SdS – Kapitel 6

Ich betrat mit wild klopfendem Herzen den Seminarraum. Nicht nur meine Hände waren schweißnass, ich konnte spüren, wie es unter meinen Achseln feucht wurde. Vielleicht sollte ich meine Jacke anbehalten. Automatisch suchte ich nach anderen Seminarteilnehmenden, die ebenfalls ihre Jacke trugen, aber leider fand ich niemanden. Drei standen in einer Ecke an einem der Fenster, die anderen hatten sich bereits auf den Stühlen verteilt. Zwei freie Stühle an einem Doppeltisch gab es noch, über allen anderen hingen Jacken oder Mäntel.
Ich schluckte und atmete ein paar Mal tief durch. Dann schritt ich mit knetenden Händen zu einem der scheinbar freien Stühle, dabei versuchte ich, jeglichen Blickkontakt zu meiden. Aber ich brauchte mir keine Gedanken zu machen, die anderen hatten wohl genug mit sich und ihren Bekannten zu tun, jedenfalls blickte keiner zu mir herüber.
Ich atme Unsicherheit und Angst aus und atme Mut und Stärke ein.
Möglichst unauffällig atmete ich tief ein und aus und dachte dabei mein Mantra. Nach mehreren Atemzügen fühlte ich mich schon wohler. Ich stellte meine Tasche auf den Tisch, zog nun doch meine Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Als ich mich setzte, flutete mich eine Welle der Erleichterung. Kein Plastikstuhl. Der Holzstuhl knarrte zwar ein wenig, aber er machte mir einen stabileren Eindruck als der Stuhl bei der Arbeitsvermittlerin. Als ich so darüber nachdachte, dass sie nur ein paar Stockwerke über mir in ihrem Büro saß, rieselte ein unangenehmer Schauer durch mich hindurch. Hoffentlich kam sie nicht auf eine Stippvisite herein.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich einige der anderen Personen. Eine Frau, ich schätzte sie auf Mitte vierzig, hatte ein Blatt vor sich liegen. Ich kniff die Augen zusammen, konnte allerdings nichts Genaueres erkennen. Wahrscheinlich handelte es sich um die Teilnahmebestätigung, die wir heute mitbringen mussten. Ich nahm meine Tasche auf den Schoß und holte mein eigenes Schreiben hervor. Mit einem Lächeln griff ich in ein kleines Seitenfach – dort hatte ich den Kugelschreiber von meinem Vater hineingetan. Er hatte ihn mir mit einem zuversichtlichen Blick gereicht.
„Verena“, hatte er gesagt, „glaub an dich, mein Kind. Du bist eine hübsche, junge Frau. Das Seminar wird dir bestimmt dabei helfen, all deine positiven Eigenschaften zum Strahlen zu bringen.“ Dann hatte er mir den Kugelschreiber hingehalten. „Und dieser Kugelschreiber mit goldener Spitze wird dir bei deinen Schritten helfen.“




Obwohl ich keine Ahnung hatte, wieso mir ein Kugelschreiber helfen sollte, hatte ich mich bedankt. Meine Eltern meinten es schließlich gut mit mir, also wollte ich nicht undankbar sein. Ich legte den Stift auf den Tisch, holte einen Seminarblock heraus und hoffte, dass wir nicht noch irgendwelche anderen Unterlagen brauchten. Bevor ich meine Tasche auf den Boden stellte, nahm ich noch rasch einen Schluck aus meiner Trinkflasche. Meine Mutter hatte mir Traubensaft abgefüllt, weil der natürliche Traubenzucker dem Gehirn die richtige Menge an Energie geben würde. Auch da konnte ich nur hoffen, dass sie recht behielt.
Ich atme Unsicherheit und Angst aus und atme Mut und Stärke ein.
Zwei tiefe Atemzüge – allmählich fühlte ich mich wirklich ruhiger, der Schweißfilm auf meinen Händen war getrocknet, und mein Herz schlug nicht mehr so wild. Ich konnte sogar schon wieder lächeln.
Das Lächeln verging mir, als der Seminarleiter den Raum betrat. Er war groß, schlank, trug eine dunkelblaue Stoffhose und ein hellblaues Hemd, die schwarzen Schuhe knallten fast schon auf den Boden. Er schloss die Tür, schritt zum Tisch vor dem Whiteboard und warf seinen schwarzen Aktenkoffer darauf.
„Willkommen zum Seminar“, sagte er mit einer energischen, lauten Stimme, dabei sah er zur Dreiergruppe am Fenster hinüber, als wollte er sie mit seinen Blicken durchbohren. Die drei beeilten sich, zu ihren Plätzen zu kommen. Jetzt wurde mir erst richtig bewusst, dass ich als Einzige allein an einem Doppeltisch saß. Sollte ich das als schlechtes Zeichen werten?
Der Mann drehte sich um, griff zu einem Stift, der in der Ablage des Whiteboards lag, und begann zu schreiben. „Mein Name ist Lehmann. Und wir werden uns in den nächsten drei Tagen mit folgendem Thema beschäftigen: ‚Erfolgreich bewerben: So erobern Sie den Arbeitsmarkt‘. Danach sollte es für jeden von Ihnen ein Leichtes sein, nicht nur eine gute Bewerbung zu schreiben, sondern auch eine perfekte Arbeitsstelle zu erhalten.“
Nachdem er das Leitthema und seinen Namen aufgeschrieben hatte, drehte er sich zu uns zurück. Er legte den Stift auf den Tisch, setzte sich und öffnete seinen Aktenkoffer. „Zunächst gehen wir die Anwesenheitsliste durch. Jede Person, die ich aufrufe, kommt nach vorn und legt mir die Teilnahmebescheinigung auf den Tisch. Außerdem tragen Sie sich in eine Anwesenheitsliste ein. Und glauben Sie nicht, Sie können den Namen einer fehlenden Person eintragen. Ich kann zählen.“




