Kapitel 6
6
München, Oktober 2007
Ricks Kopf dröhnte im Takt des Vorschlaghammers, der ihn bearbeitete. Stöhnend wälzte er sich auf die Seite, weigerte sich jedoch, die Augen zu öffnen. Warum tat er sich das immer wieder an? Der Kater in seinem in billigem Obstler eingeweichten Hirn spielte Fangen mit seiner kompletten Familie. Ein säuerlicher Geruch stieß ihm auf. Wann hörte das Dröhnen endlich auf? Wumm, wumm, wumm, immer wieder, es war unerträglich. Es dauerte ganze drei Minuten, bis ihm auffiel, dass der Lärm nicht aus seinem Kopf kam, sondern von draußen. Da erinnerte er sich an die Straßenbaustelle direkt vor dem Haus. Er stöhnte noch einmal, lauter, um den Baulärm zu übertönen, und setzte sich auf. Träge blinzelte er ins Sonnenlicht, das großzügig durch die Scheibe hereinschien. Warum hatte denn niemand die verdammten Vorhänge zugezogen? Er sah sich um. Er war allein. Wo waren die anderen? Nur etwa zwei Dutzend leere und angebrochene Bier- und Schnapsflaschen neben Pizzakartons zeugten von der ausufernden Party letzte Nacht. In der Ecke lag ein angerauchter Joint. Wenn er das Zeug vertragen würde, könnte er sich den Rest reinziehen. Aber die Erinnerung an seinen ersten und letzten Joint stand ihm noch deutlich vor Augen. Vor den feixenden Gesichtern seiner Freunde hatte er sich bereits nach dem zweiten Zug die Seele aus dem Leib gekotzt. Der Gedanke daran ließ ihn noch stets erröten. Niemand hatte seine gestotterte Erklärung geglaubt, dass er sich den Magen verdorben hatte und der Dreck nun endlich herauskam. Wann immer daraufhin ein Joint unter seinen Kumpels kreiste, hatten sie ihm Kaugummizigaretten angeboten. Nein, sie waren nicht gewillt gewesen, ihn diese Schmach vergessen zu lassen. Apropos herausgekotzt. Er sah nun auch, woher dieser säuerliche Geruch stammte. Anscheinend hatte sich jemand in den Papierkorb übergeben, ihn allerdings nicht genau getroffen. Er rümpfte die Nase. Hoffentlich war nicht er das gewesen. Er hatte einen totalen Filmriss. Er hatte mit einem Erstsemester Philosophie geflirtet, das Joe angeschleppt hatte, aber irgendwann war sie ihm zu esoterisch geworden. Und dann? Sein Fuß stieß gegen eine leere Flasche und ließ sie durch den Raum kullern. Mit einem Seufzer stützte er den Kopf in die Hände. Er sollte es aufhören, langsam wurde er zu alt für diese Saufpartys. Stöhnend rappelte er sich auf. Sein Schädel dröhnte immer noch im Takt des Vorschlaghammers, der den Asphalt bearbeitete. Mit zusammengekniffenen Augen zog er sein Handy aus der Hosentasche. Es hatte gestern ein paar Mal gebimmelt. Auch einige SMS waren gekommen, aber er hatte sie ignoriert. Wahrscheinlich war es sowieso nur seine Mutter, die ihn bat, endlich wieder einmal zum Sonntagsessen zu kommen. Nach dem Motto »du bist doch jetzt ständig erreichbar« konnte sie ziemlich hartnäckig sein, wenn er nicht auf ihre Anrufe und Nachrichten reagierte. Er seufzte, als er auf das Display sah. Akku leer. Mist. So sehr er es genoss, ein Handy zu haben, vergaß er immer, es aufzuladen. Er zuckte mit den Schultern. Ein guter Grund, seiner Mutter nicht antworten zu können. Oder war es vielleicht Renate gewesen? Nein, sie hatte es schon längst aufgegeben, ihn erreichen zu wollen. Und wenn sie es doch war? Missmutig starrte Rick auf das leere Handy. Er musste hier raus. Auf dem Tisch lag ein Zettel. „Hey Alter, zieh einfach die Tür hinter dir zu, wenn du gehst. Und räum vorher noch ein bisschen auf, ja?“ Er sah sich um. Aufräumen? Echt jetzt? Joe hatte vielleicht komische Ideen. Kopfschüttelnd nahm er seine Jacke, die unter der Garderobe auf dem Boden lag und wankte aus der Tür.
