Kapitel 4
4
»Sieh an, der deutsche Junge mit dem niederländischen Namen. Biertje?«, begrüßte sie ihn mit einem freundlichen Lächeln, das sein Herz in die Hose rutschen ließ. Sie erinnerte sich an ihn, sogar an seinen Namen.
Er nickte eifrig. Biertje, ja, ein Bier konnte er vertragen. Doch dann fielen ihm Herr Wengers Worte ein. Verflixt, wo hatte er denn seine Zunge gelassen, die funktionierte hoffentlich noch. Er räusperte sich. »Nein, heute bitte eine Cola.« Seine Stimme klang rau und Kim lachte, als sie ihm das Gewünschte brachte.
Wenn Rick aber gehofft hatte, sie würde in jeder freien Minute zu ihm kommen, um zu plaudern, hatte er sich getäuscht. Sie hatte keine freie Minute, die Bar war voll besetzt und sie rannte geschäftig hin und her. Er ließ sie nicht aus den Augen. Wenn sie seinen Blick kreuzte, sah er zuerst ertappt zur Seite, dann erwiderte er ihn jedoch bewusst und stellte sich vor, wie es wäre, durch das lange blonde Haar zu fahren. Bestimmt fühlte es sich ganz seidig an. Rick schnaubte. Noch nie im Leben hatte er über seidige Haare nachgedacht. Frustriert nippte er an seiner Cola. Ein längeres Gespräch mit Kim konnte er sich abschminken. Zumindest während sie arbeitete. Als sie sein leeres Glas gegen ein volles tauschte, legte er ihr die Hand auf den Arm. »Ich würde dich gern wiedersehen«, stammelte er nervös. »Darf ich dich morgen Vormittag in ein Café einladen? Einfach ein bisschen reden?« Die Klasse hatte Zeit zur freien Verfügung, um Einkäufe zu machen, Mitbringsel zu besorgen, einen Stadtbummel auf eigene Faust zu unternehmen oder vielleicht auch in ein Café zu gehen. Rick wartete mit angehaltenem Atem.
»Sorry«, lächelte Kim. »Ich muss heute bis ein Uhr arbeiten und dann erst mal ausschlafen. Außerdem bin ich bei einer Freundin zum Kaffee eingeladen.« Sie legte kurz ihre Hand auf seine. »Tut mir leid.« Und schon war sie weg.
Ob sie es ehrlich gemeint hatte? Tat es ihr wirklich leid? Oder war die Einladung nur ein Vorwand? Sie bekam wahrscheinlich jede Menge Angebote von Gästen, die gern mit ihr ausgehen würden. Er war da sicher nicht der Einzige. Und wie kam er auf die Idee, dass ausgerechnet er ihr gefallen könnte?
Nach der Abfuhr fühlte er sich zunehmend unwohl. Er sah auf die Uhr. Joe und die Jungs hatten einen anderen Pub ausprobieren wollen, wenn er sich beeilte, konnte er noch für ein Weilchen zu ihnen stoßen, bevor sie ins Hostel zurück mussten. Er winkte Kim, um zu zahlen.
»Alles Gute«, wünschte sie ihm. »Und pass gut auf dich auf, Hendrik.«
»Rick ist mir lieber«, murmelte er halbherzig. Sie nickte nur und wandte sich schon wieder dem nächsten Gast zu.