Ein verhaltenes Lachen ging durch den Raum. Nur ich lachte nicht mit. Die strenge Stimme von Herrn Lehmann machte mir Angst, und bei seiner Mahnung rann mir direkt ein eiskalter Schauer über den Rücken.
„Frederike Arend.“
Eine Frau in der ersten Reihe stand auf, legte ihm ein Blatt hin und trug sich in die Anwesenheitsliste ein.
„Sabine Annweiler.“
Eine Frau am Doppeltisch links von mir ging nach vorn. Nach und nach trat jeder vor, und meine Hände fingen schon wieder an zu schwitzen. Hoffentlich war ich nicht die Letzte, die er aufrief. Andererseits war es mir mittlerweile fast egal. Mein rasender Puls konnte sowieso nicht schlimmer werden.
„Verena Sommer.“
Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz stehen bleiben. Mit zitternden Händen griff ich zur Teilnahmebescheinigung und ging durch die Bankreihen nach vorn. Dort legte ich mein Blatt auf den Stapel der anderen Bescheinigungen, griff zu dem Stift und trug mich in die Liste ein. Auch wenn meine Hand zitterte, bekam ich eine leserliche Eintragung zustande. Fast schon erleichtert schritt ich zu meinem Platz zurück.
„Stefan Unger.“
Es dröhnte in meinen Ohren mit jedem Pulsschlag. Mein Mund war trocken. Aber ich wagte es nicht, meine Flasche herauszuholen und einen Schluck zu trinken. Jetzt hieß es für mich: Durchhalten. Bestimmt bekamen wir eine Frühstückspause.
„Unser Ziel ist es, Sie fit für den Arbeitsmarkt zu machen.“ Die Stimme von Herrn Lehmann durchbrach meine Gedankenflut. „Dazu gehört vor allem eines: Selbstbewusstsein. Wer im Vorstellungsgespräch unsicher auftritt, hat bereits verloren.“
Mein Magen zog sich zusammen. Selbstbewusstsein. Ich hatte keines – zumindest konnte ich es nicht entdecken. Mein Blick fiel auf den Kugelschreiber mit der goldenen Spitze. Mein Vater glaubte an mich, meine Mutter auch. Warum nur konnte ich mir selbst nicht ebenfalls vertrauen?
„Wir beginnen mit einer Vorstellungsrunde“, fuhr Herr Lehmann fort und stellte sich vor seinen Schreibtisch. „Jeder sagt seinen Namen, seinen letzten Beruf und was er sich für die Zukunft vorstellt. Klar, laut und deutlich.“
Ich senkte den Kopf. Vielleicht würde ich in der hinteren Reihe übersehen werden. Aber die Hoffnung war trügerisch.




