Alte Rezepte, neue Feinde
Truly hatte die Nacht kaum geschlafen. Stattdessen war sie durch ihre Wohnung gewandert, barfuß, den Blick immer wieder auf die Bücherregale gerichtet, die fast die gesamte Wand im Wohnzimmer bedeckten. Zwischen alten Folianten, die nach Pergament und Staub rochen, und modernen Paperbacks, deren Einbände längst abgegriffen waren, schlummerte das Wissen von Jahrhunderten.
Jetzt, am späten Vormittag, stand sie mitten im Chaos. Auf dem Couchtisch türmten sich Bände, lose Zettel, handgeschriebene Notizen ihrer Großmutter. Kerzen brannten herunter, und Merlin hatte sich beleidigt in einen Karton zurückgezogen, den er für sein persönliches Reich erklärte.
Truly fuhr mit dem Finger über die Seite eines aufgeschlagenen Buchs. De Herbis Maleficis, eine lateinische Abhandlung aus dem 17. Jahrhundert. Ihre Großmutter hatte es vor Jahren in einer verstaubten Kiste auf einem Dachboden gefunden.
»Beifuß«, murmelte sie. »Artemisia vulgaris. Schutzkraut, Traumpflanze, Portalöffner.«
Sie blätterte weiter, fand eine Abbildung von getrockneten Blättern, eingerahmt von Symbolen. Darunter eine Notiz in brüchiger Handschrift: Verbrenne den Beifuß, um den Bann zu nähren. Verbrenne ihn im Blut, um den Bann zu brechen.
Truly fuhr sich über die Stirn. ›Also war es kein Zufall. Jemand wollte nicht nur schützen. Jemand wollte zerstören.‹
Sie griff nach einem zweiten Band, einem grün gebundenen Buch, das sie immer für eines der gefährlichsten hielt: Grimoire der Schwarzen Kreise. Darin fand sie eine Passage, die ihr Herz schneller schlagen ließ:
Manche Zirkel nutzen Kräuter in Ritualgetränken, um die Seele eines Opfers an den Bann zu binden. Das Trinken ist der Schwur, der Tod die Freisetzung.
Sie las die Worte zweimal, dreimal. Dann ließ sie das Buch sinken.
›Also war die Frau nicht nur ein Opfer. Sie war der Schlüssel.‹
Ein leises Scharren ließ sie aufblicken. Merlin hatte sich erhoben, dehnte sich träge und sprang auf den Tisch. Seine Pfoten landeten auf einem losen Zettel, auf dem Truly vor Jahren eine Skizze gezeichnet hatte: ein Kreis, fünf Linien, ein Pentagramm.
Sie starrte auf das Symbol. Es war fast identisch mit dem, das sie in der Bar gesehen hatte.
»Ein Zirkel«, flüsterte sie. »Ein Zirkel war hier am Werk.«
Merlin miaute, als wollte er ihr zustimmen.
Stunden vergingen, während sie tiefer in den Büchern suchte. Immer wieder tauchte dasselbe Muster auf: Beifuß, Blut, Bann. Aber jedes Mal in leicht anderer Bedeutung, als hätten Generationen von Hexen das Rezept angepasst.
Einmal las sie von einem »Trank der Schwelle«, der Seelen für die Reise ins Jenseits vorbereitete. Ein anderes Mal von einem »Kelch des Zorns«, der ganze Gemeinschaften verfluchen konnte.
Sie notierte fieberhaft, füllte Seite um Seite in ihrem Notizbuch. Schließlich legte sie den Stift weg, rieb sich die Schläfen.
›Ein Mord als Ritual. Eine Opferung, um einen Bann zu brechen. Und wenn ein Zirkel dahintersteckt …‹
Der Gedanke schnürte ihr die Kehle zu.
Ihre Familie hatte Feinde. Hexenzirkel, die seit Generationen existierten, verborgen in den Schatten Londons, jeder mit eigenen Regeln, eigenen Zielen. Einige waren friedlich, hüteten Geheimnisse wie alte Bibliotheken. Andere jedoch – die Schwarzen Kreise, die Verborgenen Sieben – hatten kein Problem damit, Blut zu vergießen, um ihre Macht zu nähren.
Und wenn einer dieser Zirkel jetzt aktiv war, dann bedeutete das Krieg.
Ein Klopfen an der Tür riss sie aus den Gedanken. Sie zuckte zusammen, schob hastig die Bücher zur Seite.
»Wenn das der Paketbote ist, der schon wieder meine Tarotkarten beim Nachbarn abgibt, schwöre ich …«
Doch als sie öffnete, stand Hayes davor. Ohne Mantel diesmal, in Hemdsärmeln, das Haar leicht zerzaust, als hätte er auch keine Ruhe gefunden.
»Sie sehen müde aus«, stellte er fest.
»Danke. Genau das Kompliment, das jede Frau hören will.«
Er musterte den Stapel Bücher hinter ihr. »Sie haben also recherchiert.«
»Ich nenne es lieber ›verzweifelt in alten Büchern wühlen‹.«
Er trat ein, ohne zu fragen, und ließ den Blick über die Wohnung schweifen. »Sie leben wie eine Professorin in Rente.«
»Oder wie eine Hexe, die keine Zeit hat, ordentlich zu sein«, konterte sie.
Hayes zog sich einen Stuhl heran, setzte sich. »Und? Haben Sie etwas gefunden?«
Truly atmete tief durch. »Der Beifuß war kein Zufall. Er gehört zu einem alten Ritual. Es gibt unzählige Varianten, aber in den meisten wird er genutzt, um Bannkreise zu nähren – oder zu brechen.«
Sein Blick verhärtete sich. »Also war die Frau gezielt ausgewählt.«
»Ja. Sie war kein zufälliges Opfer. Sie war der Schlüssel.«
Hayes rieb sich das Kinn. »Schlüssel wozu?«
»Zu etwas, das verschlossen bleiben sollte.«
Ein Schweigen folgte. Schwer, dicht. Truly spürte, wie er sie musterte, als suche er in ihrem Gesicht nach einem Zeichen, dass sie sich das alles nur ausdachte.
Doch dann nickte er langsam. »Also ein Zirkel.«
Sie hob die Brauen. »Sie glauben mir?«
»Ich glaube«, sagte er knapp, »dass jemand sehr viel Aufwand betreibt, um eine Nachricht zu senden. Und dass Sie mehr über diese Zirkel wissen, als Sie mir bisher erzählen.«
Truly verschränkte die Arme. »Vielleicht. Aber Wissen hat seinen Preis.«
Ein winziges Lächeln huschte über seine Lippen. »Dann hoffe ich, dass ich genug Budget habe.«
Sie lachte leise, gegen ihren Willen. Zum ersten Mal seit Stunden fühlte sich der Druck in ihrer Brust etwas leichter an. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie: Dies war nur die Ruhe vor dem Sturm.
Als Hayes gegangen war, blieb Truly allein zwischen den Büchern zurück. Sie sah auf das Pentagramm, das Merlin zerknittert hatte, und strich über die Linien.
›Ein Zirkel hat begonnen. Und ich stehe schon mitten drin.‹
Sie blies die Kerzen aus. Der Rauch kringelte sich wie Finger in der Luft, bevor er verschwand.
Und irgendwo in den Schatten der Stadt, so spürte sie es, hatten dieselben Finger längst nach ihr gegriffen.































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