Kapitel 3
3
»Komm endlich in die Hufe, Junge.« Rick schüttelte Joe zum bestimmt fünften oder sechsten Mal. Es war schon Frühstückszeit und sein Freund lag immer noch im Bett.
»Lass mich«, brummte Joe verschlafen. »Nur ein paar Minuten.«
»Keine Minuten. Los jetzt.« Rick packte ihn und zerrte ihn aus dem Bett.
Joe konnte gerade noch einen Fall aus dem oberen Stockbett verhindern. »Sag mal, spinnst du?«, fauchte er mit aufgerissenen Augen.
»Wenigstens bist du jetzt wach«, antwortete Rick lakonisch. »Beeil dich. Wir sind schon mal unten.«
Es versprach, ein schöner Tag zu werden. Die Sonne schien und im Ahorn vor dem Hostel lieferten sich zwei Vögel einen lauten Streit, der durch das geöffnete Fenster hereindrang. Während er sich am Buffet bediente, versuchte Rick, sich zu erinnern, was auf dem Programm stand. Eine Grachtenfahrt natürlich, anschließend ein Besuch im Rijksmuseum. Den Rest des Tages hatten sie zur freien Verfügung. Ob die Bar nachmittags schon geöffnet hatte? Er wollte Kim unbedingt wiedersehen. Verführerisch lächelnd war sie ihm im Schlaf erschienen. Doch gerade, als sie sich über ihn beugte, um ihn zu küssen, hatte sein Wecker geklingelt. Rick hätte das blöde Ding am liebsten an die Wand gepfeffert. Aber der Traum wirkte nach. Wie es wohl war, sie zu küssen? Ihre Lippen auf seinen zu spüren? Sein Herz begann zu rasen, als er sich ausmalte, wie sich ihre Zungenspitzen trafen, wie er forschend ihren Mund erkundete, wie er …
»Hey, wird das noch was?« Ein Stoß in den Rücken brachte ihn in die Realität zurück. Er stand vor dem Brotkorb und blockierte jedes Weiterkommen. Hinter ihm hatte sich schon eine Schlange gebildet, aus der teils Gemurre, teils belustigte Kommentare zu hören waren.
»Tschuldigung.« Rick fühlte, wie er rot wurde. Er nahm sich eines der weichen Brötchen und etwas, das wie eine Rosinensemmel aussah, und trat schnell zur Seite. Die Schlange am Frühstücksbuffet war definitiv nicht der richtige Ort, um von Kim zu träumen. Mit gesenktem Kopf eilte er zu seinem Platz.
Die Semmeln waren anders als zu Hause in Bayern. Sie glichen von der Konsistenz her eher einem Hamburgerbrötchen, schmeckten aber nicht schlecht.
Als er schon fast fertig war, tauchte endlich Joe auf. Sein Vorteil war, dass die Schlange am Buffet deutlich abgenommen hatte und er sofort sein Frühstück zusammenstellen konnte. Gut gelaunt kam er zu ihrem Tisch. »Morgen, Leute«, grüßte er in die Runde.
Frau Suhrbier sah demonstrativ auf ihre Uhr, sagte aber nichts. »Beeilen Sie sich«, mahnte Herr Wenger. »In fünfzehn Minuten werden wir abgeholt.«
»Reicht locker«, nuschelte Joe mit vollem Mund und winkte ab.
Rick staunte wieder einmal, welche Mengen Joe in kürzester Zeit verdrücken konnte, aber er wartete nicht, bis sein Freund fertig war. Ob er noch schnell zur Bar hinüberlaufen sollte? Nur schauen, ob Kim da war? Zum Glück schaltete sich einen Sekundenbruchteil nach diesem Gedanken sein Hirn ein und sagte ihm, dass um diese Zeit mit Sicherheit geschlossen war. Vielleicht klappte es ja heute Abend.
Später fragte sich Rick, was er den Tag über getan hatte. Wenn ihn jemand gefragt hätte, was sie während der Grachtenfahrt gesehen hatten, hätte er absolut blank gezogen. Das Rijksmuseum war ihm zumindest ein wenig im Gedächtnis geblieben. Gemälde interessierten ihn an und für sich nicht, aber die Bilder von Rembrandt und Vermeer hatten ihn doch beeindruckt. Der Saal mit den Marinemodellen gefiel ihm deutlich besser, aber auch hier ertappte er sich dabei, dass er durch die Exponate schlenderte, ohne sie wirklich zu sehen. Er sah immer nur Kim vor sich. Das lachende Gesicht, hinter dem eine undefinierbare Traurigkeit lag. Da war er sich ganz sicher und er wollte unbedingt mehr über die junge Frau erfahren. Er musste sie einfach wiedersehen.
