Mirinia-Kapitel 5

Kapitel 5

Als Mirinia vor der Windmühle stand, staunte sie nicht schlecht. Diese war zwar alt, aber bis auf den fehlenden Flügel gut in Schuss. Was sie aber besonders überraschte war die Größe. Bisher hatte sie selten ein so großes Bauwerk gesehen. Sie war sich nicht einmal sicher, ob dieses überhaupt für normale Menschen entworfen wurde. „Lebten hier früher andere Arten?“, fragte sie, denn diese Größe würde eher auf riesenähliche Wesen hindeuten.

„Laut den Legenden, ja“, erwiderte Dylan, als würde es ihn nichts angehen.

Das Dorf schien älter, als Mirinia erwartet hatte. Was es wohl noch so für interessante Legenden gab?

Mirinia ließ sich auf einem größeren Stein nieder und zog ihren Skizzenblock hervor, was Dylan dazu verleitete, zu ihr zu gehen. „Du meintest das ja wirklich ernst“, stellte er überrascht fest, während er den Block neugierig musterte.

Mirinia sah auf und schenkte ihm ein Lächeln. „Natürlich. Ich mache sowas sehr gern“, bemerkte sie. Was nicht einmal gelogen war. Genau wie singen gehörte malen zu ihrer liebsten Beschäftigung. Allerdings musste sie hier ein wenig detaillierter sein, denn es sollte einem Architekten als Hinweis dienen. So, dass sie berechnen konnten, wie viel es am Ende kostete und was für Materialien sie brauchten.

Dylan ließ sich neben ihr nieder und blickte neugierig auf das Papier.

Obwohl Mirinia seinen Blick deutlich spürte, versuchte sie, sich davon nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Sie würde einfach ganz normal zeichnen.

Mirinia wollte gerade mit dem Bleistift ansetzen, als die große Tür aufging und ein Mann herausgestürmt kam. Er sah sehr klein aus, wenn man die Windmühle betrachtete, doch er war etwa zwei Köpfe größer als Mirinia und musste wohl der Müller sein.

„Schert euch weg“, rief er aufgebracht.

Mirinia zuckte zusammen, während sich Dylan erhob. Er steckte seine Hände in die Hosentasche und blickte den Mann ruhig an. Er schien sich von dem Gemecker des Mannes nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. „Schon gut, Micas“, sagte er mit seiner tiefen Stimme und der Mann hielt sofort inne, bevor er die Augen zusammenkniff, als würde er Dylan gar nicht richtig erkennen.

Mirinia beobachtete das sehr genau und fragte sich, ob der Mann vielleicht etwas mit den Augen hatte.



„Ach, du bist es, Dylan“, sagte er plötzlich, als hätte er diesen an der Stimme erkannt.

„Ich zeige unserem Gast nur das Dorf. Sie will deine Windmühle malen“, erklärte er, als wäre wirklich nichts dabei.

Micas stieß die Luft aus. „Na ich hoffe, du lässt dich gut dafür bezahlen“, merkte er an, bevor er Mirinia musterte. Dazu kam er recht nah, doch sie zog sich nicht zurück. Wenn er wirklich kurzsichtig war, wäre das unhöflich.

Dylan neben ihr schmunzelte, doch Mirinia ließ sich davon nicht aus der Ruhe bringen. „Eure Windmühle ist wirklich sehr schön. Darf ich fragen, wie alt sie ist?“, wollte Mirinia wissen, die hoffte, dass er zu einer kleinen Unterhaltung bereit war. Allerdings zog sich der Müller nur zurück.

„Seit Generationen in Familienbesitz“, brummte er und drehte sich dann wieder um. „Hab Arbeit zu erledigen“, bemerkte er, als Mirinia gerade fragen wollte, wieso die Windmühle kaputt war und ob er sie reparieren konnte. Allerdings beließ sie es erst einmal dabei. Stattdessen sah sie zu Dylan.