Ruhelos drehte er sich von einer Seite auf die andere. Sie waren pünktlich ins Hostel zurückgekommen, hatten im Zimmer noch eine halbe Stunde gequatscht und sich dann in die Falle begeben. Herr Wenger hatte seine letzte Runde gemacht und ihnen eine gute Nacht gewünscht. Aber Rick konnte keinen Schlaf finden. Von der anderen Seite des Zimmers kam leichtes Schnarchen, doch er konnte nicht sagen, ob es Daniel oder Markus war. Es war auch egal. Was sollte er nur tun? Am besten schlug er sich Kim aus dem Kopf. Aber genau dieser Kopf spielte da nicht mit. Zum wiederholten Mal sah er auf seine Armbanduhr. Es war kurz nach halb eins. Kim würde sicher den Feierabend herbei sehnen und gerade die letzten Gäste noch einmal bedienen. Er könnte sie vor der Bar treffen. Und dann? Was für eine blöde Idee, sagte seine Vernunft. Gar nicht wahr, widersprach sein Herz. Rick seufzte. Er hatte definitiv zu viel getrunken. Aus Frust hatte er sich in der nächsten Bar ein Bier nach dem anderen hinter die Binde gekippt. Es war ja nichts dran an diesen winzigen Gläsern, da konnte man leicht den Überblick verlieren. Wieder wälzte er sich herum. Joe grunzte im Schlaf, das Schnarchen von der anderen Seite wurde lauter. Da fasste er einen Entschluss. Leise stand er auf, suchte nach seinen Klamotten und zog sich an. So geräuschlos wie möglich schlich er aus dem Zimmer. Er baute darauf, dass beide Lehrkräfte schliefen. Zur Not konnte er sagen, dass er zur Toilette musste. Voll angezogen?, höhnte die Vernunft und er grinste schief. Wenn er erwischt würde, würde ihm schon was einfallen. Doch das Glück war ihm hold. Bis zur Haustür. Die verschlossen war und weit und breit war kein Schlüssel in Sicht. Und nun? Wieder ins Bett gehen und so tun, als wäre nichts? Nein, jetzt wollte er sein Vorhaben durchziehen. Rick tappte zur Hintertür, die in einen kleinen Garten führte. Sie war ebenfalls abgesperrt, doch der Schlüssel steckte. Er drehte ihn um, aber die Tür ließ sich trotzdem nicht öffnen. Was war jetzt los? So leise wie möglich rüttelte er daran. Um das Schloss herum gab sie nach, weiter oben schien sie jedoch blockiert zu sein. Endlich entdeckte er einen kleinen Riegel, der sie zusätzlich sicherte. Mit angehaltenem Atem schob er ihn zurück und konnte die Tür tatsächlich aufschieben. Der Weg war frei.
Zehn Minuten später stand er vor der Bar und überlegte, ob er nochmal hineingehen sollte, entschied sich aber dagegen. Er würde hier auf Kim warten.
Die Nacht war frisch und er fröstelte. Hoffentlich kam sie bald. Es war schon ein Uhr vorbei. Natürlich musste sie aufräumen und die Kasse abschließen, das dauerte bestimmt ein Weilchen. Rick fuhr freudig erregt zusammen, als sich die Tür öffnete, doch es war Kims Kollege, der heraustrat und ihn misstrauisch ansah, sich jedoch ohne ein Wort auf den Weg machte. Nach fünf weiteren Minuten kam sie dann.
»Hendrik? Ich meine, Rick, was tust du denn hier?«
Sie hatte sich gemerkt, dass er lieber Rick genannt werden wollte. Sein Herz pochte plötzlich so laut, dass er kaum seine eigene Stimme verstand. »Ich will mit dir reden.«
»Worüber?« Ihr Gesicht war ein einziges Fragezeichen.
»Ich mag dich«, platzte er heraus und biss sich gleichzeitig auf die Unterlippe.
Kim lachte hell. Der Klang ging ihm durch Mark und Bein. Es war das schönste Lachen, das er je gehört hatte.
»Du bist ein netter Kerl, Rick«, begann sie. Sein Herz sagte ›Oh, oh‹, und sein Verstand grinste hämisch ›hab ich’s dir doch gesagt‹. »Ganz ehrlich? Wenn du hier wohnen würdest, hätte ich meiner Freundin abgesagt und mich mit dir getroffen. Aber das hat keinen Sinn.«
Rick schöpfte wieder Hoffnung. Sie mochte ihn. Er hatte sich nicht getäuscht.
»Kim?«, hörte er da eine männliche Stimme, die noch einige niederländische Sätze folgen ließ.
Rick wirbelte herum und sah sich einem Mann Anfang bis Mitte zwanzig gegenüber, der ihn herablassend musterte.
»Vincent, wat doe jij hier?«, rief Kim und Rick konnte eine leichte Verärgerung in ihrer Stimme erkennen.
Der Angesprochene warf ihm einen weiteren Blick zu und sagte etwas zu ihm, das er nicht verstehen konnte.
»Dat is Rick«, antwortete Kim an seiner Stelle. »Hij is Duits.«
Ja, das war zumindest verständlich. Rick musterte den Mann, der gerade ins Licht der Straßenlaterne vor der Bar trat. Er war groß, etwa zwei oder drei Zentimeter größer als Rick, hatte kurze blonde Haare und einen gepflegten Dreitagebart und trug ein helles Sakko über einem weißen Hemd und Jeans.