Er blinzelte. Trotz des warmen Oktobermorgens war ihm kalt. Ein Dunstschleier hing über München, der alles in ein diffuses Licht tauchte. Oder war es nur der Restalkohol, der einen Film über seine Augen legte? Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Nasenwurzel und beeilte sich, dem Straßenlärm zu entfliehen.
In der S-Bahn-Station war es aber nicht viel besser. Das Getrappel von bestimmt tausend Füßen, laute Stimmen und das schrille Quietschen des einfahrenden Zuges verlangte ihm einiges ab. Er war definitiv zu alt, um die ganze Nacht durchzufeiern. Er verzog das Gesicht. Siebenundzwanzig und immer noch Student. Joe war schon lange fertig mit seinem Maschinenbaustudium und hatte einen guten Job ergattert. Wie sein Freund geregelte Arbeitszeiten mit nächtlichen Partys vereinbaren konnte, war Rick ein absolutes Rätsel. Aber vielleicht sollte er weniger Zeit bei Joe abhängen und sich wieder mehr in sein BWL-Studium stürzen. Beim sonntäglichen Mittagessen bei seinen Eltern war sein Vater vor vier Wochen überaus deutlich geworden. Wenn Rick nicht bald Erfolge vorzuweisen hatte, würde er ihm das Taschengeld streichen. Taschengeld, das hörte sich an, als wäre er noch ein Teenager. Aber es war unbestritten, dass seine Eltern ihm die Wohnung in München und die Lebenshaltungskosten finanzierten. Es hatte einen heftigen Streit gegeben, obwohl Rick seinen Vater prinzipiell verstehen konnte. Den Bachelor hatte er geschafft, aber jetzt stand der Master an und seltsamerweise hing dieser wie ein großes Schreckgespenst über seinem Kopf. Er war dem Stress nicht gewachsen und hatte tierische Angst zu versagen. Seine Mutter hatte vermittelnd gemeint, dass er auch mit dem Bachelor sehr gute Jobaussichten hätte, aber davon wollte sein Vater nichts hören. Man strich nicht vor der Ziellinie die Segel, das war nicht akzeptabel, und der Herr Sohn müsse sich nur auf den Hintern setzen, anstatt sich vom Geld der Eltern ein schönes Leben zu machen. Seitdem war Rick nicht mehr dort gewesen und hatte das Sonntagsessen mit faden Ausreden geschwänzt. Aber so ging es nicht weiter. Er wusste es ja selbst.
Das Dröhnen in seinem Kopf hatte etwas nachgelassen, als er die Haustür in Münchens Stadtteil Pasing öffnete. Hoffentlich lag die alte Schramm nicht wieder auf der Lauer. Rick wusste, dass er dankbar sein musste, dass er die obere Wohnung in dem Zweifamilienhaus überhaupt bekommen hatte. Ohne die Fürsprache seiner Tante, die mit Frau Schramm bekannt war, hätte es nie im Leben geklappt, aber er fühlte sich von der alten Schachtel beobachtet. Ständig maßregelte sie ihn und hatte etwas an ihm auszusetzen. Als ob sie ein Recht dazu hätte. Dass sie seine Vermieterin war, gab ihr noch lange nicht die Erlaubnis, ihn zu bespitzeln.
Natürlich lugte sie aus ihrer Wohnungstür, als er in den Flur trat. »Also so geht das wirklich nicht, Herr Deisser«, tadelte sie. »Wie Sie wieder aussehen, gerade so, als hätten Sie die ganze Nacht durchgemacht.« Sie schnaubte herablassend. »Vermutlich haben Sie das auch. Na ja, geht mich ja nichts an. Aber wenn Sie sich schon Besuch bestellen, dann sollten Sie zu Hause sein.«
»Besuch? Was für ein Besuch?« Rick war irritiert.
