SdS – Kapitel 5
                            Meine Finger krampften sich um meine Tasche, die ich auf meinem Schoß fest gegen meinen Bauch drückte. Nur mit großer Konzentration gelang es mir, nicht mit den Fußspitzen auf und ab zu wippen. Wie immer raste mein Herz, und in meinen Ohren rauschte es.
„Schicken Sie gleich die Nächste herein“, erklang eine mir viel zu bekannte Stimme, als sich die Tür schräg gegenüber öffnete. Eine junge Frau mit langen blonden Haaren kam heraus und nickte mit dem Kopf zur Tür hinter sich. Sie sah nicht sehr glücklich aus. Aber nach einem Gespräch mit Frau Behrens war wohl niemand glücklich.
Aus meiner Stuhlreihe löste sich eine Frau. Sie bückte sich und hob ihre Tasche auf, dann hastete sie in Richtung Tür. Hatte sie etwa Angst, sie könnte ihren Termin verpassen? Nein, wahrscheinlicher war, dass sie Angst davor hatte, was die Arbeitsvermittlerin ihr vorwarf, wenn sie zu langsam ins Büro schritt.
Meine Finger pressten sich noch fester in die Tasche, bis ich den Schmerz in meinen Muskeln spürte. Ich verzog mein Gesicht und löste vorsichtig die Umklammerung. Dabei bemühte ich mich, nicht nach rechts und links zu blicken, wo noch vier andere Frauen warteten. Heute hatte ich keinen Termin, deshalb musste ich zur offenen Sprechstunde kommen, um meine Bewerbungsergebnisse vorzulegen.
Ich schloss meine Augen, noch vier Frauen vor mir. Warum waren es nur Frauen? Wenn ich so darüber nachdachte, ich hatte noch nie einen Mann in diesem Gang sitzen sehen. Leider brachte mir das keinen Vorteil. Denn je mehr Frauen nach einer neuen Arbeit suchten, umso schlechter standen meine Chancen. Andererseits gab es so viele verschiedene Jobs, dass ich eigentlich eine Chance haben müsste. Nur war mein Pech so ausgeprägt, dass ich nicht einmal dann eine Arbeitsstelle bekam, wenn in diesem Gang ausschließlich Männer säßen.
„Schicken Sie gleich die Nächste herein.“
Ob Frau Behrens auch andere Sprüche kannte? Und wie würde sie reagieren, wenn dann mal ein „der Nächste“ hereinkam? Wahrscheinlich wäre es ihr egal. Nicht egal war mir, dass nur noch drei Frauen vor mir dran waren. In meinem Magen breitete sich ein sehr unangenehmes Gefühl aus. Um mich abzulenken, öffnete ich meine Tasche und wühlte darin herum. Irgendwo musste ich doch ein Bonbon haben. Vielleicht beruhigte es mich, wenn ich auf etwas herumlutschen konnte. Bei meinem Pech verloren die anderen drei Frauen ihre Geduld, gingen weg, ich wurde hereingerufen und musste mit einem Bonbon im Mund Frau Behrens Rede und Antwort stehen.
    
    
        
