Prolog

 

Prolog

’s-Hertogenbosch, Niederlande, 1986

»Ach Jolanda, lass das doch liegen«, rügte Antje ihre Freundin, als sie sah, dass diese schon wieder nach einem Stapel Rechnungen griff. »Das kann ich morgen machen. Du hast seit über einer Stunde Feierabend. Zum letzten Mal, möchte ich anmerken.«

Langsam zog Jolanda die Schultern hoch und lächelte verlegen. »Ich weiß auch nicht«, seufzte sie. »Ich habe mich so darauf gefreut und jetzt will ich nicht, dass es endet.«

Antje stand auf, kam um den Schreibtisch herum und legte der Kollegin die Hand auf die Schulter. »Kann ich gut verstehen. Du hast immerhin über zehn Jahre hier gearbeitet. Da hinten in der Ecke hat Kim gespielt. Du hast viel Zeit hier verbracht.«

Jolanda drehte sich unwillkürlich um und ein Lächeln spielte um ihre Lippen, als sie an ihre kleine Tochter dachte.

»Bereust du es, dass ihr die Firma verkauft habt?«, wollte Antje wissen.

»Nein, es war der richtige Schritt. Hendrik ist einfach nicht mit den Methoden seines Partners einverstanden. Die wären sich gegenseitig irgendwann an die Kehle gegangen.«

»Trotzdem fällt es schwer, die Firma hinter sich zu lassen, die sein Vater gegründet hat.«

»Natürlich. Mein Schwiegervater und auch Hendrik waren stolz darauf, Kleidung ohne chemische Zusätze herzustellen. Auf Dauer war die Produktion jedoch einfach zu teuer. Der neue Partner hat wieder Geld in die Firma gebracht, aber sie haben nicht damit gerechnet, dass er alles umkrempeln und möglichst billig produzieren will.« Jolanda seufzte erneut. »Hendrik hat irgendwie das Gefühl, versagt zu haben.«

»Das hat er ganz sicher nicht. Er war ein toller Chef. Vielleicht habt ihr ja auch einfach rechtzeitig den Absprung geschafft. So viele Unternehmen lassen inzwischen in Entwicklungsländern produzieren, wer weiß, wie lange sich die Textilindustrie hier überhaupt noch halten kann.« Antje packte ihre Sachen zusammen. »Ich würde dir ja gerne weiter Gesellschaft leisten, aber ich muss Schluss machen. Ich habe einen Zahnarzttermin.«

»Ja, geh nur, ich bleibe noch etwas«, grinste Jolanda und griff schon wieder nach den Rechnungen, als es kurz an der Tür klopfte. Ein großer blonder Mann streckte den Kopf herein.



»Dachte ich es mir doch, dass du kein Ende findest«, lachte er. »Es ist fast niemand mehr in der Firma. Und es ist dein letzter Tag. Überlass den Buchhaltungskram jemand anderem.«

»Mir zum Beispiel«, nickte Antje. »Oder auch gern einer der Kolleginnen.« Sie küsste den Mann dreimal wechselseitig auf die Wangen. »Hallo Hendrik, nimm sie endlich mit, bevor sie Wurzeln schlägt. Sorry, ich muss los.«

Ein etwa achtjähriges Mädchen mit blonden Zöpfen drängte sich zwischen ihnen hindurch und lief auf Jolanda zu. »Komm schon, Ma, Pa will mit uns essen gehen. Er sagt, wir müssen feiern.«

»Hallo Kimmy, mein Schatz, schön, dass du mich abholst. Was müssen wir denn feiern?«

»Deinen letzten Tag in der Firma.« Hendrik wurde ernst, als er Antje verabschiedete und dann seine Frau küsste. »Ein komisches Gefühl, oder?«

»Definitiv.« Jolanda biss sich auf die Unterlippe. »Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir in drei Wochen schon in Neuseeland sind.«

»Bereust du unseren Entschluss?«

»Nein, ich finde es spannend, neu anzufangen, aber natürlich ist auch ein bisschen Wehmut dabei.«

»Jetzt komm endlich, Ma«, rief ihre Tochter, die neben ihr ungeduldig auf und ab hüpfte.

