Luana – Kapitel 1

Langsam pirschte die junge Wölfin durch die großen Büsche des Dunkelwaldes. In ihrer Nase die frische Luft, die nach dem Regen immer besonders gut roch. Hoch über ihr drang das seichte Licht des Mondes immer wieder durch die großen Baumkronen und erhellte ihr den Weg.
Luanas Augen schimmerten rosafarben, während sie eine ihrer großen Pfoten vor die andere setzte. Leise, damit sie auch keine Geräusche machte. Sie witterte einen Hasen, den sie sich holen wollte. Schon seit langem hatte sie ihren Jagdtrieb nicht mehr so nachgehen können, wie in dieser Nacht.
Obwohl sie es genoss, auf die Jagd zu gehen, hatte sie sich bei dem heutigen Vollmondfest nicht zu viel genommen. Trotzdem war es genug, um es mit ihrem Rudel zu teilen, wie es Brauch war und von ihr erwartet wurde.
Als Schwester des Alphas musste sie selbst eigentlich nicht jagen, doch es lag in ihrer Natur. Als Werwolf brauchte sie die Spannung und das Gefühl der Jagd, sonst fühlte sie sich nicht wohl. Nur als Mensch zu leben, erfüllte sie nicht. Als Wolf war sie der Natur viel verbundener.
Luana hob leicht die Nase in die Luft, als der Duft von Blut ihre Sinne streifte. Es roch nicht wie ein totes Tier, was Luana verunsicherte. Hatte es wieder einen Kampf mit einem anderen Rudel gegeben und ihr Bruder hatte ihr nichts davon erzählt? Es wäre nicht das erste Mal, weshalb sie langsam dem Geruch folgte. Dabei blieb sie so gut es ging versteckt.
Sie hasse es, dass ihr Bruder sie immer behandelte wie ein rohes Ei. Sie war alt genug und kampferprobt. Zumindest in Übungskämpfen. Zudem war sie seine Schwester und hatte, ihrer Meinung nach, ein Recht darauf, zu wissen, wie es um die Sicherheit des Rudels stand. Immerhin konnte sie bei einem Jagdausflug leicht in Gefahr geraten, wenn man sie nicht darüber informierte, dass es vielleicht Probleme gab.
Langsam und behutsam näherte sich Luana dem Geruch und entdeckte schließlich einen verletzten, jungen Mann. Er hatte braunes Haar, das teilweise aus seinem Zopf gerutscht war. Seine Augen waren geschlossen und er wirkte durch die zerfetzten Kleidungsstücke ziemlich mitgenommen. Von ihm ging der Blutgeruch aus, den sie wahrgenommen hatte, und sie sah auch verkrustete Blutreste, doch nicht sofort die Verletzungen, die mit einer solchen Menge an Blut normalerweise einhergingen.




Luana schnupperte erneut, bevor sie sich im Schutz der Büsche setzte. Sie versuchte, den Geruch zu zuordnen, doch so wirklich konnte sie damit nichts anfangen. Dieser Mann roch nicht, als käme er von einem ihr bekannten Rudel. Gleichzeitig war sie sich aber auch sicher, dass er ebenfalls ein Werwolf war. Auch, weil auf diesem Planeten gar keine anderen Wesen existierten. Zumindest war Luana nie einem begegnet.
Was sollte sie nur machen?
Luana erhob sich wieder und bewegte sich vorsichtig in einem Kreis um den Mann herum. So konnte sie die Lage auskundschaften und sehen, ob alles sicher war.
Er lag zwischen den Bäumen und Büschen, als wäre er irgendwo heruntergefallen. Das verunsicherte Luana. Sie sah sich um und an den Bäumen hinauf. War dort vielleicht jemand? Es gab keinen anderen Ort, von dem er gefallen sein konnte, wenn er nicht irgendwo in der Luft aufgetaucht war. Doch das war Unsinn.
Bei der vierten Runde um den Mann herum, entschied Luana, dass hier niemand war. Das war gut, denn sie hatte vor, etwas sehr Dummes zu tun.