»Die junge Dame und ihre Tochter. Sie haben mir leidgetan, wie sie die halbe Nacht auf der Treppe vor Ihrer Tür saßen. Das arme Kind. Es war so müde und hat geweint. Da habe ich die beiden in Ihre Wohnung gelassen.«
Frau Schramm drehte sich um und verschwand durch ihre Tür. Rick blieb verblüfft zurück und starrte ihr nach. Eine junge Dame und ihre Tochter? Wovon faselte die Alte? War es Renate? Die hatte definitiv kein Kind. Vielleicht seine Schwägerin Ulrike mit Leonie. Aber aus welchem Grund? Wenn sie Zoff mit seinem Bruder Bernd hatte, würde sie zu ihren Eltern gehen und nicht zu ihm. Wer zum Teufel war in seiner Wohnung? Einen Moment lang überlegte er, ob er kehrtmachen sollte. Und was dann? Zur Uni? In der Verfassung war er nicht, außerdem müsste er zuerst seine Sachen holen. Wieder zu Joe? Was sollte er dort? Aufräumen? Nein, danke. Rick holte tief Luft und stapfte die Treppe hoch. Er würde es ja gleich wissen.
Die Tür war nicht verschlossen. Als er ins Wohnzimmer trat, fiel sein Blick auf ein schlafendes Mädchen auf seiner alten Couch. Es war mit der großen blauen Decke zugedeckt, die seine Oma ihm gehäkelt hatte. Es war vielleicht sieben oder acht Jahre alt und außer den langen blonden Haaren war nicht viel von ihr zu erkennen, aber Leonie war es definitiv nicht.
»Hallo Rick.«
Er wirbelte herum. Im Türrahmen stand, eine Kaffeetasse in der Hand, Kim.
Er schnappte nach Luft und starrte sie einfach nur an. »Kim«, brachte er schließlich heraus. »Was tust du denn hier?«
Sie deutete auf das schlafende Mädchen und winkte ihn hinaus. In der Küche stellte sie ihre Tasse auf die Anrichte. »Ich habe dich gestern zig Mal angerufen und dir Nachrichten geschrieben. Wenn du reagiert hättest, wüsstest du, was ich hier mache.« Ein milder Vorwurf schwang in ihrer Stimme mit, aber hauptsächlich war es Angst und Sorge. Was war passiert?
Endlich hatte Rick sich wieder gefasst. Und plötzlich freute er sich. Trotz seiner hochfliegenden Pläne hatte es nie mit einem Treffen geklappt. Doch jetzt stand sie leibhaftig vor ihm. Sie war älter geworden, natürlich, aber auch ihre Ausstrahlung hatte sich verändert. Die Melancholie, die sie damals schon hinter einem Lächeln versteckt hatte, hatte sich verstärkt. Viel zu dünn war sie und die Haare trug sie jetzt kurz. Es stand ihr gut, obwohl es ihm vorher besser gefallen hatte.
»Ich freue mich, dass du da bist.« Er trat auf sie zu und umarmte sie. Kim lehnte den Kopf an seine Schulter und seufzte. Er merkte direkt, wie sie sich fallen ließ und ein Teil der Anspannung von ihr abfiel. Hatte sie befürchtet, er würde sie hochkant wieder hinauswerfen?
»Es tut mir leid, dass ich dich so überfalle, Rick.«
»Macht nichts. Es ist eine Überraschung, aber eine schöne.« Sein Blick irrte zu der geschlossenen Wohnzimmertür. »Wer ist das Mädchen?«, fragte er.
»Sie heißt Marijke und ist meine Tochter.«
»Deine Tochter?«, rief Rick erstaunt aus. Obwohl es naheliegend war, war er nicht auf die Idee gekommen, Kim könnte bereits Mutter sein.
