Lücken
Riley schlug die Augen auf.
Ein Lichtstrahl fiel durch die Lamellen der Jalousie und zog ein scharfes Muster über ihre Decke. Für einen Moment wusste sie nicht, wo sie war. Ihr Kopf fühlte sich an, als hätte jemand Watte hineingestopft. Dumpfer Druck hinter den Schläfen. Ihr Herz pochte zu schnell.
Sie lag auf der Seite. Noch immer in ihren Klamotten. Jeans, Pullover, Socken. Ihr Rücken war steif, als hätte sie sich die ganze Nacht nicht bewegt.
Langsam richtete sie sich auf. Blinzelte ins Licht. Alles in ihrem Zimmer war am richtigen Ort. Ihr Laptop auf dem Schreibtisch, der kleine Stapel Bücher, die Kaffeetasse von gestern – leer und mit einem eingetrockneten Rand.
Doch es fühlte sich nicht richtig an.
Sie griff nach ihrem Handy. Es war ausgeschaltet. Merkwürdig – sie konnte sich nicht erinnern, den Akku leer gemacht zu haben. Nach kurzem Laden erwachte es zum Leben. 08:36 Uhr. Keine neuen Nachrichten. Keine Anrufe. Keine Erinnerungen.
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihr aus.
Was war letzte Nacht passiert?
Sie erinnerte sich an… an Mia. An das Gespräch über Izzy. An die Sprachnachricht. Und dann? Nichts. Keine klare Linie. Nur Fragmente. Licht. Flüstern. Ein Kratzen. Und das Gefühl, beobachtet zu werden.
Sie stand auf, ging zum Waschbecken, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Ihr Spiegelbild wirkte blasser als sonst. Die Augen gerötet. Die Haare wirr.
Etwas stimmte nicht.
Izzy. Riley zog sich hastig um, schlüpfte in ihre Sneakers und verließ das Zimmer. Der Flur war leer. Zu leer. Sie hörte ihre Schritte auf dem Linoleumboden hallen. Draußen war es ungewöhnlich ruhig für einen Wochentag. Sie versuchte sich zu erinnern, wann sie Izzy das letzte Mal gesehen hatte. Ihr Name lag wie ein Fremdwort auf der Zunge. Unwirklich. Entfernt.
Am Fahrstuhl traf sie Mia.
„Oh mein Gott – Riley!“, rief Mia und griff nach ihrem Arm. „Ich hab dir geschrieben, aber du hast nicht geantwortet. Wie geht’s dir?“
Riley öffnete den Mund, zögerte. „Ich… Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich erinnere mich nicht an alles. Hast du… hast du was von Izzy gehört?“
Mias Blick veränderte sich. Sorge schlich in ihre Züge. „Nein. Niemand hat was gehört. Ich hab bei der Uni angerufen, beim Studentenwerk, sogar bei der Polizei. Aber ohne Beweise, dass sie wirklich vermisst wird…“
„Ich war doch gestern noch bei dir, oder?“ Rileys Stimme klang plötzlich fremd in ihren eigenen Ohren. „Wir haben über die Sprachnachricht gesprochen. Von Izzy. Und danach…“
„Du bist einfach verschwunden“, flüsterte Mia. „Ich wollte dich fragen, ob du mit mir zum Archiv kommst. Aber als ich mich umgedreht hab, warst du weg. Ich dachte, du bist zurück aufs Zimmer. Und jetzt bist du… wieder hier.“
Sie sah Riley an, als würde sie nicht ganz glauben, dass sie real war.
„Vielleicht…“, begann Riley vorsichtig, „war ich schlafwandeln? Oder ich hab einen Blackout?“
„Oder es ist dieses Ding“, murmelte Mia. „Das, was Izzy gehört hat. Was du gesehen hast. Vielleicht… verfolgt es uns.“Riley schüttelte den Kopf. „Das klingt verrückt.“„Ist es auch. Aber nichts davon war normal.“
Riley atmete tief durch. „Ich will zu Izzys Zimmer.“Gemeinsam stiegen sie die Treppen hinauf. Vor Izzys Tür blieben sie stehen. Wieder war sie verschlossen. Mia klopfte. Keine Reaktion.
„Wir müssen da rein“, flüsterte Riley. „Irgendwas fehlt hier. Vielleicht ein Hinweis. Irgendetwas.“
„Die Uni wird uns umbringen.“
„Soll sie. Ich will nur wissen, was passiert ist.“
Mia sah sich um, dann zog einen dünnen Draht aus ihrer Jackentasche. Riley hob eine Augenbraue. „Will ich wissen, warum du so was bei dir hast?“
„Besser nicht“, murmelte Mia, während sie sich an der Tür zu schaffen machte. Nach zwei Minuten klickte das Schloss.
Das Zimmer war still. Zu still.
Es roch schwach nach Parfüm. Izzys Parfüm. Süßlich und schwer. Das Bett war gemacht. Der Schreibtisch aufgeräumt. Laptop, Bücher, Notizheft. Ihre Jacke hing über dem Stuhl, als hätte sie sie vor wenigen Minuten dort abgelegt. „Nichts hier sagt, dass sie weg ist“, murmelte Riley.
Mia öffnete eine Schublade. Vollständig. Ordentlich.
Riley ging zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite. Sonnenlicht flutete den Raum. Draußen ein paar Studenten auf dem Weg zur Vorlesung. Alles normal.
„Da ist was“, sagte Mia plötzlich.
Riley drehte sich um. Mia hielt Izzys Notizbuch in der Hand, aufgeschlagen auf einer Seite, die mit Kritzeleien übersät war. Wörter. Namen. Fragmente. Wiederholungen. „Tür – nicht allein – Stimmen – Spiegel – Tiefe – tiefer – tiefer – tiefer –“
„Sie hat das letzte Nacht geschrieben“, flüsterte Mia.
Riley spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. Sie nahm das Notizbuch, fuhr mit den Fingern über die Seite. Der Druck war unterschiedlich, einige Worte schienen hektisch geschrieben, andere fast zärtlich.
Auf der Rückseite stand ein letzter Satz, zentriert in der Mitte der Seite.
„Sie sieht uns jetzt.“
Mia trat einen Schritt zurück. „Das ist krank.“ „Das ist eine Warnung.“
Riley schloss das Buch. Ihre Hände zitterten. Sie wusste nicht, was geschehen war – nicht genau. Aber tief in ihr drin, da war dieses Gefühl. Etwas war geöffnet worden. Etwas, das nicht mehr so einfach verschwand.
Und was immer Izzy gesehen hatte, es sah sie jetzt auch.





























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