Obwohl sie wusste, dass ihre Idee nicht gut war, wollte sie diese dennoch umsetzen. Einfach, weil sie sich selbst beweisen wollte, dass sie nicht unfähig war. Zudem war sie neugierig.
Vorsichtig tapste sie auf den Mann zu. Mit gesenktem Kopf und jederzeit sprungbereit kam sie ihm näher, während sie versuchte, den Geruch noch deutlicher wahrzunehmen. Sie wollte ihn entschlüsseln und hoffte noch immer darauf, herauszufinden, zu welchem Rudel er gehörte.
Schließlich kam sie ihm so nah, dass sie mit ihrer Pfote seine Schulter antippen konnte.
Sofort sprang sie zurück und rechnete damit, dass er sich bewegte, doch nichts geschah.
Vorsichtig näherte sie sich erneut und schnupperte nun an ihm. Er war eindeutig verletzt und schien ohnmächtig zu sein. Zumindest ging sein Atem schnell und schwer, doch er blinzelte nicht einmal.
Luana umrundete ihn, um ihn genauer zu betrachten. Er roch gut. Etwas an seinem Geruch zog sie an. Das war wohl auch der Grund, warum sie noch immer nicht von ihrem Plan abließ.
Sie streckte sich und langsam zog sich das Fell auf ihrem Körper zurück, während dieser sich immer weiter streckte und dehnte, bis an Stelle des Wolfes eine junge Frau hockte.




Luana bemerkte den kühlen Wind, der über ihren Körper fuhr und erschauderte. Daran hätte sie denken sollen. Jetzt war sie nackt! Es war etwas so Natürliches, dass sie sich damit nie auseinandergesetzt hatte. In ihrem Rudel wurde darauf nicht geachtet, doch dieser Mann war nicht aus ihrem Rudel!
Sie verzog etwas das Gesicht und versuchte, sich nicht weiter an dieser Sache zu stören. Der Mann war ohnmächtig, er würde also nichts sehen. Hoffte sie.
Langsam begann sie, ihn abzutasten. Nur zögerlich, denn sie wollte ihn weder wecken noch ihm weitere Schmerzen zufügen. Zudem musste sie sichergehen, dass er keine Waffen trug.
Als sie sicher war, dass er wirklich ohnmächtig war und nicht so stark verletzt, dass sie ihn nicht transportieren konnte, atmete sie tief ein. Hier konnte sie ihn nicht heilen. Wenn er angegriffen worden war, würden sie hier sicherlich wie auf dem Präsentierteller sitzen.
Mit einer Kraft, die viele ihr nicht zutrauten, zog sie ihn sich über die Schulter, bevor sie sich auf den Weg durch den Wald machte. Dabei zog sie ihn zwar mit seinen Beinen ein bisschen über den Boden, doch das war in Ordnung. Hoffte sie.
Die Spuren würde sie später verwischen. Ungebetene Besucher wollte sie nicht riskieren.
Ihr Weg führte sie zu einer kleinen Hütte. Sie war zwischen den Bäumen gebaut und wirkte wie von einem schlechten Handwerker. Die Bretter sahen aus, als wären sie von Kinderhand zusammengezimmert worden. Was auch so war. Sie hatte diese vor vielen Jahren mit ihrem älteren Bruder als Rückzugsort erbaut.
Früher hatten sie viel Zeit hier verbracht, doch mittlerweile nutzte nur noch sie diese Hütte. Immer dann, wenn sie allein sein wollte. Daher war das hier der richtige Ort.
Schnell zog sie den fremden Mann durch die Tür und schloss diese hinter sich. Sie setzte den Mann vorsichtig auf dem Boden ab, bevor sie zu einem Schrank ging und dort eine Kette hervorzog. Es waren Überreste von Fallen, mit denen sie früher Tiere gejagt hatten.
Diese Kette schlang sie ihm um das Bein, bevor sie es an den Baum kettete, der Teil des kleinen Schuppens war. Das würde ihn erst einmal hoffentlich aufhalten, wenn er wach wurde. Da er sicher sehr geschwächt war, glaubte sie, dass es reichte.




