Luana – Kapitel 4


Luana streifte durch den Wald, während sie nicht genau wusste, was sie tun wollte. Ragnars Worte hallten immer wieder in ihrem Kopf wider. Sie konnte nicht ganz glauben, dass sie ein magisches Wesen sein sollte.
Magie gab es in ihrer Welt nicht. Zumindest hatte sie noch nie davon gehört oder etwas gesehen. Wenn es wirklich Magie gäbe, müsste diese doch weit verbreitete sein, da war sie sich sicher. Zudem würde das den Rudeln Vorteile verschaffen, die sie sicherlich nicht einfach so aufgaben.
Vielleicht war Ragnar auch irgendwie geistig gestört? Warum sonst sollte er diese Dinge sagen? Möglicherweise hatte er sich beim Sturz mehr geschadet, als ihr und ihm klar war. Allerdings hätte sie das an seinen Augen sehen müssen. Sie hatte ihn immerhin untersucht und kannte die Anzeichen, die auf eine schwerere Kopfverletzung hindeuteten.
Luana blickte nach oben und seufzte leise. Die Sonne war schon wieder dabei, unterzugehen. Sie musste also schnell zurück, um das Abendessen mit ihrer Familie nicht zu verpassen, sonst würde sie wieder Ärger bekommen.
Sie hasste das Essen mit ihren Brüdern. Es war immer alles so gezwungen fröhlich und sie als einzige Frau am Tisch wurde sowieso oft ignoriert. Eigentlich war es nur Beron, der so mit ihr umging, doch als Alpha hatte er das Sagen und war das Vorbild. Gerade ihre jüngeren Brüder versuchten ihn nachzueifern und das ging schon bei der Behandlung der Frauen los. Diese hatten in ihrem Rudel nichts zu sagen. Sie waren nur dazu da, um möglichst viele Nachkommen zu zeugen. Man traute ihnen im Grunde nicht viel zu, weshalb sie auch Heiler waren, denn diese wurden fast nie gebraucht. Luana durfte sich nicht einmal um den Haushalt oder das Essen kümmern. Das machten ihre jüngeren Brüder. Sie war nutzlos, solange sie keinen Mann hatte. Was auch der Grund war, warum Beron unbedingt versuchte, sie an einen, in seinen Augen, guten Mann zu bringen. Das wiederum hieß, dass sie an das Rudel verkauft wurde, das am meisten für sie bezahlte.
Luana wurde langsamer, als sie ihr Dorf erreichte und sich auf den Weg zu ihrer Familienhütte machte. Dort erwartete sie bereits der Duft von gebratenem Fleisch, doch ihr lief nicht das Wasser im Mund zusammen. Stattdessen bildete sich ein Knoten. Beron hatte sie nicht holen lassen, was hieß, sie würde die Sache beim Abendessen ansprechen. Das würde sicherlich wieder in Chaos enden, was sie nicht wollte. Allerdings konnte sie es auch nicht ignorieren. Ragnar war zwar im Moment gefesselt und wahrscheinlich nicht gefährlich, doch sie wusste nicht, was sie mit ihm machen sollte.
Sie schob den Vorhang zurück und trat in den großen Raum ihres Wohnhauses. Wie erwartet, waren bereits alle da.
Beron saß am Tisch und unterhielt sich mit Heron. Scheinbar über geschäftliches, was normal war. Berons längeres, blondes Haar war zu einem Zopf gebunden und an sich wirkte er sehr gepflegt. Heron, mit seinen kurzen, blonden Haaren, sah seinem älteren Bruder sehr ähnlich.
Heute schienen die Zwillingsbrüder Rudon und Grudon mit dem Abendessen dran zu sein, denn sie konnte Seydon überhaupt nicht sehen. Normalerweise war es ihr jüngster Bruder, der für sie kochte.
„Beron, ich muss mit dir reden“, sagte sie höflich und sich ankündigend. Ihr Bruder machte jedoch nur eine Handbewegung, die ihr bedeutete, dass sie sich gedulden musste. Wieder einmal. „Es gibt im Moment wichtigere Probleme“, sagte er, als wären alle Probleme, die sie melden konnte, nicht wichtig.