        
Nein, kein Bonbon. Auch wenn es verlockend erschienen war. Ich konnte unmöglich der Frau etwas vorlutschen. Nebenbei fand ich sowieso keins. Dafür sah ich umso deutlicher meine Unterlagen. Ich hatte tatsächlich von jeder Firma eine Absage erhalten, auch von der Firma, die mich fälschlicherweise zu einem Gespräch eingeladen hatte. Sicherlich lag das daran, dass ich allen den Ausdruck von Frau Behrens mitgeschickt hatte. So ein offizielles Schreiben von einer Arbeitsvermittlerin schien die Arbeitgeber zu nötigen, eine Absage zu schicken. Früher hatte ich nie etwas gehört, oder zumindest so gut wie nie.
„Schicken Sie gleich die Nächste herein.“
Nein, Frau Behrens kannte definitiv keinen anderen Spruch. Außerdem ging es viel zu schnell. Wieso brauchte sie nur etwa fünf bis zehn Minuten für ein Gespräch? Da war doch etwas faul! Und wieso hatte die Frau, die frisch herauskam, gar kein bedrücktes Gesicht?
Hoffnung schwappte wie eine sanfte Welle in mir hoch. Wenn Frau Behrens wider Erwarten gut gelaunt war, konnte ich entspannt zu ihr hineingehen. Dann waren meine Absagen gar nicht so schrecklich.
Meine Hoffnung trog. Als ich endlich an der Reihe war, blickte mir eine mürrische Frau Behrens über den Rand ihrer Brille entgegen. Es fehlte der leichte Hauch von Zigarettenbrise und ebenso der Duft von Minzpastillen. War sie darum mürrisch? Ich war für heute Morgen die letzte Arbeitssuchende – und sie hatte offensichtlich noch keine Zigarette geraucht. Auch der Geruch von kaltem Kaffee fehlte. Das war kein guter Ausgangspunkt für mich.
„So, Frau …“ Wie immer blickte sie auf ihren Monitor, dabei konnte sie meinen Namen dort gar nicht finden. Immerhin hatte ich keinen Termin. Ich musste ihr erst meine Kundennummer geben, bevor sie wissen konnte, wer ich war. Anscheinend bemerkte sie ihren Fehler, denn sie kniff die Augen zusammen und sah mich noch ein Stückchen unfreundlicher an. „Sie sind also hier, weil sie keinen Job gefunden haben?“
Es klang wie eine Frage, dabei wusste ich, dass es rhetorisch gemeint sein musste. Statt zu antworten, griff ich in meine Tasche und holte meine Mappe mit den Absagen heraus. Mit einem verlegenen Lächeln reichte ich sie ihr über den Schreibtisch. Dabei knarrte mein Plastikstuhl bedenklich, was mich wieder über mein Gewicht nachdenken ließ – und den Cheeseburger, den ich mir vor meinem Gang hierher gegönnt hatte. Okay, und den Erdbeer-Milchshake, an dem ich auch nie vorbeigehen konnte. Ich sollte auf dem Rückweg besser auf Kalorienbomben verzichten und mich an das Gemüse und Obst meiner Mutter halten. Sie meinte es immer gut mit mir – und mit meinem Gewicht.
    
    
        
        
Frau Behrens blätterte in meinen Unterlagen, tippte auf ihrer Tastatur herum, blätterte wieder und stieß zum Schluss einen tiefen Seufzer aus.
„Ich weiß nicht, wie Sie das machen, Frau …“ Sie sah zum Monitor hin, und ich unterdrückte den Impuls, meine Augen zu verdrehen. „… Sommer. Ich habe Ihnen schon letzte Woche gesagt, dass Sie sich zielführender bewerben müssen.“
Ich nickte stumm. Dabei hatte sie mir das gar nicht gesagt. Aber wenn das auf ihrem Monitor stand, brauchte ich nicht widersprechen. Computer hatten immer recht, meine Erinnerungen konnten trügen.
„Hier …“ Sie wedelte mit einer Absage vor meiner Nase herum. „… sind Sie allein aufgrund Ihrer Qualifikation schon nicht infrage gekommen. Wieso haben Sie sich überhaupt beworben?“
Ich presste die Lippen aufeinander. Weil Sie mir die Stelle vorgeschlagen haben? Weil ich dachte, ich hätte keine Wahl? Aber das sagte ich nicht. Meine Angst, etwas Falsches zu sagen, war so groß, dass meine Hände feucht wurden.
„I-ich … w-wollte es ver-versuchen“, murmelte ich stattdessen.
Sie seufzte erneut und ließ die Blätter auf den Schreibtisch sinken. „Versuchen reicht nicht, Frau …“ Ihren Blick auf den Monitor nahm ich fast schon nicht mehr wahr. „… Sommer. Sie müssen eine Anstellung finden.“ Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte mich einen Moment. Dann fing sie an, irgendetwas zu tippen. Sicherlich bekam ich gleich wieder einen Schwung neuer Lagerstellen, auf die ich mich bewerben musste.
„Ich melde Sie für ein Seminar an.“
Ich sah mit großen Augen auf. „Ein … Seminar?“
„Ja. ‚Erfolgreich bewerben: So erobern Sie den Arbeitsmarkt‘“, las sie vom Bildschirm ab. „Dort lernen Sie, wie Sie Bewerbungen richtig schreiben, sich souverän präsentieren und überzeugend auftreten. Eine perfekte Bewerbungsmappe ist der erste Schritt in einen neuen Job. Das erfolgreich geführte Bewerbungsgespräch ist der Schlüssel zur Tür, die Sie genau dahin bringt, wo wir Sie haben wollen: Ihren Traumjob.“
Meine Finger verkrampften sich ineinander.
„Sie werden lernen, Frau …“ Da sie schon auf den Monitor blickte, sollte es mir nicht auffallen. Aber ich bemerkte, dass sie mit der Maus klickte – wahrscheinlich, um vom Seminar-Fenster zum Bewerberinnen-Fenster zu gelangen. „… Sommer, wie Sie Ihre Unterlagen ansprechend gestalten, sich klar und selbstsicher ausdrücken und die richtigen Strategien bei unterschiedlichen Firmen anwenden. Ich erwarte, dass Sie dort aktiv mitarbeiten und sich wirklich bemühen. Es kann nicht sein, dass Sie immer wieder Absagen erhalten.“
    