Luana holte tief Luft und stieß sie wieder aus. Es war doch anstrengender gewesen, als sie erwartet hatte.
Schnell ging sie erneut zum Schrank, um sich von dort ein Kleid zu nehmen, das sie sich einfach überstreifte. Es würde erst einmal reichen, war allerdings nur ein recht behelfsmäßig zusammengenähtes Stück Stoff.
Ihr Blick fiel wieder auf den braunhaarigen Mann. Was sollte sie jetzt tun?
Erneut umrundete Luana den Fremden, bevor sie leise seufzte. Sie sollte Wasser holen gehen, um die Wunden zu säubern. Vielleicht überlebte er nicht, dann würde sie ihn zu den Klippen bringen müssen. Er gehörte nicht zu ihrem Rudel, weshalb er nicht beim Mutterbaum beerdigt werden konnte.
Luana verließ die Hütte mit einem Eimer. Schnell machte sie sich auf den Weg zum Fluss, um dort Wasser zu holen. Dabei überlegte sie, was sie alles für ihn tun konnte. Sie war eine ausgebildete Heilerin in ihrem Rudel, auch wenn sie recht wenig praktische Erfahrung hatte. Eigentlich konnte er als Übungsobjekt herhalten. Er konnte nur davon profitieren, genau wie sie.
Mit dem vollen Eimer kehrte sie zurück und stellte ihn direkt neben den Braunhaarigen. Dann begann sie, mit einem sauberen Lappen, seine Wunden zu reinigen. Sie waren zum Glück nicht sonderlich tief. Kratzer, die sie an Klauen erinnerten. Zudem sahen sie aus, als wären sie schon wieder teilweise verheilt.
Vielleicht also doch ein Kampf?
Luana verband ihm die Wunden sogar, bevor sie sich seinen Kopf genauer ansah. Sie hatte daran kein Blut erkennen können, doch nun untersuchte sie ihn genauer. Ihre Finger fuhren sanft durch sein Haar und sie bemerkte sogar eine Beule. Hatte er sich den Kopf gestoßen?
Luana war so in die Untersuchung ihres Patienten vertieft, dass sie alles um sich herum vergaß und nur noch an das dachte, was sie gelernt hatte.
„Ich weiß ja nicht, wer du bist …“, erklang eine raue, müde Stimme, die dafür sorgte, dass Luana von ihm abließ und zurücksprang, weil sie einen Kampf erwartete. Dabei stieß sie einen atemlosen Schrei aus.
Eisblaue Augen blickten sie benommen an. „…, aber kämmst du immer fremden Männern durch die Haare?“
Luana starrte den braunhaarigen Mann mit großen, rosafarbenen Augen sprachlos an, während ihr seine Worte durch den Kopf gingen.




Was war nur los mit diesem Mann? Er war wahrscheinlich gerade dem Tod von der Schippe gesprungen und nun sprach er so mit ihr? Wie konnte er es wagen? Immerhin hatte sie ihm versucht das Leben zu retten und es hatte sogar funktioniert!
„Ich habe deinen Kopf nach Verletzungen abgesucht“, sagte sie, wobei sie sich große Mühe geben musste, nicht zu herablassend zu klingen oder zu schreien.
Luana beobachtete, wie sich der Mann langsam aufsetzte und sich durch die Haare fuhr. „Wunden?“, fragte er und schien neben sich zu stehen. Dann starrte er auf seine Hand, die verbunden war. Er schien erst jetzt zu bemerken, dass Luana ihn verarztet hatte. „Nun, dann … danke“, sagte er überfordert. Wahrscheinlich lag das an seiner Kopfwunde. Er wirkte verwirrt.
Luana hob eine Augenbraue. „Du bist ein Wolf. Welchem Rudel gehörst du an?“, fragte sie barscher, als sie es wollte. Es war ihr unangenehm, dass er gerade jetzt aufgewacht war. Das wollte sie überspielen, indem sie ihn nach den eigentlich wichtigen Dingen fragte. Zudem mochte sie nicht gern zugeben, dass sie Verletzte, egal welchem Rudel sie angehörten, nicht einfach zurücklassen konnte.
