Der Regenschirm spricht wieder zu viel

Der Tag nach dem Emotions-Workshop begann wie jeder andere – mit einer detaillierten To-do-Liste und einem frisch gebrühten Kaffee, der in der Luft schwebte und unerschütterlich dem planmäßigen Kick-off entgegendampfte. Miss Poppins hatte ihre Agenda klar vor Augen: Audit der Besenstation, Briefing der Hausgeister und ein Gespräch mit Professor Hart über den anstehenden Konflikt im Südflügel. Doch der Regenschirm hatte andere Pläne. „Erinnerst du dich an das Trello-Board unserer letzten Krise?“, piepste er, als sie die ersten Treppenstufen zum Besenzimmer hinunterging. „Da hast du die Prioritäten so smart sortiert, dass selbst der Kobold gehorcht hat. Warum ignorierst du meine Vorschläge diesmal?“ „Ich ignoriere sie nicht“, antwortete Elara sachlich und trat auf die Plattform, die die Treppe in eine Rutsche verwandelte. „Ich priorisiere. Deine Kommentare sind notiert, aber wir haben ein Ablaufdiagramm. Nach Plan gehen wir zuerst zur Besenstation.“
„Aber die Besen sind langweilig“, grollte der Regenschirm. „Weißt du, was spannend wäre? Zu erfahren, warum Professor Hart nachts in die Bibliothek schleicht.“ „Der Professor ist erwachsen, und ich verwalte keine Betriebsgeheimnisse“, erwiderte sie trocken. „Du bist ein Regenschirm, kein Auditor.“ „Genau! Und als Regenschirm weiß ich, wenn sich ein Sturm anbahnt“, erklärte das Objekt mit wichtigem Ton. „Es gibt Gerüchte. Der Flur der verbotenen Tür flüstert über etwas Dunkles.“ „Das Flüstern ist Geräuschentwicklung und hat keinen operativen Mehrwert“, sagte Elara, als sie den Fuß der Treppe erreichten. Sie legte eine Hand auf den Schirmgriff. „Einstweilen konzentrierst du dich auf dein Kerngeschäft: mich im Regen nicht im Stich zu lassen und mich auf Gefahren hinzuweisen, die nicht in Gerüchten bestehen.“ „Wir werden sehen“, grummelte der Regenschirm, doch er schwieg, als sie die Tür zur Besenstation öffneten. Im Besenraum herrschte ein Gewusel wie in einer schlecht gemanagten Logistikhalle. Besen aller Größen schwebten, stießen zusammen, diskutierten in kreischendem Astholz über Flugbahnrechte. Einige hingen in der Ecke und steckten die Köpfe zusammen; sie wirkten wie ein Streikkomitee. „Guten Morgen“, sagte Elara mit dem Tonfall einer CEO, die zur Betriebsversammlung schreitet. „Ich bin hier, um die Betriebssicherheit zu gewährleisten und die Effizienz zu erhöhen. Wer ist der Sprecher der Besen?“ Eine älter wirkende Besenstange schwebte vor. Sie trug eine Schleife, die früher vermutlich rot gewesen war. „Madam, wir arbeiten am Limit“, erklärte sie ernst. „Wir haben zu viele Flüge, zu wenig Öl für unsere Borsten und die Neuen lernen nicht, rechts zu fliegen. Gestern hat einer den Pförtner über den Haufen gefegt!“ Miss Poppins nickte. „Ich verstehe. Wir werden eine Bedarfserhebung durchführen und den Flugplan anpassen. Außerdem gibt es ab sofort ein Sicherheitstraining. Jedes neue Exemplar wird vor dem ersten Flug geschult.“ „Und die Borstenpflege?“, piepste ein kleinerer Besen.