„Die Leute hier sind aber nicht gerade gesprächig“, bemerkte Mirinia, die zu Dylan blickte. Dieser zuckte nur die Schultern.

„Verübeln kann man es ihnen wohl nicht.“

Da hatte er wohl recht.

Mirinia wollte sich gerade wieder ihrer Skizze widmen, als es in der Ferne drei Mal knallte.

Sie zuckte zusammen und sah auf, während ihr Herz heftig zu schlagen begann. Dank ihrer Vergangenheit konnte sie die Geräusche mit einem Gewehr verbinden. Solche Waffen hatte sie hier nicht erwartet. Es gab sie nur in sehr hoch technologisierten und vor allem reichen Gebieten, die fast ausschließlich von Imps bewohnt waren. Was also machte eine solche Waffe hier? War vielleicht ein Besucher auf den Weg oder gab es jemanden, der Geld investiert hatte, um damit zu jagen? Sie hatte sich sagen lassen, dass es viel effektiver war als mit einem Bogen.

Dylan erhob sich schwungvoll. „Ich muss los. Hab noch was zu tun“, bemerkte er, als wären die Knallgeräusche eine Aufforderung an ihn gewesen. „Du bleibst hier, ich hol dich wieder ab“, bemerkte er ernst.

Mirinia blickte blinzelnd zu ihm auf und fragte sich, ob sie sich verhört hatte. Bevor sie ihm jedoch antworten konnte, dass sie das nicht tun würde, lief er auch schon los.



Die junge Königin beobachtete ihn, bis er ganz aus ihrem Blickfeld verschwand. Dann widmete sie sich wieder ihrer Skizze.

Sie hatte gerade die groben Umrisse gezeichnet, als sie ein Geräusch hörte, das an eine Tür erinnerte. Als sie aufblickte, erkannte sie, wie sich eine menschengroße Tür an der Mühle öffnete und ein kleines Mädchen hinausgerannt kam. Direkt auf Mirinia zu.

Diese beobachtete das Mädchen, das mit großen Augen vor ihr zum Stehen kam. „Bist du die fahrende Sängerin?“, fragte sie ganz aufgeregt.

Das zauberte Mirinia ein Lächeln auf die Lippen. Scheinbar war sie Micas Tochter. Es war schön zu sehen, dass es hier doch Kinder gab.

„Das bin ich. Du kannst mich Miri nennen“, erwiderte Mirinia mit einem sanften, mütterlichen Lächeln.

„Ich bin Ava“, strahlte sie. „Singst du mir bitte etwas vor?“, bat sie ganz aufgeregt.

Mirinia ließ ihren Blick über das Mädchen schweifen, das sie für um die sechs Jahre hielt. Ihr einfaches Leinenkleid war oft geflickt und mit viel Mehlstaub bedeckt. Trotzdem wirkte sie nicht, als wäre sie unterernährt, was Mirinia beruhigte. Ein Lächeln stahl sich auf ihre Lippen, bevor sie den Block zur Seite legte. Dann stimmte sie ein altes Lied an, das man ihr als Kind immer vorgesungen hatte. Über eine legendäre Meerjungfrau und ihren versunkenen Schatz.

Gebannt hörte das Mädchen zu und als Mirinia endete, klatschte sie ganz begeistert. „Du hast eine so schöne Stimme“, freute sich Ava, die vor Aufregung ganz rot im Gesicht war. Scheinbar gab es hier im Dorf selten etwas Neues.

Allerdings war der Moment recht schnell vorbei, denn Micas kam herausgestürmt. „Ava“, tadelte er seine Tochter ernst. „Ich habe dir gesagt, dass du die junge Dame nicht belästigen sollst.“ Er packte Ava am Arm und zog sie wieder Richtung Mühle.

„Sie hat mich nicht belästigt“, rief Mirinia hinterher, die gern noch mehr Zeit mit dem Mädchen verbracht hätte. Allerdings glaubte sie, dass des dem Müller nicht darum ging, dass Ava sie belästigte, sondern eher, dass er Angst hatte, Mirinia könnte seiner Tochter etwas tun. Immerhin war sie eine Fremde im Dorf.