Luana seufzte. „Im Wald ist ein fremder Wolf“, sagte sie mit möglichst ruhiger Stimme.
Beron sah sogar zu ihr, doch er schien ihr gar nicht zugehört zu haben. „Ich sagte doch: Es gibt gerade wichtigere Probleme. Seydon ist von einer Patrouille nicht zurückgekehrt“, informierte er sie mit ruhiger Stimme. Luana rutschte das Herz in die Knie. Wie, er war nicht zurückgekehrt? Wieso gerade Seydon? Den Bruder, der ihr so viel bedeutete?
„Was ist denn passiert?“, fragte Luana angstvoll. War ihm etwas zugestoßen?
Erneut erhielt sie eine wegwerfende Handbewegung seitens Beron. „Wahrscheinlich ist er mit dieser einen Wölfin aus dem Nachtwindrudel davongelaufen“, sagte er, als wäre es ihm egal.
Luana senkte den Blick. Sie wusste, dass Seydon diese sehr mochte, aber dass er mit ihr wegrannte, glaubte sie nicht. „Vielleicht hat …“, begann sie, doch Beron ließ sie nicht einmal aussprachen, sondern wies sie an, sich zu setzen, damit sie essen konnten. Dabei wollte Luana vorschlagen, dass Ragnar vielleicht etwas damit zu tun hatte.
Luana schluckte ihren Ärger herunter. Sie würde nicht weitersprechen, um sich selbst nicht in Gefahr zu bringen. Beron neigte dazu, sie zu schlagen, wenn sie nicht tat, was er ihr sagte oder er das Gefühl hatte, sie würde widersprechen.
Also setzte sie sich und hörte ihren beiden Brüdern zu, wie sie sich darüber ärgerten, dass Seydon Informationen von ihrem Rudel verkaufen würde. Sie schienen sich keine Sorgen zu machen, was Luana zusätzlich ärgerte. Seydon war doch noch so jung und unerfahren. Was, wenn wirklich etwas passiert war?
Während ihre Brüder das Essen auftischten und Beron sich darüber hermachte, aß sie langsam und nicht so viel. Sie hatte keinen Hunger. Die Sorge um Seydon war zu groß. Er war ihr liebster Bruder, weil er so sanft war. Zu sanft für die meisten anderen, weshalb er immer ungern gesehen war. Also kam es Beron vielleicht sogar ganz gelegen, dass er weg war.
Als das Essen endlich beendet war, erhob sie sich, bevor sie ging. Es war nicht unüblich, dass sie lange Zeit im Wald verbrachte. Niemand schien es zu stören, denn so war sie nicht im Weg.
Heute würde sie allerdings nicht umherstreifen, sondern nach Seydon suchen. Er konnte immerhin irgendwo liegen und verletzt sein.
Luana versuchte, seinen Geruch aufzunehmen, was sogar überraschend gut klappte. Es war sehr einfach, seinem Duft zu folgen, doch irgendwann mischte sich ein weiterer, fremder Geruch darunter.
Sie schnupperte genauer. Es roch nicht wie eine Werwölfin. Eher männlich.
Langsam folgte sie diesem neuen Mischgeruch und kam so zu einer Stelle, die eigentlich nicht zum normalen Weg ihres Bruders gehörte. Der Geruch führte sie zu einem felsigen Gebiet, das eine Art Steinkreis aufwies, der mutwillig zerstört wurde. Ein altes Portal.
Was hatte ihr Bruder hier gewollt und mit wem hatte er sich getroffen?
Unsicher folgte Luana dem Geruch weiter, bis dieser ganz plötzlich am Steinkreis komplett abriss. Das ließ sie die Stirn runzeln und unweigerlich musste sie an Ragnar denken. Dieser hatte gesagt, dass er durch ein Portal gekommen war. Aber dieses hier war kaputt. Wie also war es möglich, dass Seydons Geruch hier einfach so verschwand?
Was sollte sie jetzt tun? Wenn sie keinen Geruch mehr hatte, konnte sie Seydon nicht folgen.