„Wird in den Standard aufgenommen“, versicherte Elara. „Und jetzt möchte ich eine Liste der aktuellen Probleme und Prioritäten. Ich brauche Zahlen.“
Während der Besensprecher eine Liste aus seinen Borsten zog, flüsterte der Regenschirm: „Siehst du? Ich kann helfen. Ich kenne alle Besen. Ich weiß, welcher immer zu spät kommt und wer ständig im Kreis fliegt.“ „Dann übernimmst du die interne Kommunikation“, sagte Elara unerwartet. „Du interviewst sie, sammelst die Daten, aber du hältst dich an das Formular. Keine unnötigen Kommentare.“ Der Schirm war kurz sprachlos. Dann schnappte er sich stolz ein Klemmbrett und schwebte von Besen zu Besen. „Name? Flugstunden? Defekte? Gehende Beschwerden?“, fragte er mit professionellem Understatement und notierte ihre Antworten. Elara lächelte. Manchmal war Delegation der beste Weg, Energie zu kanalisieren.

Am Nachmittag trafen sich Miss Poppins und Professor Hart zum Statusmeeting im Südflügel. Der Professor sah müde aus; er trug Ringe unter den Augen, die nur entstehen, wenn man nächtelang alte Bücher studiert und keine guten Prozesse hat.
„Ihre Besen haben Betriebsrat-Charakter“, bemerkte er, als er eine Tasse Tee an sie weiterreichte. „Meine Besen haben Kompetenzbewusstsein“, erwiderte Elara. „Und der Regenschirm ist jetzt ihr Reporting-Manager.“ „Der Schirm spricht wieder zu viel?“, fragte Hart schmunzelnd. „Er spricht immer zu viel“, seufzte Miss Poppins. „Aber ich habe ihm eine Aufgabe gegeben. Dann hat das Geschnatter einen Nutzen.“ „Nützliche Schnatterer sind selten“, bemerkte Hart. „Vielleicht sollte man ihn doch in die Bibliothek lassen.“ „Der Schirm bleibt da, wo ich es festlege“, erwiderte sie. „Übrigens, Professor: In letzter Zeit kursieren Gerüchte über nächtliche Aktivitäten in der Bibliothek. Stimmt das?“ Hart legte den Kopf schief. „Nennen wir es Recherchen. Die Schule hat Geheimnisse, und wir sollten vorbereitet sein. Bald gibt es einen Audit über die verbotene Tür im siebten Stock. Ich wollte mich aus erster Hand informieren, bevor wir Überraschungen erleben.“ „Ich bin kein Fan von Überraschungen“, sagte Elara. „Falls Sie Unterstützung brauchen, informieren Sie mich. Ich erstelle eine Risikoanalyse und wir entscheiden gemeinsam über den nächsten Schritt.“ Hart nickte. „Das würde ich begrüßen. Im Übrigen…“ – er senkte die Stimme – „… passen Sie auf sich auf. Manche Geheimnisse sind nicht nur interessant, sie sind auch gefährlich.“ Elara blickte ihm in die Augen. „Meine Arbeit definiert sich über Transparenz und Sicherheit. Ich lasse mich von Gefahren nicht beeindrucken – ich manage sie.“ Ein Lächeln zitterte über ihre Lippen. „Aber danke für den Hinweis.“ Der Regenschirm, der um die Ecke flatterte, hatte jedes Wort gehört. „Siehst du, was ich meine?“, flüsterte er. „Gefahrenmanagement! Das ist mein Stichwort!“ „Ja, ja“, antwortete Miss Poppins, ohne hinzusehen. „Mach deinen Job und lass mich meinen tun.“



Am Abend kehrte Elara in ihr Zimmer zurück und breitete die Besen-Datenblätter auf dem Tisch aus. Der Regenschirm hängte sich brav an die Garderobe und schien in sich hinein zu murmeln. „Zufrieden?“, fragte sie, als sie ihr Protokoll schrieb. „Sehr“, erwiderte er. „Die Besen mögen mich, und ich mag es, wenn man mich ernst nimmt.“ „Dann bleib dabei“, sagte sie freundlich. „Und wenn du das Gefühl hast, dass du wieder zu viel redest: Mach dir Notizen. Es gibt vielleicht bald ein Audit über die verbotene Tür. Dann brauchst du deine Energie.“
Der Regenschirm schwieg – ein seltenes und kostbares Gut. Elara schrieb weiter, und das Kratzen der Feder war das einzige Geräusch im Raum. Die Nacht war ruhig – vorerst.

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