Willkommen im emotional instabilen Flur C

Flur C war berüchtigt. Nicht wegen der Größe oder der zahlreichen Fenster, sondern wegen der Stimmungen, die er generierte. Man nannte ihn intern „EFS“ – emotionaler Flur Services. Magie und Gefühle verbanden sich hier zu einer tückischen Mischung, die jede Art von „normaler“ Kommunikation unterminieren konnte.
Miss Poppins betrat den Korridor mit der souveränen Gelassenheit einer Beraterin, die schon das ein oder andere Change-Projekt erfolgreich gewuppt hatte. An ihrer Seite: Professor Hart und ein halbes Dutzend Erstsemester. Der Regenschirm schwankte sanft, als wolle er einen Puls fühlen, und „Vielleicht“ saß unsichtbar in ihrer Tasche und schnurrte leise.

„Warum nennt man den Flur so?“, fragte Finn neugierig, während er auf eine der glänzenden Holztüren zeigte. Professor Hart verzog den Mund. „Offiziell, weil hier die Unterrichtsräume für emotionale Magie liegen. Inoffiziell, weil alle, die hier hinein- und hinausgehen, mit unplanbaren Gefühlsausbrüchen rechnen müssen.“ Er nickte Miss Poppins zu. „Und genau deshalb wird heute ein Probelauf gefahren: Sie bringen Ordnung in den emotionalen Betrieb.“ Elara lächelte professionell. „Das ist Teil des Onboarding-Plans. Wir werden einen Standardbetrieb entwickeln – inklusive Eskalationsmatrix und Kommunikationsrichtlinien für Emotionen.“

Kaum hatten sie die Tür zu Raum C-3 geöffnet, traf sie eine Welle aus Lachen, Weinen und wütendem Geschrei. Im Raum saßen etwa 20 Schüler an halbkreisförmig angeordneten Tischen. In der Mitte stand eine junge Frau mit rotbraunen Haaren; sie versuchte, den Lärmpegel zu drosseln, während bunte Emotionstropfen wie Seifenblasen zwischen den Köpfen schwebten. „Klasse“, rief sie über den Lärm hinweg, „das reicht! Beruhigt euch!“
Eine Schülerin schluchzte: „Ich kann mich nicht beruhigen! Lysandra hat meine Schokolade verzaubert!“ Daraufhin prallte eine Wutblase an die Decke und zerplatzte in rotem Glitter. „Das ist Professorin Alina Grayson“, erklärte Hart leise. „Sie leitet den Kurs ‚Emotionale Alchemie‘. Seit dem Vorfall mit den verzauberten Stühlen …“ – er seufzte – „… ist ihre Klasse besonders aufgeladen.“

Miss Poppins trat vor. „Guten Tag, Professorin Grayson. Miss Poppins, Incident Managerin. Was ist hier der Scope?“ Professorin Grayson schaute erleichtert. „Oh, Miss Poppins! Danke, dass Sie kommen. Wir arbeiten an der Umwandlung negativer Emotionen in positive Energie, aber der Katalysator ist instabil. Und die Schüler übertragen Emotionen auf alle Gegenstände – inzwischen weint sogar mein Pult.“



Elara nickte. „Problem erkannt. Wir definieren sofort ein Krisenmanagementprotokoll.“ Sie klatschte in die Hände. „Klasse, Fokus auf mich!“
Die bunten Blasen verharrten, als ob sie gehorchten. Die Schüler senkten die Stimmen. Das Weinen ebbte ab, das Lachen dämpfte sich, die Wutblase schwebte wie ein roter Ballon im Raum. „Wir werden jetzt gemeinsam eine strukturelle Übung durchführen“, sagte Miss Poppins mit ruhiger, aber klarer Stimme. „Schritt eins: Atem holen. Schritt zwei: Wir benennen die Emotionen. Schritt drei: Wir wählen eine andere Reaktion. Klingt simpel, ist aber High Impact.“ „Warum?“, fragte ein Junge mit schwarzen Locken, dem die Tränen über das Gesicht liefen.