»Ja.« Sie sah ihm ins Gesicht. »Und deine.«
Rick konnte nicht mal einen Ton sagen. In seinem Hirn purzelten die Gedanken so wild durcheinander, dass er keinen fassen konnte. Seine Tochter? Das war unmöglich. Wie hätte das denn passieren können? Na, wie wohl, höhnte eine Stimme in seinem Kopf. Er hatte damals überhaupt nicht an Verhütung gedacht, war automatisch davon ausgegangen, dass Kim die Pille nahm. Wieso hatte sie ihm nie erzählt, dass sie schwanger geworden war? Warum kam sie jetzt? Was wollte sie? Unterhalt? Da würde sie sich an ihm die Zähne ausbeißen. Und dann erschlug ihn ein Gedanke mit voller Wucht. Er hatte ein Kind. Was sollte er mit einem Kind? Er fühlte sich selbst kaum erwachsen. Er konnte kein Kind brauchen. Am liebsten hätte er Kim und ihren Nachwuchs vor die Tür gesetzt, um sich nicht mit dem Thema befassen zu müssen. Oder wäre selbst davongelaufen. Seinetwegen sogar zu Joe, um aufzuräumen. Alles, nur weg hier. Doch er stand da wie angewurzelt und starrte Kim entsetzt ins Gesicht.
»Ich weiß, dass das etwas plötzlich kommt«, sagte sie leise. »Ich wollte dich nicht damit belasten. Es war nur ein Flirt, eine einzige schöne Nacht, und ich wollte dir diese Verantwortung nicht aufbürden.«
»Warum tust du es dann jetzt?«, fragte er heiser und konnte nicht verhindern, dass sein Ton anklagend und unfreundlich klang.
Kim zuckte zusammen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie schluckte.
Rick atmete tief durch. »Jetzt setz dich erst mal.« Er führte sie zum Tisch und rückte einen der Secondhand-Stühle für sie zurecht. »Ich mach dir frischen Kaffee, deiner wird inzwischen kalt sein.« Er wies auf den Becher, der einsam auf der Anrichte stand.
»Nein.« Kim griff nach seiner Hand und zog ihn auf den Stuhl neben sich. »Wir müssen reden.« Sie schluckte wieder und wischte sich über die Augen. »Glaub mir, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte, wäre ich nicht gekommen. Du bist mein letzter Ausweg.«
»Brauchst du Geld? Ich fürchte, da kann ich dir wirklich nicht helfen.«
»Nein, das ist es nicht.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich muss für ein halbes Jahr nach Amerika und kann Ricky nicht mitnehmen.«
»Du nennst sie Ricky?« Er lächelte, doch dann verschwand das Lächeln schlagartig. »Was meinst du damit, du kannst sie nicht mitnehmen?«, fragte er alarmiert.
»Ich muss sie bei dir lassen. Bitte Rick, du bist ihr Vater, du musst für sie sorgen, bis ich wiederkomme.«
Mit offenem Mund starrte er sie an. Das hatte sie nicht gesagt. Kim hatte nicht gerade von ihm verlangt, sich ein halbes Jahr lang um ein Kind zu kümmern. Von der finanziellen Seite abgesehen, wie sollte er das denn anstellen? Er verstand nichts von Kindern, absolut nichts. Und er kannte das Mädchen ja nicht einmal. Der Gedanke an sich war schon völlig absurd. »Bist du komplett irre?«, stammelte er.
»Ich bezahle dich natürlich dafür. Du wirst ja Ausgaben haben, weil wir kaum etwas mitnehmen konnten. Wenn du mir deine Bankverbindung gibst, lasse ich dir heute noch Geld überweisen. Falls es nicht reicht, kann ich jederzeit aufstocken. Wir können auch ständig in Kontakt sein. Ich meine, …« Kim verstummte, als sie in seine fassungslose Miene blickte. Wieder liefen Tränen über ihre Wangen. »Bitte, Rick«, flüsterte sie. »Ich bin verzweifelt, ich weiß mir sonst keinen Rat mehr.«
»Was tust du denn in Amerika? Hast du da einen Job? Da kannst du sie doch bestimmt mitnehmen.«
Stumm schüttelte Kim den Kopf.
