SdS – Kapitel 8

„Ich bin selbst schon total gespannt auf Nicole“, plapperte meine Schwester munter, während sie uns mit dem Auto in den Nachbarort fuhr. Matthias passte auf die Kinder auf, damit wir ungestört mit der Heilpraktikerin reden konnten. „Ich finde es immer noch unglaublich, wie kurzfristig sie Zeit für uns hat – und dann noch an einem Samstag!“
Ja, das fand ich auch unglaublich. Welche Heilpraktikerin arbeitete am Wochenende? Ich knetete nervös meine Finger, und meine Gedanken drehten sich wild im Kreis.
„Du wirst schon sehen, die Frau wird dir bei deinem Problem helfen können. Die ist besser als ein Psychiater, der dir irgendwelche Medikamente verschreibt. Du bist doch nicht krank, du bist nur ein wenig schüchtern.“
Bei den Worten spürte ich, wie mir die Röte ins Gesicht kroch. Ich war etwas mehr als schüchtern. Mit ihr und Matthias konnte ich frei reden, mit den Kindern wunderbar spielen – doch bei Fremden war ich scheu und zugeknöpft. Da flutete mich Angst: Angst, etwas Langweiliges zu sagen; Angst, keine Antwort auf Fragen zu wissen; Angst, eine falsche Formulierung zu wählen und dumm rüberzukommen. Und weil ich so eine Angst hatte, stotterte ich oder brachte gar keinen Ton heraus – und schon kam ich wirklich dumm rüber.
Ich seufzte und starrte einfach geradeaus. Fixierte einen Fleck an der Windschutzscheibe.
„Nachher darfst du nicht so still dasitzen“, ermahnte mich meine jüngere Schwester. „Du musst Nicole schon sagen, wo das Problem liegt. Auch wenn sie sehr gut sein soll – Gedanken lesen kann sie nicht.“ Lisa lachte und setzte den Blinker, ehe sie rechts abbog. „Gleich sind wir da. Nur noch zwei Straßen.“
In meinem Bauch rumorte es. Ich war noch nie bei einer Heilpraktikerin gewesen. Bisher hatte ich nur andere erzählen hören, dass die mit verdünntem Kräuterwasser und Zuckerkügelchen jedes Problem zu lösen versuchten. Aber ob mir das helfen konnte, bezweifelte ich. Andererseits hatte ich nicht wirklich etwas zu verlieren.
Lisa fuhr auf einen kleinen Parkplatz, wo es zwei Parkplätze mit dem Schild gab: Nur für Besucher von N. Buchner. Darunter ein paar Sterne. Ich blickte verblüfft. Heilpraktiker brauchten doch die Sonne. Wieso waren bei Nicole als Firmensymbole Sterne abgebildet? Eigentlich gefiel mir die Idee. Ich liebte sternenklare Nächte, sie hatten etwas Romantisches.




„So, da wären wir. Komm, lassen wir uns überraschen.“ Lisa stieg strahlend aus. Ich redete mir ein, dass sie nur deshalb so glücklich drauf war, weil sie ohne ihre Kinder etwas unternehmen konnte. Außerdem war nicht sie als Patientin hier, sondern nur als neugierige Begleitung. Und vielleicht konnte sie ein paar Tipps für ihre Schwangerschaft mitnehmen.
Ich seufzte, atmete einige Male tief ein und vergegenwärtigte mir mein Mantra: Ich atme Unsicherheit und Angst aus und atme Mut und Stärke ein. Danach folgte ich meiner Schwester mit einem ziemlich verkrampften Lächeln. Ich hatte leider nichts, worin ich meine Hände krallen konnte. Meine Handtasche war zu Hause, und den Rucksack hatte ich nicht mit hierher nehmen wollen. Also steckte ich die Hände in die Jackentaschen und suchte nach kleinen Fäden, an denen ich zupfen konnte.
Lisa schritt forsch auf die Haustür zu und klingelte. Für einen Augenblick brandete in mir die Hoffnung auf, dass Nicole Buchner nicht da war. Aber so viel Glück hatte ich nicht. Obwohl es wohl eher Glück war, dass sie da war und Zeit für mich hatte. Also konnte ich sicherlich wieder gehen, weil meine Pechsträhne vorbei war, oder?
„Ihr müsst Lisa und Verena sein“, begrüßte uns Nicole mit einem herzlichen Lächeln. „Kommt herein, Ute hat euch schon angekündigt.“ Anscheinend bemerkte sie meinen verwirrten Blick, denn sie fuhr erklärend fort: „Ute hat mich gefragt, ob es okay gewesen sei, dass sie meine Nummer weitergegeben hat.“ Jetzt blickte ich noch irritierter. Wieso sollte eine Heilpraktikerin nicht wollen, dass man ihre Nummer weitergab?
Drinnen hüllte uns ein frischer, würziger Duft ein, ansonsten sah es wie ein normaler, moderner Hausflur aus. Nicole ging uns voran und öffnete eine Tür, die uns in einen hellen Raum führte, wo mehrere Sessel mit orangefarbenem Polster standen. An den Wänden befanden sich Bilder mit Motiven von Früchten in Obstschalen. In der Mitte stand ein weißer Tisch, auf dem ein paar Frauenzeitschriften lagen.
Ein wenig enttäuscht blickte ich mich um. Das sah überhaupt nicht nach einer Arztpraxis aus. Aber Nicole trug auch keinen weißen Kittel. Vielleicht war meine Vorstellung von einer Heilpraktikerin völlig falsch.