„Weil das Management von Emotionen das Fundament jeder Organisation bildet“, antwortete Elara. „Wenn wir nicht in der Lage sind, unsere Reaktionen zu steuern, scheitern alle Projekte. Also: Los geht’s. Tief einatmen.“ Sie demonstrierte das Einatmen. Die Klasse folgte. Einige schniefen, andere kicherten leise. Das rote Wutbläschen verringerte sich auf Halbfettgröße. „Jetzt benennt eure Emotionen in einem Wort“, forderte Elara. „Lysandra?“ „Genervt“, antwortete sie. „Finn?“
„Ängstlich“, hauchte er. „Tara?“ „Amüsiert“, gestand sie und zuckte entschuldigend die Schultern. „Professor Hart?“, fragte Miss Poppins unvermittelt.
Er hob eine Braue, dann sagte er trocken: „Skeptisch.“ Die Klasse lachte, das Eis brach endgültig. „Gut“, sagte Elara zufrieden. „Das Benennen schafft Distanz. Und jetzt definieren wir, was wir damit tun wollen. Wir könnten zulassen, dass uns die Emotionen steuern – oder wir könnten sie steuern. Das nennt sich Ownership.“ „Ich will, dass meine Wut in Kreativität umschlägt“, erklärte das wütende Mädchen. „Ich will, dass meine Angst zu Aufmerksamkeit wird“, sagte Finn. „Ich will, dass mein Amüsement zu Offenheit wird“, meinte Tara.

Miss Poppins nickte. „Exzellente Ziele. Professorin Grayson, Sie leiten die Transformation. Ich präsentiere Ihnen einen strukturierten Prozess: Wir atmen gemeinsam, konzentrieren uns auf das Ziel und visualisieren die neue Emotion.“ Unter ihrer Anleitung begannen die Schüler, den Prozess zu durchlaufen. Die bunten Blasen veränderten langsam ihre Farben: Rot wandelte sich in Orange, Blau in Gold. Die Wutblase verwandelte sich in ein tanzendes Licht, die Angst in eine sachte leuchtende Kerze. Nach wenigen Minuten herrschte eine bemerkenswerte Ruhe im Raum.



„Wie fühlen Sie sich jetzt?“, fragte Elara.
„Besser“, antwortete Lysandra und wischte sich die Augen. „Ich dachte, das hier wäre nur ein weiterer mystischer Kurs. Aber es ist Coaching.“ „Es ist Prozessoptimierung“, korrigierte Miss Poppins mit einem Lächeln. „Und es wird euch in den Griff bekommen, wenn ihr es zulasst.“ Sie wandte sich an Professorin Grayson. „Sie sollten diese Übung in ihr Curriculum integrieren. Emotionales Selbstmanagement ist ein Kern-Deliverable.“
„Danke“, sagte Grayson erleichtert. „Es ist nicht leicht, diese Energien zu steuern.“

„Nichts Großes ist leicht“, erwiderte Elara. „Aber es ist machbar.“ Sie deutete auf den Korridor. „Und jetzt: Wir definieren Guidelines für Flur C. Keine emotionalen Hexereien außerhalb dieses Raums. Emotionale Experimente sind ab sofort genehmigungspflichtig. Und…“ – sie lächelte – „… Schokolade ist nur noch in der Cafeteria erlaubt.“
Die Klasse stöhnte auf, aber niemand widersprach. Professor Hart klatschte langsam. „Nicht schlecht, Miss Poppins. Sie könnten als HR-Direktorin in jedes Unternehmen einsteigen.“

„Ich wähle lieber Herausforderungen mit magischem Twist“, antwortete sie. „Ansonsten wäre mir langweilig.“ Als sie den Raum verließen, blieb Elara einen Moment stehen. „Flur C ist stabilisiert“, stellte sie fest. „Nächster Schritt: Implementation.“
„Implementation?“ grinste Hart. „Sie meinen: der wöchentliche Zickenkrieg bei den Drittklässlern im Südflügel?“

Elara nickte, ohne die Miene zu verziehen. „Genau. Agenda: Konfliktanalyse, Mediationsgespräch, Eskalationsstrategie. Sie kommen mit?“ „Mit Vergnügen“, sagte der Professor, und sein skeptischer Blick verwandelte sich in etwas, das man fast als Respekt deuten konnte. Der Regenschirm klimperte zufrieden. „Emotionsmanagement abgeschlossen. Bitte warten Sie auf den nächsten Gefühlsausbruch.“ „Ich warte selten“, meinte Miss Poppins. „Ich handle.“ Sie überprüfte ihre Liste, hakte „Flur C stabilisieren“ ab und machte sich auf zum nächsten emotionalen Schauplatz.

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