»Dann lass ihn sausen. Was kann so wichtig sein, dass du dafür dein Kind bei einem Fremden lässt?«
»Du bist kein Fremder, Rick. Du bist ihr Vater. Ich habe Vertrauen zu dir. Und glaub mir, wenn ich sage, dass mein Aufenthalt dort immens wichtig ist. Auch für Ricky.«
»Hast du denn daheim niemand, der sich um sie kümmert?«
Kim seufzte schwer. »Ich habe sehr liebe Freunde, die mir schon viel geholfen haben. Sie wollten Ricky nehmen. Es wäre die beste Lösung gewesen, sie liebt die beiden von Herzen. Aber gestern ist Antje die Treppe hinuntergefallen und hat sich das Becken gebrochen. Sie liegt jetzt erst mal im Krankenhaus. Und ihr Mann Maarten ist allein überfordert. Er könnte sich ein paar Tage um Ricky kümmern, aber nicht für längere Zeit. Vor allem, weil auch Antje viel Pflege brauchen wird, bis sie wieder vollständig auf dem Damm ist. Ihre Tochter Aukje, meine beste Freundin, ist Journalistin und gerade irgendwo in Asien für eine Reportage. Andernfalls wäre sie bestimmt bereit gewesen, für eine Weile auszuhelfen. Sonst habe ich nur noch meine Tante und Onkel, bei denen ich selbst aufgewachsen bin. Aber dort will ich Ricky nicht lassen. Vor allem würden sie sie auch nicht nehmen, da brauche ich gar nicht erst nachzufragen.« Kim biss sich auf die Lippe. »Auf die Schnelle bist nur du mir eingefallen. Ich weiß, es war ein immenses Risiko. Wenn du mich jetzt abblitzen lässt, habe ich keine Ahnung, was ich tun soll. Ich habe zig Mal versucht, dich anzurufen, dann habe ich einfach auf gut Glück meinen Flug umgebucht, um einen Zwischenstopp in München einzulegen, und hier sind wir. Bitte, Rick, lass mich nicht hängen. Bitte.« Ihre Stimme war jetzt flehend.
Er schluckte. Es ging nicht. Es ging einfach nicht. Er hatte weder die Qualifikation noch die Zeit oder die Lust, für ein Kind zu sorgen. »Wann geht dein Flug?«
Kim sah auf die Uhr. »In vier Stunden.«
»Was?« Entsetzt sprang er auf.
Sie barg ihr Gesicht in den Händen. »Es tut mir leid. Glaub mir, ich wünschte mir auch, es wäre nicht so weit gekommen.«
»Ma?«, kam eine dünne Stimme von nebenan, die jedoch schnell an Kraft und Lautstärke zunahm. »Ma? Waar ben jij?«
»Ik ben hier, schat.« Kim wischte sich über die Augen und lief ins Wohnzimmer. Rick folgte ihr langsam.
Sie umarmte ihre Tochter und drückte sie fest an sich, während sie beruhigende Worte murmelte.
Er musterte das Mädchen. Sie war blond wie Kim und hatte große blaue Augen. Als sie seinen Blick trafen, schien die Zeit für einen Moment stillzustehen. Rick krümmte sich innerlich, als er Angst in ihnen erkannte. Marijke begann zu weinen.
»Laat mij niet hier, Ma«, heulte sie. »Ik ben bang voor die man!«
Rick zog sich zurück, sein Innerstes war zutiefst erschüttert. Er brauchte kein Wörterbuch, um das Kind zu verstehen. Wie musste es sich fühlen, in einem fremden Land, bei einem vollkommen fremden Mann, vor dem es sich fürchtete, und bei dem es bleiben sollte. Es ging nicht. Es war einfach unmöglich, was Kim da von ihm verlangte.
Er stolperte ins Bad und schaufelte sich einige Hände voll Wasser ins Gesicht. Als sein Blick in den Spiegel fiel, wunderte er sich nicht mehr, wieso das Mädchen sich vor ihm ängstigte. Wann hatte er sich zuletzt rasiert? Er sah aus wie Rübezahl. Nein, so schlimm war es nicht, revidierte er seine Meinung, aber er wirkte ungepflegt. Wann war es so weit mit ihm gekommen? Zuerst griff er nach seiner Zahnbürste. Ob der schale Geschmack in seinem Mund von dem nächtlichen Gelage herrührte oder von Kims Ansinnen, wusste er nicht. Im letzteren Fall würde etwas Zahnpasta ihn auch nicht wegwischen können, aber er schämte sich für seine Erscheinung. Was musste Kim von ihm denken? Er würde sich Zeit für eine schnelle Dusche nehmen und sich rasieren. Dann war das Kind vielleicht nicht mehr ganz so »bang« vor ihm.
