Das Flüstern im Archiv

Am nächsten Morgen war Riley früher wach als sonst. Die Sonne warf flache Strahlen durch das Fenster ihres Campuszimmers, doch sie empfand den neuen Tag nicht als Neuanfang. Etwas klebte an ihr. Etwas Unsichtbares, das sie aus Zimmer 308 mitgenommen hatte. Es war nicht greifbar. Kein Geruch, kein Ton. Eher ein Gefühl – als hätte man ihr einen dunklen Gedanken ins Herz gepflanzt. Izzy schien dagegen in Hochstimmung. Sie hatte den gestrigen Abend bereits in einer Sprachnachricht zusammengefasst und die Fotos an die anderen Clubmitglieder geschickt. Beim Frühstück in der Cafeteria plapperte sie ununterbrochen über mögliche Theorien, Energiequellen, residuale Manifestationen und interdimensionale Schleier. Riley rührte in ihrem Müsli. „Du glaubst wirklich, dass da was war? Izzy schnitt sich ein Stück von ihrem Toast ab. „Ich weiß, dass da was war. Du hast das Flüstern doch auch gehört.“

 

„Vielleicht war das nur unser Verstand, der uns einen Streich gespielt hat. Gruppendynamik, Suggestion…“ Izzy grinste. „Du kannst es dir nicht logisch erklären, also versuchst du, es runterzureden.“ Riley hob eine Augenbraue. „Oder ich versuche, nicht durchzudrehen.“ Am Nachmittag traf sich der Club erneut. Diesmal in der alten Universitätsbibliothek, einem Bau aus den Dreißigerjahren mit meterhohen Regalen, knarrenden Dielen und einem Archiv, das angeblich mehrere Stockwerke tief unter die Erde reichte. Ben hatte eine Spur entdeckt. In einer der Aufnahmen aus Zimmer 308 war eine Buchnummer auf einem Regal im Hintergrund sichtbar. Jemand – oder etwas – hatte das Buch hervorstehen lassen. Als hätte man es präsentiert. Sie fanden es im untersten Stockwerk des Archivs. Es war ein unscheinbarer Band – eine Sammlung alter Dissertationsschriften. Kein Titel auf dem Rücken, nur ein verblichenes Etikett. Izzy schlug es auf. Das Papier war vergilbt, fast brüchig. „„Spirituelle Anomalien in akademischen Einrichtungen“ von Dr. Everett H. Langston. 1938.“

 

Riley las mit. Der Text war gespickt mit Verweisen auf sumerische Schutzzeichen, altenglische Beschwörungsformeln und Hinweise auf „Resonanzorte“ – Orte, an denen Realität und Anderswelt sich berührten. Einer dieser Orte war mit Koordinaten angegeben. Es war die Adresse des heutigen Gebäudes, in dem Zimmer 308 lag. „Das kann kein Zufall sein“, flüsterte Ben. Plötzlich ging das Licht im Archiv aus. Ein Klacken, dann Dunkelheit. Stille. Nur das Echo ihrer eigenen Atemgeräusche. Izzy holte ihr Handy hervor. Taschenlampe an. Das schwache Licht tastete sich an den Regalen entlang. Riley fror. Nicht weil es kalt war, sondern weil sie das Gefühl hatte, nicht mehr allein zu sein. Als würde jemand zwischen den Regalen stehen. Nah. Zu nah. „Wir sollten gehen“, sagte Mia leise. Aber Ben stand wie erstarrt da. „Da hinten… ich hab ein Gesicht gesehen.“ Izzy bewegte das Licht in die Richtung, die Ben andeutete. Nichts. Nur Schatten. Aber sie bewegten sich. Ganz leicht. Dann kam das Flüstern wieder. Anders als am Abend zuvor. Diesmal war es klarer, zielgerichteter. Und es sagte nur einen Satz: „Kommt nicht zurück.“ Riley spürte, wie ihr Herz raste. Sie griff nach Izzys Arm, und gemeinsam eilten sie zur Treppe. Keiner sprach ein Wort, bis sie wieder im Sonnenlicht standen. Niemand lachte. Niemand tat es ab. Selbst Izzy schwieg lange. Etwas hatte sie gesehen. Etwas hatte sie gewarnt. Und Riley wusste: Das Spiel war vorbei. Es war keine Spielerei mehr. Das, was sie berührt hatten, hatte sie zurückberührt. Und es wollte nicht, dass sie weiter suchten.



 

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