Nacht im Hexenkreis
Der Regen hatte aufgehört, aber die Straßen glänzten noch im Schein der Laternen, als Truly durch die Gassen der Altstadt lief. In der Hand hielt sie einen Zettel, den sie in einem der Bücher gefunden hatte, nachdem sie stundenlang gesucht hatte. Kein echter Hinweis, eher ein Fetzen, ein kryptischer Eintrag am Rand einer Seite: „Donnerstags im alten Park, dort wo die Kreuze im Stein versinken.“
Es war Donnerstag. Und der alte Park lag nicht weit entfernt.
Merlin hatte sie mit seinen bernsteinfarbenen Augen angesehen, als sie gegangen war, so als wollte er sie warnen. Aber sie musste. ›Wenn das wirklich ein Zirkel ist, wenn sie dieses Symbol benutzen, dann muss ich sehen, ob ich ihnen näherkomme.‹
Der Park wirkte verlassen, nur der Wind strich durch die kahlen Bäume. Die Wege glänzten nass, und die alten Steinskulpturen, die den Park säumten, wirkten im Dunkeln wie stille Wächter. Truly zog den Mantel enger um sich, das Herz hämmerte unruhig.
Sie fand die Kreuze nach einer Weile: verwitterte Grabplatten, die halb im Boden eingesunken waren. Moos kroch über die Steine, Regenwasser sammelte sich in den Vertiefungen. Es war ein Ort, den niemand mehr beachtete. Ein Ort, der vergessen war.
Doch in der Luft vibrierte etwas.
Sie spürte es sofort – ein Surren, das tiefer war als jedes Geräusch. Magie, die sich wie Spinnweben über die Erde spannte.
Truly kniete sich hin, legte die Hand über einen der Steine, ohne ihn zu berühren. ›Hier. Hier treffen sie sich.‹
Ein Flackern. Schatten bewegten sich zwischen den Bäumen. Stimmen, leise, fern, aber deutlich genug.
Truly hielt den Atem an, schlich näher.
Im Zentrum einer kleinen Lichtung standen sie: fünf Gestalten, in lange Mäntel gehüllt, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Kerzen brannten im Kreis, und in der Mitte lag etwas, das wie ein kleines Kästchen aussah – ein Reliquiar vielleicht.
Sie sprachen Worte in einer Sprache, die alt war, älter als jede, die Truly jemals bewusst gelernt hatte. Doch ihr Blut vibrierte, als würde es die Bedeutung kennen.
»Per sanguinem ligamus … per sanguinem solvimus …«
Sie verstand genug: Durch das Blut binden wir. Durch das Blut lösen wir.
›Ein Bann. Ein Bruch. Sie erneuern ihn oder sie brechen ihn.‹
Ihr Herz raste. ›Wenn ich näher gehe, sehen sie mich. Aber wenn ich nichts tue …‹
Sie griff in die Tasche, zog einen kleinen Talisman hervor – ein Amulett aus Eisenkraut, das ihre Großmutter ihr gegeben hatte. Es sollte sie tarnen, ein Schatten unter Schatten machen. Doch sie wusste, dass es gegen fünf eingeweihte Hexen nur wenig half.
Sie trat vorsichtig einen Schritt vor, dann noch einen.
Plötzlich knackte ein Ast unter ihrem Schuh.
Die Stimmen verstummten. Fünf Köpfe fuhren gleichzeitig herum.
»Wer ist da?«, rief eine Stimme, männlich, tief.
Truly hielt den Atem an, presste sich gegen einen Baum. Ihr Herz trommelte so laut, dass es den Wald erfüllen musste.
Die Kerzen flackerten. Einer der Gestalten hob die Hand, murmelte Worte. Ein Windstoß fuhr durch die Lichtung, riss Blätter auf, wirbelte sie in die Dunkelheit.
Und dann spürte sie es: Ein Schlag, unsichtbar, aber hart, traf sie in die Brust. Sie taumelte, musste sich am Stamm festhalten.
»Da ist jemand!«, zischte eine der Gestalten. »Fang sie!«
Truly riss sich los, rannte. Zweige peitschten ihr ins Gesicht, die Schuhe glitten über den nassen Boden. Hinter ihr erhoben sich Stimmen, ein Chor, der Worte sprach, die die Nacht erzittern ließen.
Sie spürte, wie sich die Luft verdichtete, wie etwas Unsichtbares nach ihr griff. Ihre Beine wurden schwer, als klebten sie am Boden.
›Nein. Nicht jetzt. Nicht so.‹
Sie griff in die Tasche, zog ein Säckchen mit Salz heraus und schleuderte es hinter sich. Die Kristalle verteilten sich, ein Kreis fiel auseinander – für einen Moment brach der Zauber. Sie rannte weiter.
Doch dann stand plötzlich jemand vor ihr. Eine Gestalt, hochgewachsen, mit Kapuze. Er hob die Hand, und in der Luft formte sich ein Licht, kalt, bläulich, wie eine Flamme aus Eis.
Truly stolperte zurück.
»Du solltest nicht hier sein«, sagte die Stimme, tief und klar. »Das ist nicht dein Kreis.«
»Und doch habt ihr mein Blut benutzt«, keuchte sie. »Ich habe das Symbol gesehen.«
Ein kurzes Schweigen. Dann ein leises Lachen, das ihr das Blut gefrieren ließ. »Dann weißt du, dass es zu spät ist.«
Er schleuderte die Hand nach vorn. Das Licht schoss auf sie zu, schnell, unausweichlich.
Truly riss die Arme hoch, schloss die Augen, und alles wurde weiß.
































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