Das Kind. Er hielt kurz inne. Sie hatte einen Namen. Sie war seine Tochter. Er hatte eine Tochter. Er stellte sich das Gesicht seiner Eltern vor, wenn er ihnen diese Neuigkeit erzählte, und schnitt seinem Spiegelbild eine Grimasse.
Nach einer Turbo-Dusche fühlte er sich zumindest körperlich erfrischt und der Mann im Spiegel sah ihm wieder etwas normaler entgegen. Jetzt musste er nur noch eine Lösung finden, die auch für Kim annehmbar war.
Es klopfte an der Wohnungstür. Rick fuhr schnell in seine Jeans und öffnete mit nacktem Oberkörper. Es konnte ja niemand anderes sein als einer seiner Kumpel oder Renate. Obwohl sie unten an der Tür hätten läuten müssen, damit er sie hereinließ. Doch dieser Gedanke kam ihm zu spät. Seine Kinnlade fiel herunter, als er Frau Schramm gegenüberstand, die ihn missbilligend musterte. Wasser tropfte aus seinen nassen Haaren über seinen Oberkörper, was er vielleicht sogar als sexy angesehen hätte, doch der Blick der alten Matrone brachte jeden Ansatz eines solchen Gedankens zum Verstummen. »Frau Schramm?«, stotterte er. Wie konnte man sich bei nur zwei Silben auch noch verhaspeln?
Sie schüttelte leicht den Kopf. »Ich weiß nicht, was hier los ist, aber Sie sind bestimmt nicht in der Lage, Ihrem Besuch etwas Vernünftiges zu Essen anzubieten. Vor allem das Kind braucht etwas Nahrhaftes.« Sie drückte ihm eine große Schüssel in die Hand. »Schinkennudeln. Sie brauchen sie nur aufzuwärmen.« Damit ließ sie ihn stehen.
Ratlos drehte Rick sich um. Hinter ihm stand Kim und hatte den Arm um die Schultern ihrer Tochter gelegt. Der Blick, den sie über ihn gleiten ließ, gefiel ihm deutlich besser als der von Frau Schramm. »Habt ihr Hunger?«, murmelte er.
Sie nickte und nahm ihm die Schüssel aus der Hand. »Ich kümmere mich darum. Deine Nachbarin ist sehr nett.«
»Die Schramm?« Rick lachte spöttisch. »Die ist alles andere als nett.«
»Zu uns war sie es auf jeden Fall«, widersprach Kim.
Er beschloss, ihre Aussage nicht weiter zu kommentieren, und ging vor Marijke in die Knie. »Hallo Ricky.«
Sie wich zurück. »Noem mij niet zo. Alleen Ma noemt mij Ricky.«
Seufzend stand Rick auf. Der nächste Annäherungsversuch, der komplett in die Hose gegangen war. Und wer sagte denn, dass er kein Holländisch konnte? Bisher hatte er alles verstanden, was sie gesagt hatte.
Kim trat wieder zu ihm. »Nimm es ihr nicht übel. Es ist ein Kosename zwischen uns beiden.«
»Das verstehe ich.« Seufzend fuhr er sich durch die Haare. »Wenn sie mir erlaubt, sie Ricky zu nennen, lässt sie mich in ihr Leben rein. Und das will sie mit aller Macht vermeiden.«
Kim riss die Augen auf. »Sag mal, woher kam das denn?«
»Du glaubst wohl, meine Eltern haben mich aus einem Holzklotz geschnitzt?«
»Nein, ich weiß, dass du eine sehr einfühlsame Seite hast.« Sie kam auf ihn zu, streichelte seine Brust und küsste ihn. Rick fühlte sich zurückversetzt zu seiner Studienfahrt nach Amsterdam und tatsächlich regten sich einige Schmetterlinge in seinem Bauch. Aber das ging schon mal gar nicht. »Tust du das, um Marijke zu zeigen, dass sie keine Angst vor mir zu haben braucht, oder um mich zu überreden, mich als Vater zu beweisen?«, murmelte er an ihrem Mund.
