Verdächtige im Schatten
Die Indigo Bar summte wie ein Nest, obwohl sie eigentlich ein Tatort war. Das leise Murmeln der Stimmen, das Klirren von Gläsern, das gedämpfte Schlagen des Basses aus den Lautsprechern – alles wirkte, als hätte die Nacht den Mord längst vergessen. Doch Truly wusste: Die Schatten hingen noch immer in den Wänden, in jedem Fleck auf dem Holz, in jedem Atemzug, den dieser Raum aushauchte.
Inspector Hayes wartete am Tresen. Er hatte den Mantel abgelegt, trug Hemd und Weste, als wolle er weniger auffallen. Aber jemand wie er fiel immer auf. Seine Haltung, die Ruhe in jeder Bewegung, die Art, wie er den Raum beobachtete – er wirkte, als würde er die Gespräche der Gäste aufzeichnen wie ein Tonband.
»Bereit?« Seine Stimme war leise, nur für sie.
»So bereit, wie man für ein Theaterstück sein kann, bei dem keiner die Rollen kennt.«
Er nickte knapp. »Drei Personen. Alle waren anwesend, als das Opfer starb. Jeder könnte etwas gesehen haben. Oder verschweigen.«
Der Barkeeper kam zuerst. Er stellte zwei Gläser Wasser auf den Tresen, als wären Truly und Hayes normale Gäste. Seine Hände waren ruhig, aber seine Augen glitten unruhig hin und her, tasteten, prüften.
»Sie schon wieder«, sagte er tonlos, als er Hayes erkannte. Dann fiel sein Blick auf Truly. »Und wer ist sie?«
»Eine Beraterin«, antwortete Hayes.
Der Barkeeper verzog keine Miene. »Sie sieht nicht aus wie eine Polizistin.«
Truly lächelte spitz. »Und Sie sehen nicht aus wie jemand, der zufällig Beifuß in Cocktails mischt.«
Seine Finger erstarrten für den Bruchteil einer Sekunde. Dann lachte er rau, zu laut. »Beifuß? Ich hab keine Ahnung, was das sein soll. Ich mixe Drinks, keine Kräutertees.«
Hayes legte ein Foto des Opfers auf den Tresen. »Sie hat den Drink hier bestellt. Von Ihnen.«
Der Barkeeper sah hin, blinzelte. »Ja. Sie war unruhig. Hat kaum jemanden angesehen. Ich dachte, sie wollte allein sein.«
»Und dann stirbt sie nach Ihrem Drink«, sagte Truly.
Er schnaubte. »Hören Sie, ich hab nichts reingetan. Wenn sie tot ist, dann lag’s nicht an mir.«
Seine Stimme wurde härter, aber die linke Hand trommelte nervös gegen den Tresen. Unruhige Finger, unruhiger Geist.
›Er lügt‹, dachte Truly. ›Aber nicht, weil er der Mörder ist. Sondern weil er mehr weiß, als er zugeben will.‹
Die nächste Verdächtige wartete in einer Nische: Clara Bennett, die beste Freundin des Opfers. Sie hielt ein Glas Weißwein, ihre Augen waren gerötet. Sie wirkte wie eine Frau, die seit Stunden weinte und doch unbedingt Fassung bewahren wollte.
»Ich verstehe es nicht«, flüsterte sie, kaum dass sie Truly und Hayes ansah. »Gestern haben wir noch über Urlaubspläne geredet. Und jetzt …«
Truly setzte sich neben sie. »Es muss schwer sein.«
Clara nickte, schniefte leise. Hayes blieb stehen, das Notizbuch in der Hand.
»Hatte Ihre Freundin Feinde?«, fragte er.
»Feinde? Nein. Sie war … sie war freundlich. Zu freundlich.«
Truly neigte den Kopf. »Und warum diese Bar? Hat sie gesagt, warum sie hierher wollte?«
Clara zögerte, zu lange. »Sie … sie wollte jemanden treffen. Aber sie hat nicht gesagt, wen.«
»Einen Mann?«, fragte Hayes.
»Vielleicht.« Clara biss sich auf die Lippe. »Sie wirkte nicht glücklich. Eher … ängstlich.«
Truly beobachtete, wie die Frau das Glas zu fest hielt, als könnte sie es zerbrechen. ›Sie lügt‹, dachte sie. ›Oder sie verschweigt das Wichtigste.‹
Der dritte Verdächtige war ein Stammgast. Ein Mann mit eingefallenen Wangen, glasigen Augen, in einem Mantel, der zu groß für ihn war. Er saß wie festgewachsen an seinem Platz am Tresen, das Bierglas halb leer.
»Name?«, fragte Hayes.
»Victor Reed.« Seine Stimme war heiser, wie Schmirgelpapier.
»Sie waren hier, als die Frau starb.«
Victor nickte, nippte am Bier. »Ich sitze jeden Abend hier.«
»Und Sie haben nichts gesehen?«, fragte Hayes.
Victor hob den Blick, sah nicht Hayes an, sondern Truly. Seine Augen waren glasig, doch plötzlich scharf, als hätten sie etwas gesehen, das andere nicht sehen konnten.
»Ich sehe viel«, murmelte er. »Zu viel.«
Ein kalter Schauer kroch über Trulys Rücken.
»Was meinen Sie damit?«, fragte sie.
»Das Glas«, flüsterte Victor. »Das Glas sprach. Aber niemand hört hin.«
Truly beugte sich näher. »Was hat es gesagt?«
»Dass das Blut erst beginnt.«
Das Summen der Bar verstummte für einen Moment in ihrem Kopf. Hayes spannte sich merklich an.
»Haben Sie das geträumt oder gehört?«, fragte er scharf.
Victor lachte, ein krächzendes, trockenes Lachen. »Träume sind lauter, wenn man sie mit offenen Augen sieht.« Dann senkte er den Blick, nahm einen Schluck Bier, und damit war das Gespräch beendet.
Als sie die Bar später verließen, wehte Regenluft durch die Straßen. Truly zog den Mantel enger um sich, doch die Kälte saß tiefer.
»Drei Verdächtige«, sagte Hayes neben ihr. »Jeder hat etwas zu verbergen.«
»Der Barkeeper weiß mehr, als er zugibt. Die Freundin hat gelogen. Und der Stammgast …« Sie stockte. »… der hat etwas gesehen, das er nicht hätte sehen sollen.«
Hayes nickte langsam. »Also haben wir alle unter Verdacht. Und keine Antworten.«
Truly hob das Gesicht in die nasse Luft, schloss die Augen. ›Alle verdächtig. Und doch alle nur Figuren. Irgendjemand zieht die Fäden im Verborgenen.‹
Sie öffnete die Augen wieder und sah Hayes an. »Das hier ist größer, als wir denken.«
»Dann müssen wir lernen, mitzuspielen«, sagte er.
Der Regen begann, stärker zu werden. Doch das Zittern, das Truly spürte, kam nicht vom Wetter. Es kam von der Gewissheit, dass der nächste Zug bereits geplant war – und dass sie längst Teil des Spiels war.
































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