»Ist ja gut, Kim, ich bin ja schon fertig.« Jolanda griff nach ihrer Tasche.

Hendrik hob das Mädchen hoch und drehte sich mit ihr einmal im Kreis, als es irgendwo im Gebäude heftig knallte.

Jolanda fuhr zusammen. »Was war das denn?«

»Keine Ahnung. Ist auch nicht mehr unser Problem.«

»Hörte sich an, als wäre etwas in die Luft geflogen.«

»Ach was.« Kurz sah Hendrik beunruhigt aus und sie wusste, dass er an die Chemikalien dachte, die neben der Produktion lagerten, doch dann lächelte er. »Hier werden alle Sicherheitsbestimmungen eingehalten, da kann nichts in die Luft fliegen.«

Jolanda nickte beruhigt und nahm ihre Tasche. Sie ließ noch einen letzten Blick über ihren Arbeitsplatz schweifen und folgte ihrer Familie nach draußen.

»Ich hole den Fahrstuhl«, bot Hendrik an, doch Kim war bereits im Treppenhaus verschwunden.

»Komm schon, sei nicht so bequem«, lachte Jolanda und boxte ihn spielerisch in die Rippen. Aber dann kräuselte sie die Nase. »Riechst du das?«

»Was?« Hendrik schnüffelte. »Ich rieche nichts.«



Jolanda tat es ihm gleich. »Jetzt ist es weg. Für einen Moment dachte ich, es riecht nach Rauch.«

»Vielleicht hat jemand im Treppenhaus geraucht.« Hendrik zuckte mit den Schultern und öffnete die Tür zur Treppe. Er stockte. »Du hast recht«, stellte er beunruhigt fest. »Und das ist kein Zigarettenrauch.«

Polternd kam Kim die Stufen heraufgelaufen. »Ma, Pa, da ist ganz dicker Qualm im ersten Stock«, keuchte sie.

»Oh mein Gott«, entfuhr es Jolanda. »Glaubst du, es brennt?« Der Schrecken drückte ihr die Kehle zu.

»Hoffentlich nicht«, brummte Hendrik, doch er nahm seine Tochter fest an die Hand. »Lass uns nachsehen.«

Jolandas Herz klopfte bis zum Hals, als sie in den immer dichter werdenden Rauch eintauchten. Es wurde deutlich wärmer. Es brennt wirklich, dachte sie entsetzt. »Lieber Himmel, die Firma brennt«, stieß sie atemlos hervor. »Der Knall vorhin. Meinst du, es ist doch etwas explodiert?«

»Möglich.« Hendrik zog sich den Stoff seines T-Shirts vor Mund und Nase und bedeutete Frau und Tochter, es ihm nachzutun. Das Mädchen begann zu schniefen.

»Keine Angst, mein Schatz«, beruhigte er sie und nahm sie auf den Arm. »Wir laufen ganz schnell raus.« Er warf Jolanda einen zweifelnden Blick zu. »Halt dich an mir fest.«

Sie nickte und krallte ihre freie Hand in sein T-Shirt.

Der Qualm brannte in ihren Augen und sie konnte die Treppenstufen fast nicht mehr sehen. Sie mussten hier schnellstens raus.

Hendrik öffnete die Tür zum Erdgeschoss und prallte zurück. »Die Produktion brennt«, stieß er entsetzt hervor.

Jolanda unterdrückte einen Schrei, als sie die Flammen sah. Es stank nach brennendem Stoff, aber es hing auch der beißende Geruch von Chemikalien in der Luft. Chemikalien, die in höchstem Maße brennbar waren.