»Ein Deutscher«, sagte er mit einem höhnischen Klang in der Stimme. »Bist du Tourist?«, fragte er mit schwerem Akzent. »Geh heim. Lass unsere Frauen in Ruhe.«
Kim hatte sich von ihrer Überraschung erholt und schleuderte Vincent einige aufgeregte Sätze entgegen, aus denen Rick die Wörter Frau und Tochter zu erkennen glaubte, weil sie so klangen wie ihre deutschen Pendants. War Vincent ihr Freund? Von ihrem Verhalten zu schließen, mochte Rick das nicht so recht glauben.
Mit einigen Worten fasste Vincent Kim am Arm, doch sie riss sich los. »Laat mij met rust«, fauchte sie.
Auch wenn er es nicht verstand, war die Geste für Rick deutlich genug. Er trat näher. »Hey«, sagte er scharf. »Lass sie in Ruhe, ja?«
Vincent warf ihm einen erstaunten Blick zu. »Du hast hier nix zu sagen, Junge. Geh weg.«
Als er sich wieder Kim zuwandte, packte Rick ihn am Arm. Da holte der andere Mann aus und knallte ihm die Faust mitten ins Gesicht.
Ein heftiger Schmerz explodierte hinter Ricks Augen. Seine rechte Wange brannte wie Feuer und er fühlte Blut aus seiner Nase laufen. Er hörte Kim aufschreien und dann packte ihn die Wut. Blindlings schlug er zurück und kassierte einen weiteren Treffer in die Rippen.
»Hou op«, schrie Kim. »Aufhören.« Sie schob sich zwischen die zwei Männer. Hielt sie auf Abstand. Schubste Vincent zur Seite, brüllte ihn an. Er antwortete wütend, spuckte auf den Boden, warf Rick einen Blick voll glühenden Hasses zu und trollte sich dann.
Kim atmete erleichtert auf und wandte sich ihm zu. Mit leicht geneigtem Kopf inspizierte sie seine Verletzungen und zog ein Taschentuch aus ihrer Jeans. »Hier.«
Rick nickte dankbar und drückte sich das Tuch unter die Nase. Mit einem Blick sah er, dass sein T-Shirt einige Blutspritzer aufwies. Super.
Kim überlegte und nagte einen Moment an ihrer Unterlippe. »Komm mit«, sagte sie dann. »So kann ich dich nicht zurückgehen lassen. Ich wohne nur zwei Straßen weiter. Ich werde dich erst einmal versorgen.«
Ricks Herz jubilierte trotz der Schmerzen, die sich von seiner Nase und seiner Wange auszubreiten schienen. Ohne Vincent hätte sie ihn bestimmt abgewiesen und heimgeschickt. »War das dein Freund?«, murmelte er hinter dem Taschentuch.
Kim warf einen Blick die Straße hinunter, aber es war nichts mehr zu sehen. »Ja«, gab sie zu. »Bis ich letzten Monat erfuhr, dass er verheiratet ist und eine kleine Tochter hat.«
»Das ist heftig. Du hast Schluss gemacht?«
»Natürlich. Augenblicklich. Ich fange nichts mit einem verheirateten Mann an.«
»Hast du ihn geliebt?« Rick hielt die Luft an, während er neben Kim herlief. Das ging ihn nun wirklich nichts an.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte Gefühle für ihn, es fiel mir jedoch nicht sehr schwer, unsere Beziehung zu beenden.«
Rick nickte, während er sich wieder über die Nase wischte. War sie gebrochen? Weh genug tat sie, aber die Blutung hatte aufgehört und es fühlte sich auch nicht so an. Wobei er keine Ahnung hatte, wie sich eine gebrochene Nase anfühlte.
»So, wir sind da.« Kim deutete auf eines dieser schmalen Häuser, das aber zum Glück gerade stand. »Ich wohne im dritten Stock.«
Die Treppe war eng und unglaublich steil. Rick fühlte sich wie bei einer Bergtour. Beinahe aufrecht stehend konnte er mit Füßen und Händen die Stufen erklimmen. Kim öffnete die Tür, schaltete das Licht an und ließ ihn ein.