Also wartete sie, bis beide gegangen waren und widmete sich dann wieder ihrer Zeichnung.



Als diese fertig war, begann sich die Sonne bereits langsam gen Horizont zu neigen, weshalb sie sich erhob. Dylan war bis jetzt noch nicht zurückgekehrt und sie hatte nicht vor, zu warten. Außerdem war jetzt die perfekte Zeit, um sich mit Evel zu treffen. Mirinia war wirklich neugierig herauszufinden, was diese alles mitbekommen hatte.

Während Mirinia durch die anbrechende Nacht auf den großen See zusteuerte, summte sie vor sich hin. Bisher ging alles recht gut. Vielleicht ein wenig zu gut, aber es war auch erst der erste Tag. Sie würde nicht zu viel erwarten und es in kleinen Schritten angehen.

Als sie die Ruinen erblickte, sah sie sich um, bevor sie sich Richtung Himmel streckte. Das Zeichen für Evel. Wenn die Luft rein war, würde sie landen. Sollte jedoch jemand nah genug sein, um sie zu beobachten, würde sie bleiben, wo sie war.

Es dauerte jedoch nicht lang, da landete sie direkt neben Mirinia und schüttelte ihre Flügel aus. Man sah ihr nicht an, ob sie erschöpft darüber war, die ganze Zeit über ihr zu kreisen. „Hattet Ihr Spaß?“, fragte sie nüchtern, was Mirinia ein Lächeln auf die Lippen zauberte.

„Oh ja“, erwiderte sie gut gelaunt, während sie begann, sich zu entkleiden. Sie würde noch einen kurzen Abstecher zu Cassian machen. Immerhin war sie neugierig, was er herausgefunden hatte.

„Als Ihr in die Taverne seid, habe ich mir wirklich Sorgen gemacht“, grummelte Evel, die sogar ein wenig beleidigt klang.

Mirinia schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. Sie wusste ja, dass Evel sie dort nicht hatte beschützen können, doch es war nötig. Außerdem konnte die Vampirin nicht immer an ihrer Seite sein. „Die Dorfbewohner sind gar nicht so schlecht“, erklärte sie beruhigend, während sie die Kleidung zusammenfaltete und Evel reichte.

„Und trotzdem“, beharrte Evel ernst. „Ihr müsst vorsichtig sein“, erinnerte sie Mirinia, die lediglich nickte. Sie wusste mittlerweile, dass es hier Sklavenhändler gab und ihr Aussehen sie vermutlich anlockte. Meerjungfrauen sah man nicht mehr allzu oft an Land, auch wenn Mirinia nicht annahm, dass sie wussten, welcher Art sie angehörte.

„Das werde ich“, versprach sie und tauchte dann ab. „Schau du bitte, wie weit das nächste Dorf mit Handwerkern entfernt ist.“



Da sie neugierig war, machte sie sich nicht sofort auf den Weg zurück zum Schloss, sondern tauchte in den See hinab. Dort wurde es schnell dunkel, doch Mirinia störte das nicht. Als Meerjungfrau konnte sie im Dunkeln sehr gut sehen, sonst hätte sie ein paar Probleme bekommen.

Als sie den Grund erreichte, entdeckte sie wunderschöne Korallenriffe, aber nichts, was auf ein altes Wesen hindeutete, das hier vielleicht hauste.

Obwohl Mirinia ein wenig enttäuscht war, hatte sie das fast erwartet. Vermutlich war es wirklich nur eine Legende, oder es steckte etwas anderes dahinter.

Mirinia drehte ab und machte sich auf den Weg zu Cassian. Sie konnte dieser Sache später nachgehen. Irgendwann, wenn sie Zeit hatte. Was als Königin eigentlich nur selten der Fall war.

Kommentare