Angstvoll, aber voller Tatendrang, suchte sie die nahe Umgebung ab. Vielleicht war der Geruch an einer anderen Stelle wieder da und sie konnte ihm weiter folgen.
Erst, als sie keine weiteren Duftspuren fand, gab sie die Hoffnung auf.
Was sollte sie jetzt tun?
Mit hängenden Schultern gab Luana die Suche nach ihrem Bruder auf. Sie könnte Beron in Kenntnis setzen, doch den würde es sowieso nicht interessieren. Ohne ihn hätte sie aber auch keine Rückendeckung. Sie konnte also nichts tun.
Langsam lief sie zu ihrer Hütte, um dort zu überlegen, was sie tun sollte.
Als sie die Tür öffnete, bemerkte sie Ragnar, der an der Wand lehnte und döste. Diesen hatte sie ganz vergessen. Ihre Gedanken waren bei ihrem Bruder gewesen, aber nun hatte sie eine Idee. Wenn Ragnar durch ein Portal gekommen war, wusste er vielleicht, wohin ihr Bruder verschwunden war. Sollte dieser wirklich durch das Portal verschwunden sein? Sicher war sie sich dabei allerdings nicht. Es konnte auch ein Trick sein.
Luana lief auf Ragnar zu und ließ sich vor ihm nieder. Vielleicht war es naiv und dumm, doch er hatte von Magie gesprochen und sie war begierig darauf, mehr zu erfahren. Jetzt, wo sie sich wieder etwas beruhigt hatte, konnte sie die Vorteile dieser Dinge sehen. „Erklär mir, was es mit der Magie auf sich hat“, sagte sie, da sie bemerkte, dass er schon nach ihrem Eintreten nicht mehr geschlafen hatte.
Ein Gähnen verließ Ragnars Mund, wobei er ihr seine blitzenden Zähne zeigte und dann streckte er sich leicht, bevor er die Augen öffnet. Das Eisblau seiner Iriden richtete sich direkt auf Luana und seine Lippen zierte ein leichtes Lächeln. „Hast du dich dazu entschieden, mir zu glauben?“, fragte er, wobei er neckend klang. Etwas, was Luana durchaus wütend machte. Daher ballte sie die Fäuste, doch sie wiederholte lediglich ihre erste Aufforderung.
„Magie ist das Nutzen von Sternenstaub, der überall in der Luft vorhanden ist“, erklärte Ragnar mit ruhiger Stimme. Er wirkte sogar irgendwie wie ein Lehrer. „Als magisches Wesen kann man diesen bündeln und nutzen. Je nach magischer Klasse auf eine ganz andere Art“, sagte er, was Luana die Stirn runzeln ließ.
„Was soll das mit den Klassen?“, fragte sie irritiert. In diesem Punkt verstand sie ihn immer noch nicht.
„Jedes Wesen, das geboren wird, wird einer Klasse zugeordnet. Nicht willkürlich, sondern nach dem, wie es die Magie nutzen kann. Entweder kann es den Sternenstaub gar nicht nutzen, dann nennt man diese Wesen Imps. Kann das Kind die Magie nutzen, um außerhalb seines Körpers Dinge zu erschaffen, dann gehört es der Klasse der Magier an. Kann es seinen eigenen Körper stärken oder Zauber auf Dinge wirken, dann nennt man sie Krieger. Heiler hingegen können mit dem Sternenstaub in fremde Körper eindringen und diese manipulieren“, begann Ragnar zu erklären und blickte sie dabei die ganz Zeit an, als würde er warten, dass sie ein Zeichen gab, wenn sie etwas nicht verstand.
Luana runzelte die Stirn. „Und was sollte das die ganze Zeit damit, dass ich eine Heilerin bin? Ich kann doch gar keine Magie verwenden“, sagte sie und war sich immer noch nicht sicher, ob Magie in dieser Welt überhaupt existierte. Vielleicht gab es diese hier gar nicht?
„Ich spürte es an deiner Aura“, meinte Ragnar mit sanfter Stimme.
Luana schnaubte. „Was ist denn jetzt schon wieder eine Aura?“, fragte sie. Damit konnte sie ebenfalls nichts anfangen.