Die Wohnung war nicht sehr groß, aber gemütlich. In der Ecke stand eine Couch vor einem niedrigen Tisch, an der anderen Seite ein kleiner Esstisch und an der gegenüberliegenden Wand befand sich eine Küchenzeile. Eine Tür führte vermutlich ins Schlafzimmer. Aus einem vorhanglosen Fenster konnte man den Mond sehen, der geradewegs hereinschien.
»Wieso habt ihr hier eigentlich so selten Vorhänge«, brachte Rick eine Beobachtung auf den Punkt.
»Na, wegen der Gardinensteuer«, lachte Kim.
»Echt? Die gibt es?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie bedeutete ihm, sich zu setzen, und kramte im Kühlschrank. »Das ist aber ein Gerücht, das sich hartnäckig hält. Es gab zwar Anfang des neunzehnten Jahrhunderts eine Steuer, die sich aus der Anzahl der zur Straße liegenden Fenster berechnete. Angeblich mauerten damals viele Leute ihre Fenster einfach zu, aber eine Gardinensteuer gab es nie.« Sie reichte ihm einen in ein Handtuch gewickelten Eisbeutel, den er pflichtschuldig auf seine Wange drückte.
»Also warum dann?«
Kim zuckte mit den Schultern. »Weil wir nichts zu verbergen haben. Mein Opa hat mir erzählt, dass es den Bürgern gerade im Zweiten Weltkrieg wichtig war, offen zu zeigen, dass bei ihnen nichts Verbotenes läuft. Ich weiß aber nicht, ob das stimmt, und viele Häuser haben mittlerweile Jalousien.« Kim zog den Eisbeutel weg und inspizierte seine Nase. »Sie ist nicht gebrochen«, stellte sie fest. »Du hast Glück gehabt.«
»Passt er dich oft ab?«
»Was meinst du?« Verständnislos sah Kim ihn an.
»Vincent. Wartet er oft auf dich?«
»Ach so. Nein, das war das erste Mal, seitdem wir uns getrennt haben. Hoffentlich hat er begriffen, dass ich nicht mehr mit ihm zusammen sein will.«
»Du hast ganz schön gebrüllt.« Rick grinste.
»Tut mir leid.« Kim setzte sich neben ihn. »Ich war ziemlich erschrocken.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Ich glaube nicht, dass ich sonst hier sitzen würde.«
Erstaunt sah sie ihn an. »Richtig«, gab sie zu. »Aber ich konnte dich nicht blutend auf der Straße stehen lassen.« Ihr Blick wanderte über sein Gesicht auf sein blutiges T-Shirt und weiter nach unten. Da fasste sich Rick ein Herz und küsste sie.
Mit geschlossenen Augen lag Rick unter dem kühlen Laken und spürte dem Glücksgefühl nach, das ihn beherrschte. Er konnte nicht mehr sagen, wann und wieso sie beide plötzlich im Bett gelandet waren. Kim döste in seinen Armen. Sein erstes Mal. Ihres natürlich nicht. Er hatte gezögert, war sich nicht sicher gewesen, was er tun sollte, doch sie hatte ihn ohne viele Worte geleitet und ihm die wunderbarste Erfahrung seines Lebens beschert.
»Was heißt ›ich liebe dich‹ auf Holländisch?«, fragte er träge.
»Ik hou van jou«, murmelte sie an seiner Schulter. »Warst du schon mal verliebt?«, wollte sie wissen.
»Nicht wirklich. Ich war glühend verknallt in eine Klassenkameradin, doch dann kamen die Sommerferien und danach war es bereits wieder vorbei.« Er grinste schief. »Aber ich könnte mich in dich verlieben.«
»Das hat keinen Sinn. Du wohnst viel zu weit weg. Ich hätte mich gar nicht darauf einlassen dürfen. Das kommt davon, wenn ich sentimental werde.«
»Wieso sentimental?«
»Mein Vater hieß auch Hendrik. Ich werde immer traurig, wenn ich den Namen höre.«
»Ist er tot?« Rick biss sich auf die Lippe.
»Ja. Meine Eltern starben bei einem Brand, als ich acht Jahre alt war.«
»Nein! Wie furchtbar.«
»Es war eine schlimme Zeit«, bekannte Kim. »Ich bin bei meiner Tante und meinem Onkel aufgewachsen, weil sie meine einzigen noch lebenden Verwandten hier sind. Sie waren ganz okay, konnten aber mit Kindern im Allgemeinen und mir im Besonderen nicht viel anfangen. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mal mit mir gespielt hätten. Ich bekam Bücher und Spielzeug, sollte mich aber allein beschäftigen und Freunde einzuladen war nicht erlaubt.«
»Dann hattest du eine sehr einsame Kindheit.« Rick schluckte einen Kloß hinunter, der seine Stimme erstickt klingen ließ.