»Beides.« Mit einem traurigen Lächeln löste sich Kim von ihm. »Glaub mir, mir ist diese Entscheidung nicht leicht gefallen. Ich musste so überstürzt handeln.«
»Was, wenn die Mutter deiner Freundin sich das Becken nicht gestern gebrochen hätte, sondern erst morgen oder übermorgen?«
»Ich hätte zurückkommen müssen. Aber dann wäre alles aus gewesen.«
»Alles aus? Was meinst du?«
Sie sah zu Boden.
»Ich kann sie nicht nehmen, Kim. Wie stellst du dir das vor? Ich habe überhaupt keinen Platz für sie.«
»Du hast doch das kleine Nebenzimmer. Für die Zeit wird es reichen.«
Rick erinnerte sich an die Bilder, die er Kim bei seinem Einzug hier per E-Mail geschickt hatte. Wie war er stolz auf seine erste eigene Wohnung gewesen. Inzwischen sah das Zimmerchen nicht mehr so aufgeräumt aus, sondern diente ihm als Abstellkammer.
»Wie soll ich für ein Kind sorgen? Das geht nicht, dafür bin ich nicht geschaffen. Und ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wie du das überhaupt in Betracht ziehen kannst. Du kennst mich doch gar nicht wirklich.«
Kim warf einen Blick durch die offene Tür auf die Couch, auf die sich ihre Tochter inzwischen zurückgezogen hatte und einen Plüschhasen an sich drückte. »Du hast mir in deinen Briefen und Nachrichten sehr viel anvertraut. Und ich kann gut zwischen den Zeilen lesen. Ich bilde mir durchaus ein, dich zu kennen. Du bist verantwortungsbewusst und ein guter Kerl.«
»Da würde dir die Schramm bei beidem widersprechen.«
Sie lächelte traurig. »Und du bist ihr Vater. Das muss doch für etwas zählen.«
Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie wäre es mit einem Kinderheim? Da wäre sie bestimmt besser aufgehoben als bei mir.«
Empört trat Kim einen Schritt zurück. »Rick Deisser, das hast du jetzt nicht im Ernst gesagt, oder? Ich schiebe meine Tochter nicht in ein Kinderheim ab.«
»Aber du schiebst sie zu mir ab, einem Mann, den sie überhaupt nicht kennt.«
»Das wird sich ändern. Ich weiß, dass du ein guter Vater bist. Du musst es nur versuchen.«
»Und wenn es nicht klappt? Wir verstehen uns ja nicht mal. Und das im wahrsten Sinne des Wortes.«
»Sie wird Deutsch lernen. Und du wolltest dir doch etwas Niederländisch aneignen. Das ist deine Gelegenheit.« Sie rief nach Marijke, die zögernd erschien. Kim sprach mit ihr, dann streckte das Mädchen Rick schüchtern die Hand entgegen.
»Hoi«, sagte sie nur.
Er ging in die Knie. Hoi war das niederländische Wort für Hallo. »Hoi Marijke. Ich freue mich, dass du hier bist.«
Sie sah fragend zu ihrer Mutter hoch, die für sie übersetzte und das allerkleinste aller Lächeln erschien auf dem Gesicht des Kindes.
Kim sah in den Ofen. »Die Nudeln sind gleich fertig. Wo hast du Geschirr?«
»Ich decke den Tisch.« Rick erhob sich eilig. Marijkes Blick war nicht mehr ganz so angstvoll, aber sie fühlte sich eindeutig unbehaglich und wünschte sich definitiv kilometerweit fort.