„Du kannst es dir wie eine Art unsichtbaren Mantel vorstellen. Man kann ihn spüren und auch sehen“, sagte er, wobei er sie nachdenklich musterte. „Du glaubst mir nicht, oder?“, wollte er wissen.
Luana zuckte die Schultern. „Es ist schwer dir zu glauben, wenn du von so etwas Seltsamen wie Magie sprichst“, gestand sie. Sie hatte nicht einmal eine Ahnung, wie sie sich Magie überhaupt vorstellen sollte. Was war damit möglich?
Ragnar schmunzelte und hob seine Hände, an denen die Ketten klirrten. „Sieh her“, wies er an, sodass Luana seine Hände nun genauer betrachtete.
Panisch riss sie die Augen auf, als sie sah, wie sich die Metallbänder plötzlich verbogen und schließlich wie von Geisterhand geöffnet wurden.
Keuchend wollte sie aufspringen und zurückweichen, doch sie plumpste eher nach hinten, weil ihr Körper nicht ganz mitmachte. War das Magie?
„Jedes Wesen wächst mit einem Element auf, zu dem es eine Affinität hat. Meines ist Metall“, erklärte Ragnar grinsend. „Aber das hindert mich nicht daran, auch die anderen elf Elemente zu beherrschen.“
Luana schwirrte der Kopf.
Dieser Mann hätte sich jederzeit befreien können! Ihr wurde klar, dass sie die ganze Zeit in Gefahr gewesen war. Sie hatte sich nur sicher gefühlt, weil er angekettet gewesen war, doch nun war er das nicht mehr. Zudem beherrschte er Magie, die sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Was konnte er damit noch tun?
„Du musst keine Angst haben“, versicherte Ragnar mit sanfter Stimme. „Ich habe kein Interesse daran, dir zu schaden“, sagte er, doch Luana wusste nicht, ob sie seinen Worten Glauben schenken sollte.
„Warum bist du hier?“, fragte sie etwas atemlos, während sie noch weiter zurückkroch.
Ragnar seufzte. „Ich suche eine neue Heimat, in der ich friedlich leben kann“, sagte er, wobei er irgendwie erschöpft wirkte.
Luana wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. In ihrem Rudel würde man ihn sicherlich nicht aufnehmen, aber mit Magie kam er vielleicht sogar allein klar. Vielleicht …
Luana schluckte. Diese Idee war verrückt, aber es wäre eine Möglichkeit für sie, selbstständig zu werden. Was, wenn sie ihn irgendwie dazu bringen konnte, ein eigenes Rudel zu gründen? Dabei könnte sie ihm helfen. Er war zwar noch immer ein Fremder, doch wesentlich angenehmer als die Männer ihrer Familie. Er wirkte viel zuvorkommender und nicht ansatzweise so herablassend, wie ihr Bruder Beron. „Kannst du … Kannst du mir die Magie beibringen?“, fragte sie, obwohl sie noch immer Angst hatte. Gleichzeitig sah sie aber auch den Weg, der sich vor ihr auftat. Ein Weg in eine Zukunft, die nicht daraus bestand, einem Alpha zu dienen, sondern möglicherweise eine Position zu bekommen, die nicht auf Willkür beruhte und in der sie nicht einfach nur da war, sondern nützlich.
„Ich kenne mich mit Heilermagie nicht so gut aus, aber ich denke, die Grundlagen werde ich dir beibringen können“, stimmte Ragnar zu. Für ihn schien diese Frage nicht unerwartet zu kommen und der Umgang mit Magie normal zu sein. Selbst für eine Frau, was Luana noch mehr Hoffnung gab.
Gleichzeitig spürte sie, wie die Anspannung von ihr abfiel und sich Freude in ihr breit machte. Sie glaubte nicht, dass sie wirklich Magie lernen konnte, doch allein die Vorstellung, dass jemand bereit war, ihr etwas beizubringen, war wunderbar. Sie freute sich sehr darauf und hatte ein kleines bisschen Hoffnung, dass sie vielleicht doch etwas konnte.
































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