Tatsächlich wurde die Sperrstunde gelockert. Frau Suhrbiers Miene machte ihrem Namen alle Ehre, als Herr Wenger erklärte, die Klasse hätte Ausgang bis 23 Uhr. Sie wären immerhin volljährig und man würde ihnen vertrauen. Von Frau Suhrbier kam jedoch der deutliche Hinweis, dieses Vertrauen nicht zu enttäuschen, und es wäre selbstverständlich möglich, auch früher ins Bett zu gehen. Schließlich hätte man morgen einen anstrengenden Tag vor sich. Joe hatte für ihre Rede nur ein müdes Lächeln übrig.
Ein Großteil der Klasse wollte nach dem Abendessen durch die Innenstadt bummeln und es sich auf einer der vielen Außenterrassen gemütlich machen. Rick schloss sich ihnen an und kommentierte mit Joe das bunte Treiben in der niederländischen Hauptstadt. Doch er sah ständig verstohlen auf die Uhr. Wann die Bar wohl öffnete? Er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und nachzusehen. Vielleicht war Kim ja schon da. Schließlich hielt er es nicht mehr aus.
»Ich gehe, Leute«, entschuldigte er sich und stand auf. »Mir ist nicht so besonders gut.«
Ein paar Klassenkameraden nickten, die meisten ignorierten seine Ankündigung, nur Sonja wünschte ihm mitleidig gute Besserung. Joe warf ihm einen misstrauischen Blick zu. »Soll ich mitgehen?«, fragte er.
»Nee, du, alles in Ordnung. Ich komm klar.« Heute mit Joe im Schlepptau in der Bar aufzutauchen, war das Letzte, was er wollte, hoffte er doch, trotz aller Betriebsamkeit ein wenig mit Kim reden zu können. Und wenn sie viel zu tun hatte, würde es ihm genügen, sie anzusehen. Er schüttelte den Kopf über sich selbst. Es hatte ihn wirklich ganz schön erwischt.
Wie ein begossener Pudel stand Rick vor der Bar, nachdem ihm ein älterer Mann in schlechtem Englisch erklärt hatte, dass Kim weder heute noch morgen Dienst hatte. Rick hatte sich ein Herz gefasst und ihn nach ihrer Adresse gefragt, doch der Mann hatte so getan, als würde er ihn nicht verstehen und hatte sich wieder seiner Arbeit gewidmet. Ob Rick etwas trinken wolle? Nein, ohne Kim gefiel es ihm hier nicht. Was konnte er nur tun, um sie zu finden? Die einfache wie brutale Antwort war: nichts, absolut nichts. Langsam schlurfte er zum Hostel. Keinen Gedanken hatte er an die Möglichkeit verschwendet, dass seine Angebetete frei haben könnte. Er hätte sie gleich gestern um ein privates Treffen bitten sollen, aber das wäre unpassend gewesen. Sie bekam vermutlich öfter solche Angebote. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein, dass sie Interesse an ihm gezeigt hatte. Spielte seine Erinnerung ihm einen Streich, war der Blick aus den klaren blauen Augen nur Neugierde oder noch schlimmer, nur Freundlichkeit einem Gast gegenüber gewesen? Was wollte er überhaupt von ihr? Er fuhr ja bald wieder nach Hause. Mehr als ein kurzer Flirt konnte es nicht werden und wenn sie schlau war, würde sie sich nie im Leben auf den deutschen Jungen einlassen.
Und was sollte er jetzt tun? Er wollte nicht zu seinen Klassenkameraden zurückkehren und etwas anderes fiel ihm nicht ein. Am besten ging er tatsächlich einfach ins Bett, um sich auszuschlafen. Vielleicht träumte er ja wieder von Kim.
Rick lehnte sich an das große Busfenster und sah hinaus, wo die nordholländische Landschaft an ihm vorbeizog. Doch er sah nicht viel davon. Seine Gedanken wurden ständig nur von Kim beherrscht. Was faszinierte ihn nur so sehr an diesem Mädchen? Er stand überhaupt nicht auf ältere Frauen und sie war bestimmt mindestens zwanzig. Waren es die blauen Augen, war es das freundliche Lächeln oder war es die Melancholie, die sie zu umwehen schien wie ein durchsichtiger Schleier? Er wusste es nicht, doch sie war ständig in seinen Gedanken und es fiel ihm schwer, sich auf andere Dinge zu konzentrieren.
Drei Tage war es jetzt her, dass er sie kennengelernt hatte. Wobei kennengelernt stark übertrieben war. Sie hatte ihm mit schöner Regelmäßigkeit Bier serviert, hatte ihn angelächelt und ab und zu ein Wort gesagt, das war es aber auch. Bestimmt hatte sie ihn bereits vergessen. Nur er konnte sie nicht aus seinem Kopf verbannen.
Um sich abzulenken, dachte er an die gestrige Stadtführung, die ihm durchaus gefallen hatte. Rick schmunzelte, als er sich an die schiefen Häuser erinnerte.