    
        
        
Sie drehte sich mir zu und lächelte fast schon siegessicher. „Das wird Ihr Durchbruch werden, glauben Sie mir.“ Sie sah erneut auf den Monitor, tippte auf der Tastatur, und schon begann es, hinter ihr zu rattern. Dieses Mal waren es keine Stellenanzeigen, dabei hätte ich sie jetzt viel lieber erhalten. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie ich in einem Raum mit anderen Arbeitssuchenden saß, wie wir uns einander vorstellen mussten, vielleicht sogar gestellte Bewerbungsgespräche trainieren.
Ein Teil von mir sehnte sich nach diesem Neuanfang – nach einer Chance, den endlosen Kreislauf der Absagen zu durchbrechen. Doch gleichzeitig flackerte in mir die Angst auf, erneut zu versagen. Es war schon sehr, sehr lange her, dass ich in einer Gruppe von fremden Menschen reden musste.
„Das startet in zwei Tagen“, erklärte Frau Behrens. „Hier im Haus. Drei Tage, jeweils acht Stunden. Pflichtveranstaltung. Haben Sie dazu Fragen?“
„N-nein“, brachte ich mühsam hervor. Tatsächlich bewegte mich nur eine Frage: Wie kann ich mich vor dem Seminar drücken? Die Antwort kannte ich: Indem ich eine Arbeit fand, was utopisch war. Zwei Tage waren viel zu kurz.
„Gut.“ Sie rollte mit ihrem Stuhl ein wenig nach hinten, drehte sich und griff nach dem ausgedruckten Formular. Dann kam sie zum Schreibtisch zurück und reichte es mir. „Das ist Ihre Teilnahmebestätigung. Bringen Sie es am ersten Tag unterschrieben mit.“
Ich nahm das Blatt entgegen, ohne es wirklich anzusehen. Meine Finger zitterten, hoffentlich bemerkte es die Arbeitsvermittlerin nicht.
„Und Frau Sommer?“
Ich hob den Blick.
„Ich möchte beim nächsten Termin mehr Initiative von Ihnen sehen.“ Sie sah mich streng an. „Keine halb garen Bewerbungen mehr. Ich erwarte, dass Sie das Seminar nutzen.“
Ich nickte mechanisch. „J-ja, Frau Behrens.“
„Gut. Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Tag.“
Ich murmelte eine Verabschiedung und stand auf. Als ich aus dem Büro trat, fühlte sich mein Kopf schwer an. Nur am Rande wurde mir bewusst, dass sie beim letzten Mal nicht auf den Monitor gesehen hatte, um meinen Namen nachzulesen. Ob das jetzt gut oder schlecht war, konnte ich in dem Moment nicht einordnen.
Zwei Tage.
Zwei Tage, dann würde ich in einem Raum voller fremder Menschen sitzen und mir anhören, wie ich mich besser verkaufen konnte.
    
    
        
        
Mir wurde flau im Magen. Vielleicht sollte ich mir auf dem Rückweg doch noch einen Milchshake holen.
				
				





























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