„Rudel?“, fragte er verwundert. „Bei uns gibt es keine Rudel als solche“, sagte er langsam und nachdenklich. „Wir leben in Familienverbänden und unter Fürsten“, erklärte er, wobei er noch immer nicht ganz deutlich klang.
Luana schnaubte. „Willst du mich verarschen?“, schnauzte sie ihn an, denn plötzlich packte Angst sie. Das, was er sagte, gefiel ihr gar nicht. Es klang ausgedacht, denn auf Wolfsmond gab es nur Rudel! „Hier gibt es keine Fürsten. Nur Rudel. Oder willst du mir wirklich sagen, du kommst von einem anderen Planeten? Durch das zerstörte Portal?“, fragte sie, wobei ihre Stimme immer höher wurde. Wenn das wirklich so war, dann hatte sie ein Problem. Aber eigentlich glaubte sie es nicht, denn das Portal war zerstört.
Der Mann neigte den Kopf, während sein eisblauer Blick ihr scheinbar in die Seele sah. „Scheint wohl so“, bemerkte er, bevor er die Schultern zuckte. Das schien ihn jedoch Schmerzen zu bereiten, denn er kniff leicht seine Augen zusammen.
Luana, die sich machtlos und überfordert fühlte, knurrte. „Die Portale sind alle zerstört“, sagte sie entschieden und schroffer, als sie es geplant hatte. Die Machtlosigkeit machte ihr zu schaffen, weshalb sie diese versuchte zu überspielen. „Das ist also unmöglich. Aber wenn du bei dieser Lüge bleiben willst, dann nenne mir wenigstens deinen Namen“, forderte sie, wobei sie noch immer versuchte ihre Angst zu verbergen. Ihr Herz klopfte heftig vor Aufregung. Noch nie war ein Wolf von außerhalb gekommen. Nicht, seitdem die ersten ihrer Rudel durch die Portale gekommen und diese dann zerstört hatten.




Sie wollte ihm eigentlich nicht glauben, aber gleichzeitig hoffte sie darauf, dass dem so war. Ihre Gefühle waren widerstreitend, denn diese Sache war sowohl gefährlich als auch eine Möglichkeit für sie, ihrem Alltag zu entfliehen. Es würde einiges ändern.
„Ragnar“, stellte sich der Braunhaarige vor, griff nach ihrer Hand und küsste ihren Handrücken.
Diese Geste überforderte Luana so sehr, dass sie ihn einfach nur anstarrte und schwieg. Dass sie sich weiter von ihm zurückziehen sollte, kam ihr nicht in den Sinn. Obwohl er jetzt wach war, sah sie ihn nicht als gefährlich an. Er wirkte noch zu verwirrt und verwundet, um ihr körperlich gewachsen zu sein.
„Und wie heißt die Schönheit, mit der ich das Vergnügen habe?“, fragte er, wobei er sogar belustigt klang.
Luana zog ihre Hand zurück, während ein Schauer über ihren Rücken rann. „Luana. Schwester des Alphas des Dunkelwald-Rudels“, stellte sie sich stolz vor. Das gehörte sich immerhin so, auch wenn sie auf den Teil mit der Schwester nicht unbedingt stolz war.
„Luana“, flüsterte Ragnar, als würde er den Klang ihres Namens testen wollen. Dann nickte er. „Ein wundervoller Name, der sehr gut zu dir passt“, entschied er dann scheinbar für sich.
Luana empfand dieses Verhalten als seltsam. Es wirkte sehr gehoben und irgendwie fehl am Platz. Nicht, als würde er hierhergehören. Sollte seine Geschichte doch wahr sein? Sie war sich unsicher.
„Wie bist du so verletzt worden?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln. Seine tiefe Stimme schickte Schauer über ihren Rücken, weil sie so gut klang. Ähnlich wie sein Duft hatte auch diese etwas sehr Anziehendes.