»Nein, es war nicht besonders schön. Vor allem, weil ich meine Eltern furchtbar vermisste. Sie wollten mit mir nach Neuseeland auswandern, ein völlig neues Leben beginnen, doch daraus wurde nichts mehr. Ich konnte lange Zeit gar nicht glauben, dass meine Tante die Schwester meiner Mutter ist. Meine Ma war immer so herzlich und Tante Gerarda eher kühl. Umarmungen gab es nicht und gerade am Anfang hätte ich das so dringend gebraucht.« Kims Augen füllten sich mit Tränen, die sie energisch fortwischte. »Mein Onkel Karl ist Deutscher. Weil sich meine Tante weigerte, Deutsch zu lernen, hat er meistens mit mir in seiner Muttersprache geredet. Er sagte, es fühlt sich an wie ein Stück Heimat.«
»Ich habe mich schon gefragt, woher du so gut Deutsch kannst. Es ist fast fehlerfrei.«
»Ich hatte Spaß daran. Es waren die einzigen Momente, wo ich zu meinem Onkel so etwas wie eine Verbindung aufbauen konnte. Inzwischen studiere ich Deutsch und Englisch, um Lehrerin zu werden. So lange verdiene ich mein Geld in der Bar. Und in drei Monaten, wenn ich einundzwanzig bin, dann …« Kim verstummte.
»Was ist dann?«
»Ach nichts. Lass uns von was anderem reden. Musst du nicht bald zurück?«
Rick warf einen Blick auf seine Uhr. Kurz nach drei Uhr nachts. »Ja, schon, aber im Moment vermisst mich niemand. Hoffe ich.«
Kim kicherte und kuschelte sich an ihn. »Magst du das Gelernte noch vertiefen?«, fragte sie keck.
Er grinste breit. »Wir können es ja versuchen.«
Es war fast halb fünf, als Rick sich endlich von Kim löste, um sich auf den Weg zum Hostel zu machen. »Sehen wir uns morgen?«, fragte er.
»Ich habe keine Zeit«, bedauerte sie. »Ich besuche alte Freunde. Aber übermorgen bin ich ab Mittag wieder hier.«
»Übermorgen fahren wir gleich in der Früh nach Hause«, seufzte Rick enttäuscht.
»Dann soll es vielleicht so sein. Möglicherweise ist es gut, wenn wir uns nicht mehr sehen. Sonst wird der Abschied nur noch schwerer.«
Es passte ihm gar nicht, dass diese wunderbare Nacht mit Kim die Einzige bleiben sollte. »Gibst du mir deine Telefonnummer?«
Sie schüttelte den Kopf. »Auslandsgespräche sind teuer. Das kann ich mir nicht leisten.«
Rick nickte verständnisvoll. Wenn sie genug Geld hätte, würde sie vermutlich nicht in einer Bar arbeiten. Und sein Taschengeld war auch nicht so üppig. Außerdem würden seine Eltern ihm was husten, wenn er ständig seine Freundin in den Niederlanden anrufen wollte. Aber es durfte nicht einfach so vorbei sein. »Dann wenigstens deine Adresse«, insistierte er. »Bitte.«
Kim ließ sich erweichen und reichte ihm einen Notizzettel. Als Rick einen Blick darauf warf, grinste er. »Kim Vermeer. Echt jetzt?«
»Ja, echt. Und um deine nächste Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht mit dem Maler verwandt. Es ist ein ganz normaler niederländischer Nachname und er hatte kein Monopol darauf. Wobei ich meine Ahnentafel nicht kenne, also wer weiß.« Sie zuckte mit den Schultern. »Vincent sagte immer, wenn wir heiraten, nimmt er meinen Namen an. Vincent Vermeer. Der Vorname des einen Malers und der Nachname des anderen. Er fand das einen großartigen Witz. Dabei war er da schon längst verheiratet.« Sie schnaubte laut, doch dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihn zu küssen. »Es war schön mit dir, Rick. Ich danke dir. Viel Glück für deine Zukunft.«
Er hielt sie fest umschlungen und vertiefte den Kuss. Eine kleine Ewigkeit lang standen sie so da, bis sie sich voneinander lösten und Kim ihn zur Tür brachte.