»Was machen wir denn jetzt?«, keuchte sie. Der Weg zum Ausgang führte mitten durch das Feuer. Das konnten sie nicht schaffen.

»Hier lang«, entschied Hendrik und wandte sich nach links. »Wir nehmen den Lieferanteneingang.«

Jolanda hustete und röchelte, als sie den Rauch einatmete. Sie hörte ihre Tochter weinen und ihr wurde vor Angst richtig schlecht. »Lieber Gott, lass uns heil hier herauskommen«, flüsterte sie lautlos.



Da krachte es vor ihnen. Eine lange Reihe von Ständern mit neuer Kleidung ging infernoartig in Flammen auf. Hendrik blieb abrupt stehen. »Hier kommen wir nicht durch. Wir müssen es durch den Hauptausgang versuchen.«

»Aber da brennt es doch auch«, wandte Jolanda verzweifelt ein.

»Wir müssen da durch. So schnell wie möglich, bevor es noch schlimmer wird.«

Er drehte um und lief entschlossen und mit raschen Schritten zurück. »Da vorne«, keuchte er. »Siehst du es? Da können wir durch.«

Jolanda sah gar nichts mehr. Mit aller Kraft hielt sie sich an ihrem Mann fest und stolperte ihm nach. Hinter der Tür zum Lager, die lichterloh brannte, knallten Explosionen, die ihr eine Gänsehaut über den Rücken jagten. Was passierte hier nur? Wieso waren sie plötzlich mitten in einem brennenden Gebäude? Sie zuckte heftig zusammen, als neben ihr eine Stichflamme in die Höhe schoss, und verlor den Halt. Desorientiert blieb sie stehen.

»Jolanda«, rief Hendrik. »Wo bist du?«

»Mach dir keine Sorgen um mich. Du musst Kimmy hier rausbringen. Ich bin gleich hinter euch.« Sie hoffte, dass ihr Mann tat, worum sie ihn gebeten hatte. Ihre Tochter in Sicherheit zu bringen hatte oberste Priorität. Sie drehte sich kurz um ihre eigene Achse, um sich zu orientieren. Da krachte plötzlich ein brennender Balken von der Decke, knallte knapp neben ihr zu Boden und ließ das Feuer hochstieben. Entsetzt sprang Jolanda zur Seite und knickte um. Für einen Moment setzte sie sich und rieb sich stöhnend über den schmerzenden Knöchel. Das hatte gerade noch gefehlt. Der Fußboden war so heiß, dass sie es nicht länger aushielt. Mühsam kam sie auf die Beine und versuchte, den Fuß zu belasten. Es schmerzte heftig, doch sie konnte auftreten. Als sie sich umsah, griff helle Panik nach ihr. Sie war vom Feuer komplett eingeschlossen und hatte keine Ahnung, wo der rettende Ausgang lag.

 

Nach Luft ringend sah Hendrik die große Drehtür vor sich. Schützend drückte er den Kopf seiner Tochter gegen seine Schulter. »Wir haben es gleich geschafft, Kimmy«, schrie er, hatte aber keine Ahnung, ob sie ihn überhaupt hörte. Das Knistern und Fauchen klang von Sekunde zu Sekunde bedrohlicher. Von fern drang das schrille Heulen von Feuerwehrsirenen zu ihm, doch es beruhigte ihn nicht, sondern jagte ihm im Gegenteil einen Schauer über den Rücken. Kim schluchzte an seiner Schulter. Ihr ganzer Körper zitterte vor Angst. Er musste sie schnellstens ins Freie bringen. An der Drehtür leckten bereits Flammen. Was, wenn sie klemmte? Hendrik drehte sich um. Wo war Jolanda? Auch hinter ihm waberte und loderte es. Er dachte kurz daran, umzudrehen, um sie zu suchen, doch Kims Sicherheit ging vor. Er drückte ihren Kopf noch mehr an seine Schulter, holte tief Luft und sprintete los. Die wabernde Hitze versengte seine Kleidung, als er sich gegen die Drehtür warf. Sie blockierte kurz, doch als Hendrik nachsetzte, begann sie sich quietschend zu drehen. Er weinte vor Erleichterung, als er ins Freie stolperte. Am Ende des Betriebsgeländes sah er Antje stehen, die sich beide Hände vor den Mund geschlagen hatte und entsetzt auf die Firma starrte, wo sie gerade noch gearbeitet hatte. Immer mehr Schaulustige fanden sich ein und blockierten die Zufahrt. Mit einem schrillen Hupen jagte das erste Feuerwehrfahrzeug die Gaffer von der Straße.