Ragnar, der sich erneut durch die Haare fuhr, blickte sie verwirrt an. Selbst das gab ihm ein verwegenes und damit anziehendes Aussehen. „Ich weiß nicht mehr“, bemerkte er. Hatte er sich etwa so stark den Kopf gestoßen, dass er sich nicht erinnern konnte? Bei dem Blut, das sie ihm abgewaschen hatte, wäre das durchaus denkbar.
Luana fuhr sich durch ihre hellblonden Haare und seufzte frustriert. „Das ist doch nicht wahr“, knurrte sie, bevor sie sich am Boden niederließ. „Dann erzähl mir, an was du dich erinnerst“, befahl sie. Es war wichtig, dass sie verstand, warum er hier war. Er konnte für ihr Rudel eine Gefahr darstellen. Allerdings hielt Luana ihn nicht unbedingt für stark. Er wirkte eher schwach. Zudem trug er keine besonders deutliche Signatur. Er roch zwar gut, aber nicht, wie ein Alpha oder Beta.




„Ich erinnere mich nur noch daran, dass irgendeine Macht mich durchgeschüttelt hat und dann bin ich gefallen“, erklärte Ragnar nachdenklich. Er runzelte sogar die Stirn, als würde er sich anstrengen, sich zu erinnern.
Luana hörte gut zu. Das klang wirklich so, als wäre er durch ein Portal gekommen. Aber durch welches? Sie waren alle zerstört.
„Kannst du mir zeigen, wo du gefallen bis?“, fragte sie. Luana glaubte mittlerweile nicht mehr, dass er an dem Platz, wo er letztlich zusammengebrochen war, auch gelandet war. Er musste irgendwo aus der näheren Umgebung gekommen sein. Vielleicht war er sogar irgendwie durch die Luft gewirbelt worden. Wenn er versucht hatte, ein zerstörtes Portal wieder zu nutzen, konnte auch das seine Verletzungen erklären. Dann hatte er Glück, dass er noch lebte. Es war Selbstmord, die zerstörten Portale nutzen zu wollen.
Ragnar ächzte leise, als er sich erhob. „Ich kann es versuchen“, sagte er hilfsbereit.
Luana erhob sich ebenfalls, bevor sie den Braunhaarigen musterte. Dann schüttelte sie den Kopf. „Du kannst ja kaum stehen“, bemerkte sie, denn sein Stand war sehr wackelig. Was wohl noch an der Kopfverletzung und dem Blutverlust lag. Sie hatte beim Untersuchen auch Wunden gefunden, die wirkten, als wären sie erst vor kurzem verheilt. Diese trugen vermutlich zu seinem momentanen, schwachen Zustand bei.
Ragnar winkte jedoch ab. „Das gibt sich gleich wieder. Meine Selbstheilung ist sehr gut“, versicherte er. Luana seufzte. Sie selbst hatte auch eine sehr gute Heilung, doch mit Kopfverletzungen war nicht zu spaßen. Er sollte also aufpassen.
„Gut, dann gehen wir zuerst zum Fluss, dort kannst du trinken und dann bringe ich dich an die Stelle zurück, wo ich dich gefunden habe“, entschied sie. Das war vermutlich das Sinnvollste. Ragnar konnte dann erst einmal in der Hütte ruhen, um wieder zu Kräften zu kommen. So wollte sie ihn nicht wieder aussetzen. Das konnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren.
Wenn er wirklich von einem anderen Planeten kam, musste sie ihn irgendwo unterbringen. Es wäre sicherlich nicht gut, wenn er sich mit einem anderen Rudel verbündete, ohne dass ihr Rudel wusste, was er konnte.
Luana führte ihn erst zum Fluss, wobei sie die Kette an seinem Fuß nicht löste, sondern nur die andere Seite vom Baum abnahm und ihn so an der Leine hielt.




Nachdem er getrunken und sich etwas gewaschen hatte, führte sie ihn zurück zu der Stelle, wo sie ihn gefunden hatte. Dabei beobachtete sie ihn genau. Er war wirklich recht zäh und fing sich schnell wieder. Seine Schritte wurden immer fester, was sie nervös machte. Ihre Sinne schärften sich. Eine so gute Selbstheilung hatte sie noch nie gesehen. Jeder andere Wolf wäre mit dieser Kopfwunde wenigstens einen Tag lang außer Gefecht.
