Blut im Cocktail
Die Bar Indigo wirkte bei Tageslicht fast harmlos. Die Neonlichter, die am Abend in gleißenden Farben pulsierten, waren abgeschaltet, die Fenster halb verhängt, und ein dumpfer Geruch hing in der Luft – abgestandener Alkohol, kalter Rauch, das Echo der letzten Nacht. Truly blieb im Eingang stehen, als sie gegen 20 Uhr zurückkehrte, und atmete langsam aus.
›Ein Tatort. Und ich Idiotin habe zugesagt, mich freiwillig hierhin zu begeben.‹
Ein Absperrband der Polizei flatterte schwach im Luftzug, als die Tür ins Schloss fiel. Drinnen herrschte gedämpfte Aktivität. Zwei Uniformierte packten gerade ihre Koffer zusammen, ein Fotograf schraubte die Kamera ab, als wäre die Beweissicherung schon längst abgeschlossen. Doch am Tresen stand jemand, der eindeutig noch nicht mit seiner Arbeit fertig war.
Inspector Hayes.
Sein Mantel hing offen, er hatte die Krawatte gelockert, und in der Hand hielt er ein kleines Notizbuch. Als er sie bemerkte, hob er den Kopf, ein kurzer, prüfender Blick, der wieder dieses Gefühl vermittelte: Er taxierte sie.
»Sie sind pünktlich«, sagte er, ohne Begrüßung.
»Wunder gibt’s immer wieder«, erwiderte sie trocken.
Hayes ließ die Bemerkung unbeantwortet, deutete stattdessen auf den Tresen. »Dort ist es passiert.«
Truly folgte seinem Blick. Der Barhocker war leer, doch auf dem Holz des Tresens war noch immer ein dunkler Fleck zu sehen, grob mit Papiertüchern aufgewischt. Ein Glas stand daneben, in einer Plastiktüte versiegelt. Das Rot des Getränks hatte sich verfärbt, dumpfer, fast braun – Blut und Tomatensaft, ununterscheidbar.
Sie trat näher. Das Holz knarrte unter ihren Schritten, und je näher sie kam, desto mehr spürte sie, wie der Raum in sich vibrierte. Nicht hörbar, nicht sichtbar – aber magisch.
›Hier hat sich etwas geöffnet. Etwas, das nicht mehr zu schließen ist.‹
Sie beugte sich über das Glas, die Stirn fast an der Plastikhülle. Zwischen den Resten der Flüssigkeit schwammen kleine Partikel. Nicht einfach Gewürze oder Pfeffer. Sie erkannte sie sofort: zerstoßene Blätter, dunkelgrün, fast schwarz.
»Beifuß«, murmelte sie.
Hayes sah auf. »Wie bitte?«
Sie räusperte sich. »Das da. In der Flüssigkeit. Das sind Blätter von Beifuß.«
»Und was soll das heißen?«
»Dass dieser Drink nicht von einem gewöhnlichen Barkeeper gemixt wurde.« Sie richtete sich auf und sah ihn an. »Beifuß ist eine alte Hexenpflanze. Schutzzauber, Rituale, Visionen. Man mischt das nicht zufällig in einen Bloody Mary.«
Sein Blick verengte sich. »Sie sprechen das aus, als wüssten Sie genau, wovon Sie reden.«
»Vielleicht, weil ich es tue.« Sie verschränkte die Arme. »Und bevor Sie mich jetzt in irgendeine Akte schreiben: Ich bin keine Giftmischerin. Aber ich erkenne eine Signatur, wenn ich sie sehe.«
Hayes trat näher, seine Stimme gedämpft. »Also sagen Sie mir: War das hier ein Unfall, ein gewöhnlicher Mord – oder etwas anderes?«
Truly wich seinem Blick nicht aus. »Es war ein Ritual. Jemand hat diesen Drink nicht nur vergiftet. Jemand hat ihn geweiht.«
Ein Schweigen breitete sich aus, dicht wie Rauch. Von der Seite hörte man das Klicken der Kamera, die letzten Schritte der Spurensicherung, dann schloss sich die Tür, und sie waren beinahe allein.
Hayes ließ sein Notizbuch sinken. »Sehen Sie – genau deshalb habe ich Sie gebeten, hierherzukommen. Meine Kollegen würden mich für verrückt erklären, wenn ich so etwas in den Bericht schreibe. Aber wenn Sie sagen, dass das hier ein Ritual war … dann will ich wissen, wofür.«
Truly ging um den Tresen herum, ließ die Finger knapp über das Holz schweben. Kein Kontakt, nur Nähe. Und sie spürte sofort, wie sich ein Knistern entlud, wie winzige Nadeln über ihre Haut tanzten. Sie schloss die Augen. Bilder flackerten auf – ein Kreis, Kerzenlicht, eine Stimme, die ein altes Wort sprach.
Sie öffnete die Augen. »Es war nicht nur ein Mord. Es war eine Opferung.«
»Für wen?«
»Das finde ich heraus.«
Seine Augen verengten sich. »Sie reden davon, als könnten Sie das einfach so.«
»Vielleicht kann ich das«, entgegnete sie kühl.
Ein Muskel zuckte in seiner Wange, doch er schwieg. Stattdessen zog er einen Stuhl zurück und setzte sich, verschränkte die Arme. »Dann erzählen Sie mir, was ich übersehen habe.«
Truly ging zurück zum Glas. Mit einer geübten Bewegung nahm sie einen kleinen Holzlöffel aus ihrer Tasche – sie trug ihn immer bei sich, weil sie nie wusste, wann sie auf Überreste von Zaubern stoßen würde. Sie fischte eine der Kräuterreste heraus, hielt sie gegen das Licht.
»Beifuß«, wiederholte sie, »aber nicht frisch. Dieser hier wurde getrocknet, verbrannt, und dann ins Getränk gegeben. Das macht man nur, wenn man einen Bann erneuern will.«
»Einen Bann?«
»Ein magisches Siegel. Eine Barriere. Etwas, das gebrochen war – oder gebrochen werden sollte.«
Hayes beugte sich vor, seine Stimme leiser. »Und die Frau war zufällig das Opfer?«
Truly schüttelte den Kopf. »Niemand, der Beifuß auf diese Weise einsetzt, wählt zufällig.«
Sein Blick hielt den ihren. Eine Sekunde, vielleicht zwei. Ein unausgesprochenes Verständnis, das in der Luft lag. Dann lehnte er sich zurück.
»Also«, sagte er langsam, »wir haben ein Opfer, das nicht zufällig war, ein Ritualgetränk, und ein Symbol auf dem Tresen. Und keine Ahnung, wer dahintersteckt.«
»Klingt nach einem Dienstagabend in meiner Welt«, erwiderte sie trocken.
Zum ersten Mal sah sie ein flüchtiges Lächeln bei ihm. Es war klein, kaum mehr als ein Zucken. Aber es war da.
Sie blieben noch eine Weile in der Bar, sprachen leiser, tasteten sich aneinander heran. Hayes blieb skeptisch, versuchte, alles auf rationale Fakten zu reduzieren. Truly dagegen wusste längst: Manche Dinge ließen sich nicht in Aktenordner pressen.
Als sie schließlich hinausgingen, die Nachtluft sie empfing und das Neonlicht über der Straße flackerte, war sie sich sicher: Der Mord war kein Einzelfall.
Es war der erste Schritt.
Und irgendjemand hatte den nächsten längst vorbereitet.






























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