„Kommt, setzen wir uns.“ Nicole wies auf die Sessel, und Lisa ließ sich sofort in einen mit einem wohligen Seufzen sinken. Als ich mich ebenfalls gesetzt hatte, musste ich zugeben, bequem waren sie. „Was führt euch denn hierher? Geht es um das Baby?“ Sie zeigte auf Lisas Bauch, der sich gut sichtbar wölbte.
„Nein, nein“, wehrte meine Schwester ab, „es geht um Verena. Komm, erzähl selbst.“
Nicole wandte sich mir zu, und ich war mir sicher, dass mein Gesicht nun in tiefstem Rot glühte – zumindest fühlte es sich so an. „I-ich … äh … i-ich …“ Automatisch blickte ich auf meine Finger, die sich bereits verknotet hatten. Ich zwang mich, sie zu lockern, dann sprach ich angespannt weiter. „I-ich habe ei-eine Angststörung.“
„Warst du bei einem Arzt?“, fragte Nicole. „Bei einem Psychiater? Oder von wem hast du die Diagnose?“
Ich hob den Blick und sah sie mit großen Augen an. Diagnose? Hatte sie eben nicht gehört, dass ich nicht klar sprechen konnte? Dazu brauchte ich doch keinen Arzt oder Psychiater!
„Weißt du, Verena, eine Angststörung ist eine Krankheit, die von einem Fachmann diagnostiziert werden sollte. Wer nur schüchtern ist, vielleicht etwas wenig Selbstvertrauen hat, der braucht ganz andere Hilfen.“
Nicole lächelte mich freundlich an. Ich wurde lockerer und nahm mir endlich die Zeit, sie genauer zu betrachten. Sie hatte blonde Haare, die sie zu einem Zopf geflochten trug. Ihre blauen Augen strahlten eine Fröhlichkeit aus, die sich ein klein wenig auf mich übertrug. Sie war schlank und sah sehr gut aus in ihrem beigen Hosenanzug. Vielleicht war sie insgesamt etwas farblos, aber das machte ihre Ausstrahlung nicht weniger sympathisch.
„I-ich w-war bei einem Seminar“, brachte ich stotternd hervor. „U-und … und da …“
Nicole nickte, als ob sie schon wisse, was ich sagen wollte. „Darf ich dich anfassen?“, fragte sie. Ein sonderbarer Schauer rann mir über den Rücken, dennoch nickte ich. Sie hielt mir ihre Hände hin, und ich legte meine hinein. „Schließ bitte die Augen und versuche, an etwas Schönes zu denken.“
Ich stellte mir einen dunkelblauen Nachthimmel mit Tausenden silbriger Sternen vor. Meine Atmung wurde ruhiger, und meine Finger entspannten sich, eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus, die von den Händen ausging und sich im ganzen Körper verteilte.




„Glaubst du, Verena, dass es mehr gibt als nur diese Welt? Glaubst du, dass es andere Welten oder Ebenen geben kann?“
Ich öffnete die Augen, und die entspannte Wohligkeit löste sich auf. Langsam schüttelte ich den Kopf. Als ich zu Lisa hinüber sah, bemerkte ich, dass sie ebenfalls verwirrt war. Andere Welten? Meinte Nicole damit eine Geisterwelt oder eine fünfte Dimension?
„Lisa, dürfen wir dich einen Moment allein lassen?“, fragte Nicole mit warmer Stimme. „Ich schicke eine Freundin, die dir etwas zu trinken anbietet, während ich Verena kurz entführe.“
„Ja, natürlich, alles gut. Der Sessel ist sehr bequem. Und zu lesen habe ich auch genug.“ Lisa beugte sich vor und griff nach einer Zeitschrift, die sie uns lächelnd entgegenhielt.
Ich stand gemeinsam mit Nicole auf, und wir gingen den Flur entlang. Zwischendurch blickte sie in einen Raum und schickte die junge Frau darin zu meiner Schwester. Danach gingen wir weiter zu einer Treppe. Erst dachte ich, sie würde mich in einen Keller mitnehmen, wo irgendwelche sonderbaren Hexenrituale vollzogen würden. Andere Welten oder Ebenen …
Stattdessen nahmen wir die Treppe nach oben und von dort ging es in einen Raum, der dunkel gehalten war und richtig behaglich wirkte mit den vielen Kissen an den Wänden. Nicole zeigte zur Decke, und ich hob den Kopf: Sterne, die Decke war bemalt mit Tausenden von Sternen. Mein Herz schlug heftiger. Nicole hatte unmöglich wissen können, an was ich gedacht hatte.
Sie schloss die Tür hinter uns und wandte sich mit ernstem Gesicht zu mir. „Verena, du ahnst vielleicht, dass ich keine gewöhnliche Heilpraktikerin bin. Zu mir kommen Menschen, die von Unglück und Leid heimgesucht werden, die verzweifelt sind. Was ich dir nun offenbare, muss in diesem Raum bleiben. Du darfst niemandem davon erzählen. Auch nicht deiner Schwester Lisa. Du kannst sagen, dass du bei mir warst, aber nicht mehr.“
Ich verstand zwar nicht, auf was Nicole hinauswollte, aber ich nickte zustimmend. Als sie mich nur ansah, brachte ich leise hervor: „Ich erzähle niemandem etwas.“
„Gut.“ Sie nickte zufrieden. „Verena, ich gehöre zu den Töchtern der Sterne. Wir beziehen unsere Kraft aus einem anderen Reich.“ Sie sah mir in die Augen, und ihr Blick war so intensiv, dass ich nicht wegschauen konnte. „Wenn du mir vertraust, gib mir deine Hand, und ich führe dich dorthin, wo es Hilfe für dich geben kann.“




Sie streckte ihre Hand aus. Ich betrachtete ihre schlanken Finger. Ein heftiges Grummeln durchzog meinen Magen. Sollte ich ihr vertrauen?

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