Obwohl seine Nase nach wie vor schmerzte und sein Kiefer sich anfühlte, als wäre er ausgerenkt, war Rick in Hochstimmung, als er durch die Gassen Amsterdams lief. Es war noch ruhig, nur vereinzelt waren Personen unterwegs. Er machte bereits Pläne. Es dauerte nicht mehr lang bis zu den Sommerferien. Er könnte mit dem Zug hierherkommen, vielleicht für einige Tage oder erstmal nur übers Wochenende. Im nächsten Schuljahr musste er sich aufs Abi konzentrieren, aber auch da hatte er Ferien. Und anschließend kam sein Studium. Er hatte keine Ahnung, wann und wie lange die Semesterferien in den Niederlanden waren, doch möglicherweise überschnitten sie sich mit seinen. Dann konnte Kim auch zu ihm nach Deutschland kommen. Sein Herz begann zu jubeln, als er daran dachte. Und fiel ihm kurz darauf mit einem harten Plumps in die Hose, als er feststellte, dass die Hintertür zum Hostel abgeschlossen war.
So ein Mist. Leise rüttelte Rick an der Tür, im Fall, dass sie sich nur verklemmt hatte. Aber sie rührte sich keinen Zentimeter. Und jetzt? Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Natürlich konnte er am Haupteingang läuten. Doch das würde bedeuten, dass seine Lehrer von seinem kleinen Ausflug erfuhren. Wie sollte er erklären, warum er um diese Zeit draußen war? »Tut mir leid, Herr Wenger, ich war bei einem Schäferstündchen mit meiner neuen Freundin, die ich hier in der Bar kennengelernt habe.« Rick verzog das Gesicht. Keine so gute Idee. Das würde Ärger geben, vor allem, weil er bereits unangenehm aufgefallen war. Da half ihm seine ganze Volljährigkeit nichts.
Er schlich um das Haus herum. Er konnte natürlich warten, bis die Vordertür geöffnet wurde. Irgendwann musste doch fürs Frühstück eingekauft werden. Dann konnte er unbemerkt hineinschlüpfen. Aber wann würde das sein? Die Gefahr, seinen Lehrern zu begegnen, wuchs mit zunehmender Helligkeit.
Ricks Blick fiel auf den knorrigen Ahorn vor dem Gebäude. Wäre das eine Möglichkeit? Am Anfang war es schwierig, doch dann wuchsen die Äste ziemlich dicht. Er sammelte einige kleine Kieselsteine vom Weg und schob sie in die Tasche. Mit angehaltenem Atem nahm er Anlauf, sprang ab, erwischte den untersten Ast und zog sich mit einem Klimmzug hinauf. Der Rest war ein Kinderspiel. Kurz darauf hockte er auf einem ausladenden Ast und warf die Steinchen nacheinander ans Fenster ihres Zimmers.
Es rührte sich nichts. Erst, als sein Vorrat an Kieseln beinahe aufgebraucht war, erschien Daniels verdutztes Gesicht hinter der Scheibe. »Was machst du denn da?«, fragte er konsterniert, als er das Fenster öffnete.
»Kannst du die Hintertür aufmachen?«
»Die Hintertür?« Daniel zögerte. »Ich weiß nicht …«
Neben ihm tauchte Joe auf und schob ihn zur Seite. »Lass mal, ich kümmere mich.« Er nickte Rick zu und deutete mit dem Daumen hinter seine Schulter.
Erleichtert machte sich Rick an den Abstieg. Als er zur Hintertür kam, wartete Joe schon auf ihn. »Ich will ja gar nicht wissen, wo du warst«, murmelte sein Freund. Dann zog er die Augenbrauen hoch. »Meine Güte, was hast du denn angestellt?«
»Du wolltest es doch nicht wissen.«
»Ich nicht, aber ich bin gespannt, wie du dein Gesicht vor dem Wenger und der Suhrbier verstecken willst. Dürfte schwierig werden.«
Rick zuckte mit den Schultern. »Das ist ein Problem für nachher. Jetzt geh ich schlafen.«
Demonstrativ sah Joe auf seine Uhr und trat zur Seite. »Na, dann los, du kriegst vielleicht gerade noch zwei Stunden.«





























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