Die Schinkennudeln schmeckten ausgezeichnet. »Das ist ein anderes Problem«, wagte Rick einen neuen Vorstoß. »Was soll sie denn essen? Meine Kochkünste beschränken sich auf Rührei und Pfannkuchen.«
»Du kannst Pfannkuchen machen?«
»Ja, eine Inselbegabung. Hat meine Oma mir beigebracht.«
»Dann bist du schon auf der sicheren Seite. Pfannkuchen kann Ricky jeden Tag essen.«
»Aber nicht für ein halbes Jahr. Das wird etwas einseitig.«
»Ein Kochbuch wirkt da wahre Wunder. Und im Internet gibt es auch eine Menge Rezepte.« Kims Lächeln machte einem traurigen Ausdruck Platz. »Bitte Rick, willst du es nicht wenigstens versuchen? Zumindest für zwei oder drei Wochen. Wenn es gar nicht funktioniert, komme ich zurück.«
»Ich dachte, das wäre so eine Katastrophe.«
»Wäre es auch. Ich mache es hauptsächlich für meine Tochter, aber wenn es wirklich nicht anders geht, komme ich selbstverständlich zurück.«
Rick sah auf Marijke, die hungrig eine Gabel voller Nudeln nach der anderen in den Mund schaufelte. Sie war ein hübsches Mädchen. Der Gedanke, dass sie seine Tochter war, musste sich wohl erst noch setzen, er konnte damit keinerlei Gefühle verbinden, aber wäre es wirklich so furchtbar, sie bei sich zu haben? Sie war kein Kleinkind mehr, dem er ständig hinterherrennen musste. Und zur Not konnte er Kim zurückrufen. Zwei Wochen würde er schaffen.
Nein, sagte die Stimme in seinem Hinterkopf. Du wärst nicht mehr dein eigener Herr, könntest dein Leben nicht mehr so gestalten, wie du es gewöhnt bist. Keine Freiheit mehr, zu tun und zu lassen, was du willst, sondern ein geregelter Tagesablauf. Schluss mit Partys, dafür Malen und Basteln mit einem Kind. Ein Kind, das Erziehung und Halt brauchte. Er war sich sicher, in diesem Punkt kläglich zu versagen.
Kim sah ihn ängstlich an, unterbrach seinen inneren Disput aber nicht.
»Also gut«, nickte er schließlich, obwohl er wusste, dass er seine Worte spätestens morgen bitter bereuen würde. »Für zwei Wochen.«
Sie beugte sich zu ihm herüber und umarmte ihn. Marijke beobachtete sie misstrauisch, sagte aber nichts. Wie musste dem Mädchen zumute sein? Rick hatte tiefes Mitleid mit ihr. Da wurde sie abrupt aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen und in ein anderes Land verfrachtet, zu einem Mann, den sie nicht kannte und nicht verstand, um ein halbes Jahr bei ihm zu bleiben. Eigentlich müsste sie vor lauter Panik die ganze Zeit schreien.
»Ihre Dokumente sind in ihrem Koffer«, sagte Kim gerade. »Ihr Pass, ihre Geburtsurkunde, ihre Zeugnisse, ich weiß nicht, ob du die für die Schuleinschreibung brauchst.«
»Schule?«
»Ja natürlich, sie muss zur Schule gehen.«
»Da versteht sie doch nichts.«
»Das wird sich schnell ändern, sie ist sehr schlau.« Kim betrachtete ihre Tochter mit einem liebevollen Blick. »Wir können viel telefonieren. Jederzeit.«
»Das ist doch unglaublich teuer.«
»Wie gesagt, komme ich selbstverständlich für alle deine Unkosten auf. Und mehr.«
»Woher hast du so viel Geld? Hast du im Lotto gewonnen? Oder eine reiche Tante beerbt?«
Kims Lächeln wurde noch eine Spur trauriger. »So ähnlich. Auf jeden Fall brauchst du dir um Geld keine Sorgen zu machen.«
Das wäre zumindest ein positiver Aspekt. Trotzdem hatte er ein flaues Gefühl im Magen. Sein Leben würde sich von jetzt auf gleich vollkommen ändern und er konnte die Konsequenzen nicht absehen. Er würde Kim gern den Gefallen tun, denn es schien ihr wirklich wichtig zu sein, aber er sah sich komplett überfordert. Zwei Wochen, sagte er sich. Nur zwei Wochen, dann konnte er ihr sagen, dass es nicht funktionierte und sie bitten, ihre Tochter wieder abzuholen.






























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