Schließlich entfernten sie sich von der Stelle, an der Luana Ragnar gefunden hatte. Er führte sie ein Stück umher, bis er stehenblieb und eine Klippe nach oben blickte. „Ich glaube, die bin ich runtergefallen“, bemerkte er.
Luana folgte seinem Blick und runzelte die Stirn. Dort oben gab es, ihres Wissens nach, kein Portal. Zudem lag dieses Gebiet außerhalb ihres Territoriums. Dort lebte das Rudel der Klippenwölfe. Nicht gerade die nettesten Nachbarn. Sie würden nicht nachsehen können. Luana wollte keinen Ärger mit ihnen haben.
„Hast du dort … jemanden getroffen?“, fragte Luana nachdenklich. Vielleicht war er vom Klippenrudel angegriffen worden. Oder war das schon, bevor er hierherkam?
„Keine Ahnung, möglich“, gab er zu, zuckte aber hilflos die Schultern. Diese Geste wirkte wesentlich geschmeidiger als noch vor ein paar Minuten. Ein Zeichen, dass er wirklich schon wieder fast geheilt war.
Luana seufzte. Das war überhaupt nicht gut. Was, wenn er ein Spion oder ähnliches war? Aber dann müsste er doch nach einem anderen Rudel riechen, oder?
Was sollte sie jetzt tun?
Langsam liefen sie wieder zurück in die Hütte, während Luana darüber nachdachte, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Vielleicht konnte sie ihn erneut festbinden und dann ihr Rudel informieren. Das wäre wohl die einfachste Variante. Gleichzeitig wollte sie aber auch nicht, dass ihr Bruder sich um die Sache kümmerte. Sie wollte beweisen, dass sie wusste, was sie tat.
Schließlich kehrten sie in die Hütte zurück. Luana blickte auf die Kette in ihrer Hand. Ragnar hatte dazu nichts gesagt. Wahrscheinlich, weil sie sehr leicht zu entfernen war. Es war besser, wenn sie diese ersetzte.
„Setz dich“, wies sie an. Als er sich niedergelassen hatte, nahm sie ihn die Kette wieder ab und warf sie zur Seite. Dann lief sie direkt auf einen der Schränke zu. Diesen öffnete sie, bevor sie einen Schlüssel herausnahm. Dazu ein Band, an dem sie den Schlüssel befestigte. Erst dann holte sie eiserne Fesseln hervor. Diese wurden genutzt, wenn man Wölfe aus fremden Rudeln gefangen hielt. Warum ihr Bruder damals solche hier stationiert hatte, konnte sie nicht sagen, doch sie waren jetzt sehr hilfreich.




„Was wird das?“, fragte Ragnar skeptisch. Er wirkte jedoch immer noch entspannt und nicht, als würde er jederzeit angreifen.
„Ich kann dich nicht frei herumlaufen lassen“, informierte sie ihn versucht kalt, doch sie klang eher ergeben. „Also werde ich dich festketten, während ich meinem Rudel Bescheid gebe, dass ein fremder Wolf in unserem Gebiet ist.“
Ragnar zog zwar skeptisch eine Augenbraue nach oben, seufzte dann aber und hielt ihr seine Arme hin.
Das verunsicherte Luana sehr und sie betrachtete diese, bevor sie auf die schweren Eisenketten sah. Sollte sie oder sollte sie nicht? Es war schwierig und sie musste auf Nummer sicher gehen. Gleichzeitig hatte sie aber auch das Gefühl, dass Ragnar mit dieser Geste irgendetwas bezwecken wollte.
Obwohl es ihr leidtat, legte sie ihm die Fesseln um und verkettete diese dann mit einer im Boden befestigten Eisenkette.
Langsam trat sie zurück und musterte Ragnar nachdenklich. Würde das reichen? „Ich informiere jetzt mein Rudel“, sagte sie warnend und betrachtete den Mann eindringlich. Dieser zuckte die Schultern, als wäre es ihm egal.
Was war er nur für einer?

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