Prolog – Das Glas mit dem roten Rand

Die Nacht hatte ein Herz aus Neonlicht. Durch die schmalen Straßen der Innenstadt jagte das Flackern von Reklameschildern, als würden sie ein eigenes, fiebriges Leben führen. Stimmen mischten sich mit Musikfetzen, das Lachen der Passanten hallte zwischen den hohen Fassaden wider, und irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene auf.

Die Tür zur Bar Indigo schwang auf, und die Frau trat ein, als hätte sie lange draußen gewartet. Ein Schwall kühler Nachtluft folgte ihr ins Innere, ließ die Kerzen auf den Tischen kurz flackern. Sie war Anfang dreißig, schlank, mit einem Mantel, der sie enger umschloss, als wäre er ein Schutzschild. Ihre Absätze klackten über das Parkett, und sie hielt den Kopf hoch, doch in ihren Augen lag ein Schatten, als wüsste sie selbst nicht genau, warum sie ausgerechnet hierhergekommen war.

Der Raum roch nach verschüttetem Bier, Zigarettenrauch, der sich trotz Rauchverbot hartnäckig hielt, und einer Spur Zitrone, die von den frisch aufgeschnittenen Scheiben hinter der Theke stammte. Der Barkeeper – ein Mann mit aufgekrempelten Hemdsärmeln, schwarzer Weste und einem Blick, der jede Bewegung registrierte – hob den Kopf.

»Abend«, sagte er, während er ein Glas polierte. »Was darf’s sein?«

Die Frau schob sich auf einen der Barhocker, legte ihre Handtasche neben sich ab und atmete tief durch. Ihre Finger trommelten kurz auf der Tresenkante, bevor sie sich für einen Drink entschied.

»Ein Bloody Mary«, antwortete sie schließlich. Ihre Stimme klang fester, als sie sich fühlte.

Der Barkeeper nickte knapp, als hätte er schon geahnt, dass sie das sagen würde. Er griff nach dem Shaker, schob die Flasche Wodka zur Seite, stellte Tomatensaft und Worcestersauce bereit. Flinke Hände, routinierte Bewegungen – und doch lag ein eigentümlicher Nachdruck in der Art, wie er das Glas befüllte, als wäre dieser Drink mehr als nur ein Drink.

Die Frau folgte jeder Bewegung mit den Augen. ›Was für ein seltsamer Ort‹, dachte sie. ›Und doch … irgendwie richtig.‹

Ein anderer Gast, ein Mann im grauen Anzug, warf ihr von der Seite einen kurzen Blick zu. Er nippte an seinem Whiskey, als würde er sie abschätzen, dann wandte er sich wieder ab. Zwei junge Frauen lachten kichernd an einem Tisch nahe der Fensterfront, während ein DJ hinten in der Ecke leise Beats mischte, die kaum jemandem auffielen.



Der Barkeeper stellte das Glas schließlich vor ihr ab. Das tiefe Rot des Drinks wirkte unnatürlich lebendig im schummrigen Licht. Am Rand haftete eine Spur Salz, feucht, glänzend, und doch schimmerte etwas Dunkleres hindurch, als hätte sich eine Spur Blut in die Kristalle gemischt.

»Bitte sehr«, sagte er.

Die Frau griff nach dem Glas, drehte es in der Hand, als wollte sie prüfen, ob es ihr etwas verriet. Dann hob sie es an die Lippen. Der erste Schluck brannte angenehm, die Schärfe des Tabasco zog kurz durch ihre Kehle, bevor sich das dichte Aroma des Tomatensafts entfaltete.

Sie stellte das Glas ab, atmete tief ein – und spürte plötzlich, dass etwas nicht stimmte.

Ein prickelndes Gefühl breitete sich in ihrem Mund aus, kribbelnd, fremd. Sekunden später begann es, ihre Zunge taub werden zu lassen. Ihr Herz schlug schneller, zu schnell. Sie griff nach dem Glas, als könnte sie darin die Antwort finden, doch ihre Finger verkrampften.

»Alles in Ordnung?« Der Barkeeper klang fast beiläufig. Doch seine Augen lagen auf ihr wie ein Gewicht.

Die Frau wollte antworten, doch ihre Stimme versagte. Stattdessen stieß sie einen röchelnden Laut aus, kippte vom Barhocker und schlug hart auf dem Boden auf. Ein Schrei ertönte, Stühle kippten um, Stimmen wurden laut.

»Rufen Sie einen Arzt!« Eine Frau kreischte, jemand griff nach seinem Handy.

Die Frau auf dem Boden krampfte. Ihr Blick flackerte zwischen den Lichtern an der Decke, die verschwammen, als hätte jemand Wasser über das Bild gegossen. Ihre Hände krallten sich in den Boden, dann wurde ihr Körper schlaff.

Das Glas auf der Theke kippte um, der Rest des Bloody Mary ergoss sich über das Holz. Die Flüssigkeit floss langsam über den Rand, als würde sie bewusst eine Spur hinterlassen.

Und dort, wo das Salz sich mit der roten Flüssigkeit mischte, bildeten sich Linien. Kreise, Bögen, Symbole – kein Zufall, sondern ein Zeichen, das sich wie von selbst ordnete. Ein uraltes Muster, das niemand im Raum erkannte, das aber mit jeder Sekunde deutlicher wurde: ein Pentagramm, von feinen Linien durchzogen, fast wie mit Blut gezeichnet.

Der Mann im grauen Anzug erhob sich hastig, warf einen Blick auf das Glas und verließ die Bar, bevor jemand ihn aufhalten konnte.



Die Musik verstummte. Stimmen mischten sich zu einem einzigen Rauschen. Doch niemand beachtete das Zeichen auf der Theke. Niemand außer dem Barkeeper, der das Glas mit einem Tuch aufhob und dabei ganz bewusst über die Symbole wischte.

Er tat es so beiläufig, als sei nichts geschehen. Doch in seinen Augen funkelte etwas – ein Wissen, das die anderen nicht hatten.

Und während draußen die Sirenen näher kamen, während sich Gäste um den reglosen Körper der Frau scharten, glitt ihm ein kaum merkliches Lächeln über die Lippen.

Der Mord war kein Zufall. Er war ein Ritual. Und er war erst der Anfang.

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