Hendrik stolperte auf Antje zu und drückte ihr das Mädchen in die Arme. »Pass auf sie auf«, keuchte er und wandte sich um.

»Hendrik«, rief sie laut. »Wo willst du denn hin? Wo ist Jolanda?«

Er deutete auf die Firma. »Da drin.«

»Du kannst da nicht mehr rein«, schrie sie. »Die Feuerwehr holt sie raus.«

Hendrik warf einen Blick auf das Einsatzfahrzeug, das sich mühsam einen Pfad durch die Schaulustigen bahnte, die teils nur widerwillig aus dem Weg gingen. Die Feuerwehr würde es nicht rechtzeitig schaffen.

»Bitte kümmere dich um Kimmy«, bat er Antje erneut und jagte über den Hof zur Eingangstür, durch die inzwischen bereits Flammen stoben.

 

Antje hockte sich neben das weinende Mädchen und versuchte, es zu beruhigen. Sie war selbst einer Panik nahe, als sie sah, wie Hendrik sich gegen die brennende Eingangstür warf und im Gebäude verschwand. Hoffentlich fand er Jolanda schnell und brachte sie heraus, wo sie beide in Sicherheit waren.

Endlich konnte die Feuerwehr in Aktion treten. Der Kommandant bellte Befehle, Schläuche wurden ausgerollt und Männer mit Atemschutzmasken machten sich auf den Weg ins Gebäude. Antje beobachtete sie mit angehaltenem Atem, als ohne Vorwarnung eine ohrenbetäubende Explosion erfolgte, die die Scheiben bersten ließ. Ein Splitterregen ging auf sie herab und sie versuchte, Kim mit ihrem Körper zu schützen. Zum Glück waren sie zu weit entfernt, um ernsthaft verletzt zu werden, doch Antje fühlte, wie Blut über ihre Wange lief.

Sie zuckte heftig zusammen, als jemand eine Hand auf ihre Schulter legte. Als sie aufsah, blickte sie in die besorgte Miene ihres Mannes. Schluchzend stand sie auf und fiel ihm in die Arme. »Ach Maarten, das ist alles so furchtbar.«

Er drückte sie fest an sich. »Man hat die Explosion bis zu uns gehört«, murmelte er fassungslos. »Weißt du, was passiert ist?«

Antje schüttelte nur den Kopf, ihr ganzer Körper bebte von einem Weinkrampf. Sie fühlte sich wie eine aufgerollte Sprungfeder, die plötzlich losgelassen wurde. Maarten hielt sie einen Moment fest, dann nahm er Kim auf die Arme und murmelte einige tröstende Worte.

»Wo sind Hendrik und Jolanda?«, fragte er seine Frau mit zittriger Stimme.



Antje konnte nicht antworten, sie deutete nur mit dem Finger auf das inzwischen lichterloh brennende Firmengebäude.

 

Kommentare

    1. Vielen Dank für das nette Kompliment. Bald gibt es mehr. Momentan konzentriere ich mich allerdings auf mein anderes, hier veröffentlichtes Buch „Der Fjord schweigt“. Ich will nicht gleichzeitig Kapitel aus zwei unterschiedlichen Büchern hochladen, damit es keine Verwirrung gibt.
      Danke fürs Lesen.