»Nein, man hat Ihnen keine Drogen ins Frühstück gemischt, die Häuser sind tatsächlich schief.« Ihre Führerin, die schon etwas in die Jahre gekommen war, sprach ein gutes Deutsch, allerdings mit deutlichem Akzent, der es schwierig machte, manche Wörter zu verstehen. Rick hatte sich vorgenommen, gut aufzupassen, um seine Gedanken im Zaum zu halten, doch es wollte ihm nicht so recht gelingen. Dabei war es wirklich interessant, was die Dame zu den schiefen Häusern zu erzählen hatte. Bei ihrem Anblick hatte Rick zuerst tatsächlich gedacht, seine Augen würden ihm einen Streich spielen. Eng an eng stehend, oft vier Stockwerke und mehr hoch, dabei aber meistens nur drei Fenster breit, neigten sich die Häuser mal nach rechts, mal nach links, zusätzlich schienen einige noch nach vorn zu kippen.
»Die ganze Gegend steht auf Sumpf«, wurde den mehr oder weniger aufmerksamen Schülern erklärt. »Deshalb wurden die Häuser früher auf Holzpfählen errichtet. Wie Sie sicher wissen, hat Holz die Eigenschaft, gern mal zu verrotten, weshalb der Untergrund absackte und die Gebäude kippten. Heutzutage sind die Pfähle natürlich aus Beton, aber man muss sie teilweise zwölf Meter in den Boden rammen, bis man auf festen Grund stößt.«
»Warum sind die Häuser so schmal und hoch?«, fragte eine Klassenkameradin.
»Es gab eine Steuer, die sich nach der Oberfläche berechnete, die ein Haus bedeckte. Natürlich kamen die Menschen da auf die Idee, einfach in die Höhe zu bauen. Sie werden bemerken, dass vielerorts die oberen Stockwerke überstehen. Wie Sie vielleicht aus dem Unterricht wissen, waren die Niederlande eine große Handelsmacht. Es gab die Notwendigkeit, Lagerplatz zu schaffen, bevor man die Produkte verschiffen konnte. Man brachte Flaschenzüge an, um die Waren hinauf und hinunter zu hieven, und um zu verhindern, dass sie dabei gegen die Fenster pendelten, wurde das oberste Stockwerk einfach etwas nach vorn versetzt. Eine geniale Idee, wie ich finde. Die Flaschenzüge kommen immer noch zur Anwendung, denn wie Sie sich vorstellen können, ist es nicht möglich, sperrige Möbelstücke über dermaßen enge Treppen zu befördern. Wir gehen nun weiter, wenn Sie mir bitte folgen würden.«
Am Nachmittag hatten sie noch das Anne-Frank-Haus besucht und damit war sein Bedarf an Kultur gedeckt. Seine Kumpels zogen noch in die Bar um die Ecke, aber wenn Kim nicht dort war, konnte er darauf verzichten. Daniel nannte ihn eine Spaßbremse und Joe sah ihn lange nachdenklich an, doch Rick spielte lieber Karten mit ein paar Klassenkameraden und zog sich beizeiten zurück, um von seinem Schwarm zu träumen.
Nun waren sie auf dem Weg zur Zaanse Schans. Sogar Herr Wenger hatte Probleme damit, den Namen auszusprechen. Dabei schien er sehr begeistert von dem Windmühlenpark zu sein.
»Ist das eine Art Freizeitpark?«, fragte Sonja soeben.
»Nein, ist es nicht. Man könnte meinen, dass es ein Freilichtmuseum ist mit den vielen Windmühlen, aber dort arbeiten und wohnen ganz normale Menschen. Sie können sich hier in einer Käserei umsehen, einer Küferei oder auch einer Zinngießerei. Das Schönste sind natürlich die historischen Mühlen. Hier stehen über zehn davon. Industriemühlen, wie zum Beispiel Ölmühlen, Sägemühlen oder eine Farbmühle. Im Gegensatz dazu gibt es Poldermühlen, die dabei halfen, diverse Gegenden der Niederlande trockenzulegen und immer noch dafür benutzt werden, Wasser abzupumpen.«
Rick seufzte und blendete die Stimme seines Lehrers aus. Er hasste sich für seine Gedanken, die ständig nur um Kim kreisten, doch er konnte es nicht ändern. Am besten wäre es sicher, sie nicht mehr wiederzusehen. Nur wusste er genau, dass er am Abend in die Bar gehen würde. Während er mit seinen Mitschülern über das weitläufige Gelände des Parks schlenderte, steigerte sich seine Vorfreude ins Unermessliche. Er schalt sich einen dummen Jungen, doch er musste das Mädchen wiedersehen und herausfinden, ob er ihr in irgendeiner Weise aufgefallen war.


































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