sah, lächelte ich, die waren sogar noch besser. Ich nahm ein Stück Karotte heraus und kaute eifrig darauf herum, während ich auf das riesige Lagergebäude starrte, das sich hinter einem Zaun versteckte.
„Sie haben Ihr Ziel erreicht.“
Ich rollte mit den Augen. Das stimmte gar nicht, der meterhohe Metallzaun war garantiert nicht mein Ziel. Irgendwo musste es ein Eingangstor geben. Also schritt ich den Zaun entlang, bis ich auf Warnschilder traf. Ausrufzeichen, Betreten Verboten und noch mehr warnten Unbefugte, das Firmengelände zu betreten. Fast wünschte ich, dass ich eine Unbefugte wäre. Aber nein, ich hatte eine offizielle Einladung zu dem Bewerbungsgespräch.




Bei einem kleinen Pförtnerhäuschen blieb ich stehen. Der Mann da drin sah mich emotionslos an. Vor mir war ein Drehkreuz, daneben ein Kasten mit einem Schlitz – wahrscheinlich für die Angestellten mit einer Zugangskarte.
„Neu hier?“, fragte der Mann, als ich unsicher stehen blieb.
Ich lächelte zögerlich, kramte aus meiner Tasche den Brief heraus und reichte ihn dem Mann. Er runzelte die Stirn, griff aber danach, als ich die Hand mit dem Brief weiter ausgestreckt hielt. Er faltete das Papier auseinander, verzog das Gesicht und sagte: „Da sind Sie hier falsch. Der Eingang für die Lagerarbeiter ist weiter vorn. Gehen Sie einfach weiter, es ist nicht zu übersehen.“ Schon hielt er mir den Brief hin.
Automatisch nahm ich ihn zurück. „Danke“, murmelte ich, wandte mich ab und ging weiter. Na super, das fing ja nicht besonders gut an. Wenn es hier zwei unterschiedliche Eingänge für das Personal gab, hatte ich bestimmt das Pech, wieder irgendwie zwischen die Fronten zu geraten.
„Sei nicht so pessimistisch“, ermahnte ich mich halb laut. „Vielleicht habe ich das Glück, dass ich vom Lager ins Büro wechseln darf. Ich sollte es als Chance sehen.“
Ja, das fühlte sich schon wesentlich besser an. Nur leider beruhigte es meinen Magen nicht wirklich. Der Klumpen da drin wurde mit jedem Schritt größer und schwerer, bis ich glaubte, keine Luft mehr zu kriegen. Ich blieb stehen und schloss für einen Moment die Augen.
„Tief durchatmen“, sprach ich mir selbst vor, „langsam und tief einatmen, und ausatmen.“ Und genau das tat ich dann auch. Nach etwa fünf Atemzügen fühlte ich mich bereit, weiterzugehen und das Tor, das ich bereits sehen konnte, zu durchschreiten. Hier gab es sonderbarerweise kein Drehkreuz. Aber bevor ich einfach so auf das Gelände marschieren konnte, rief mich jemand zurück.
„Halt! Stopp! Wo wollen Sie denn hin?“
Ich erstarrte. Mir war nicht aufgefallen, dass es hier auch Pförtner gab. Mein Herz überschlug sich fast, als ich mich mit weit aufgerissenen Augen umdrehte. In der Tür zu einem lang gestreckten Gebäude aus Glas stand ein älterer Mann.
„I-ich h-habe einen T-termin“, stotterte ich und ging zu ihm zurück. Als ich dieses Mal nach dem Einladungsbrief kramte, fand ich ihn nicht. Wohin war der nur verschwunden? Gerade eben hatte ich ihn doch noch gehabt? Unsicher überlegte ich, ob ich den Brief von dem anderen Mann zurückbekommen hatte. Vielleicht lag er noch dort, und ich musste ihn erst holen. Panik machte sich in mir breit.




„Wie ist denn Ihr Name?“
„S-S-Sommer“, stammelte ich.
Nun runzelte er die Stirn. Er sah mich leicht schräg von der Seite an, als ich aber nichts weiter sagte, machte er ein Zeichen mit der Hand und trat durch die Tür zurück ins Innere des Hauses. Ich folgte ihm und blieb vor einer Tür stehen, die anscheinend der Anmeldeschalter war. Ich hob den Kopf, mein Gesicht fühlte sich glühend heiß an. „Anmeldung“ stand da in großen Buchstaben. Während anscheinend Büromitarbeiter mit einer Karte hereinkommen konnten, mussten sich Lagermitarbeiter erst anmelden. Gleich darauf verwarf ich den Gedanken. Sicherlich strömten so viele Lagermitarbeiter zu Schichtbeginn hier herein, dass niemand das kontrollierte. Nur Leute wie ich, Gäste, mussten sich anmelden.
„Ja, Sommer hat sie gesagt.“
Als ich meinen Namen hörte, erschrak ich. Der Mann telefonierte. Das erinnerte mich an das Schreiben. Wieder wühlte ich in meiner Tasche herum, und dieses Mal fand ich es sogar. Aber anscheinend brauchte ich es nicht mehr.
„Zum Wagner? Ist gut, ich schicke sie gleich los.“
Der Mann legte auf und drehte sich mir zu. „So, Frau Sommer, Sie sind etwas spät dran. Herr Wagner hat Sie vor zehn Minuten erwartet.“
Ich zuckte zusammen und unterdrückte den Impuls, auf meine Armbanduhr zu sehen.
„Gehen Sie hier durchs Tor, danach …“
Er erklärte mir fast minutiös den Weg, doch ich befürchtete, dass ich mir den niemals merken konnte. Aber ich hatte Angst, ihn darum zu bitten, ihn mir aufzuschreiben. Immerhin war ich anscheinend schon zu spät. Dabei hatte ich die Busse so ausgesucht, dass ich dreißig Minuten vor der Zeit ankäme. Mir war absolut schleierhaft, wo ich so viel Zeit verloren haben konnte.
Heute war wohl nicht mein Glückstag.
Wie so oft nicht …

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