„Frau Sommer, fangen Sie bitte an.“
Mein Herz schlug schmerzhaft gegen meine Rippen. Natürlich! Vielleicht hätte ich mich nicht in die hinterste Reihe setzen sollen. Andererseits hatte es keine anderen freien Plätze mehr gegeben. Das Schaben von Stühlen über den Boden ließ mich hektischer werden. Nun waren die Blicke aller Anwesenden auf mich gerichtet. Ich räusperte mich, aber meine Kehle war trocken. Wieso konnte sich nicht ein schwarzes Loch auftun und mich verschlingen?
„I-ich … ähm … m-mein Name ist Verena Sommer“, begann ich leise. „Ich ha-habe als Einzelhandelskauffrau gearbeitet, aber … w-wurde gekündigt. Also … also suche ich eine neue Stelle.“
Herr Lehmann zog eine Augenbraue hoch. „Und was genau suchen Sie?“
Ich öffnete den Mund, aber mein Kopf war leer. Was suchte ich eigentlich? Ich hatte mich als Regalbefüllerin, Kommissioniererin und Lagerarbeiterin beworben, aber das war ja nicht das, was ich wirklich wollte.
„I-ich weiß nicht genau“, sagte ich schließlich halb verzweifelt und knetete unruhig meine Hände unter dem Tisch. Ich bemühte mich, Herrn Lehmann in die Augen zu sehen, aber es wollte mir nicht gelingen. Stattdessen fixierte ich einen Punkt neben seinem Kopf an der Tafel: r von bewerben.
„Setzen Sie sich mit Ihrer Zukunft auseinander, Frau Sommer. Ohne ein klares Ziel wird das nichts.“
Die Vorstellungsrunde zog sich endlos hin. Wir waren siebzehn in diesem Seminar, darum ein Doppeltisch für mich allein. Und alle sprachen flüssig und laut bei ihrer Vorstellung. Herr Lehmann fragte nach Stärken, nach ihren Wünschen, nach ihren Vorstellungen. Jeder klang selbstsicherer als ich. Oder kam es mir nur so vor? Unbewusst griff ich zum Kugelschreiber meines Vaters und umklammerte ihn. Meine Hoffnung auf eine Frühstückspause wurde mit jeder Minute größer.
Dann kam die erste Übung.
„Wir simulieren ein Vorstellungsgespräch“, erklärte Herr Lehmann. „Ich werde den Arbeitgeber spielen, und Sie werden sich als Bewerbende vorstellen. Wer fängt an?“ Sein Blick glitt über uns hinweg, und ich ahnte, dass mich mein Pech erneut einholte. Ich behielt recht.
„Frau Sommer, kommen Sie bitte nach vorn und bringen Sie bitte den leeren Stuhl neben sich mit. Den können wir jetzt wunderbar für das simulierte Gespräch gebrauchen.“




Nicht einmal das Aufsagen meines Mantras konnte mich vor dem Desaster bewahren, das unweigerlich folgen würde. Ich griff zu dem Stuhl, trug ihn nach vorn und stellte ihn vor Herrn Lehmanns Schreibtisch.
„Moment“, sagte er, „helfen Sie mir bitte, meinen Tisch schräg zu stellen. Dann können uns die anderen Seminarteilnehmer besser sehen.“
Ich war nicht ganz sicher, was schlimmer war. Alle Blicke in meinem Rücken – oder alle Blicke auf mein Profil gerichtet. Wahrscheinlich war beides unerträglich.
Kaum hatten wir den Schreibtisch gedreht und die Stühle platziert, fing auch schon das simulierte Gespräch an.
„Guten Tag, Frau Sommer, setzen Sie sich bitte. Warum bewerben Sie sich bei uns?“
Ich setzte mich hin und starrte ihn mit großen Augen an. Warum? Weil meine Arbeitsvermittlerin es so wollte? Weil ich verzweifelt war? Weil ich irgendeinen Job brauchte? Keiner dieser Gründe klang überzeugend.
„I-ich … also … ich …“ Mein Gesicht brannte, und in meinem Kopf wirbelten zu viele Gedanken durcheinander.
„Wie bitte, Frau Sommer? Ich habe Sie nicht verstanden.“
Ich schluckte nervös. „Ich … ähm … i-ich bin zuverlässig u-und … fleißig.“
„Fleißig? Meinen Sie damit, dass Sie überdurchschnittlichen Einsatz zeigen, wären Sie auch bereit, an Ihrem freien Tag einzuspringen oder eine Stunde länger zu bleiben?“
Mein Gehirn setzte aus. Aus den Augenwinkeln sah ich die zwei Teilnehmerinnen am Tisch neben mir. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten kichernd miteinander. War ich so schlecht?
„I-ich weiß nicht“, murmelte ich und starrte auf den Tisch.
„Frau Sommer, in einem Bewerbungsgespräch sollten Sie nie den Blick senken. Sitzen Sie aufrecht und lächeln Sie. Und Sie sollten sich nicht nur Gedanken darüber machen, welchen beruflichen Wunsch Sie für die Zukunft haben, sondern auch mehr über Ihre Stärken nachdenken.“
Mit diesen Worten entließ er mich aus meiner Rolle, und ich ging zu meinem Platz zurück. Ob die anderen besser oder schlechter als ich waren, merkte ich nicht. Mir war nun alles egal. Kaum dass ich saß, schnappte ich mir die Flasche aus meiner Tasche und trank einen großen Schluck. Danach fühlte sich zwar meine Kehle nicht mehr so trocken an, jedoch stärkte es mein Selbstbewusstsein leider nicht.




Der Rest des Seminars verlief nicht besser. Wir analysierten unsere Stärken – ich konnte keine nennen. Wir übten Blickkontakt – ich wich immer aus. Wir simulierten Telefongespräche – ich stotterte unbeholfen. Als das Seminar für den ersten Tag endete, spürte ich eine Mischung aus Erleichterung und Demütigung. Ich hatte versagt. Mal wieder.
Statt mit den anderen ins Gespräch zu kommen, eilte ich aus dem Gebäude zur Bushaltestelle. Es regnete. Ich zog die Kapuze meiner Jacke über den Kopf und blickte zu den Wolken hoch. Die Regentropfen vermischten sich mit den Tränen, die sich nun endlich Bahn brachen. Ich wollte nur noch nach Hause – und vergessen, dass dieser Tag je passiert war.

 

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