Kapitel 1 – Grabbesuch
Eine sanfte Frühlingswiese wirbelt den intensiven Duft der Freesien auf und verteilt die süßen Noten in der Umgebung. Das Herz zieht sich krampfhaft zusammen und wird schwer wie Stein. Die Sonne strahlt am Himmel und vertreibt das milde Klima. Samiras Welt hingegen bleibt kalt und dunkel. Die geliebten Blumen ihrer Schwester geraten in Mitleidenschaft und doch findet Samira etwas Trost an dem Duft. Ihre Schwester war voller Anmut, talentiert in der Schwertkunde, diszipliniert und vom Volk geliebt. Aus ihr hätte eine wunderbare Königin erwachen können. Nur folgte der brutale Schnitt, noch ehe sich die Blumenknospe zur vollen Schönheit entfalten konnte. Jung und voller Potenzial verwelkte das Leben durch Fremdeinwirkung. Ein Attentat und der Täter befindet sich noch auf freien Fuß.
Gebeugt über den Grabstein lässt Samira schweren Herzens ihr Geschenk fallen. Geschmückt wird der Grabdeckel von sämtlichen Blumenschmuck, aber nicht eine einzige Freesie lässt sich dort finden. Keiner kannte Prinzessin Cassandra wirklich. Dabei trug sie täglich ein Parfüm. Gewonnen aus ihrer Lieblingsblume, die auf dem Fensterbrett ihres Zimmers noch immer zu finden ist. Exoten aus der Familie der Schwertliliengewächse.
Vor wenigen Wochen lachten beide Schwestern sorglos und bepflanzten die Krüge. Die Vorfreude war groß und nun endlich haben sich die Köpfe der Freesien erhoben Aber Cassandra kann ihr Werk nicht mit eigenen Augen betrachten. Die Hälfte der Blüten sind daher ein Mitbringsel. Die Früchte der Ernte. Die Zwiebelpflanze steht für bedingungslose Liebe. Es klingt romantisch und vielleicht würde es besser passen, wenn sie nicht das Band als Schwestern verbindet, sondern als Paar. Doch auch wenn Samira blutsverwandt ist und ihre Schwester auf eine andere Art liebt statt wie ein Liebhaber, so sind ihre Gefühle bedingungslos und aufrichtig.
Gleichzeitig steht die Freesie für Unschuld. Obwohl sich Cassandra der Schwertkunde unterzog, diente diese Fähigkeit zum Schutz und nicht zur Vernichtung. Cassandra war gütig, mitfühlend und immer gerecht. Sie sprach offen und ehrlich. Mit viel Feingefühl und beherrscht. Anders wie ihre aufbrausende Schwester. Die Last des Königreiches liegt nun auf Samiras Schultern. Eine Bürde, die sich die Jüngste nie wünschte und deren zukünftige Pflichten ihr Magenschmerzen bereiten. Nicht mal ansatzweise käme Samira dem Bild einer potenziellen Königin heran.
Blecherne Schritte stören die Totenstille. Eine Person in schwerer Rüstung nähert sich dem Grab. Vielleicht der Attentäter. Es wäre Samira nur Recht, ihrer Schwester schnell zu folgen. Ergeben schließt die Trauernde die Augen. Darauf konzentriert ruhig zu atmen und all die Ängste ihres Körpers auszublenden.
„Prinzessin Samira!“
Im Ruf versteckt sich keine Feindseligkeit, sondern aufrichtige Sorge.
Die Schritte werden langsamer.
„Wo ist Eure Eskorte, Prinzessin?“
Die Anwesenheit der Leibwächter wäre störend. Mit ihnen im Schlepptau könnte Samira ihre wahren Gefühle niemals richtig zeigen. Auf Ärger hatte sie sich eingestellt, als der Plan stand, sich still und heimlich aus dem Schloss zu schleichen.
Sämtliche Tränen werden erfasst und eilig aus dem Gesicht gewischt. Ein tiefer Atemzug und Samira nimmt eine würdevolle Haltung an. Sie streckt den Rücken durch und hebt den Kopf mit den tonnenschweren düsteren Gedanken. Denn es hätte sie treffen müssen und nicht Cassandra. Die Welt betrauert wahrlich einen großen Verlust. Und doch strafft Samira die Schultern. Nun fehlt das königliche Lächeln. So düster die Zeiten auch sein mögen, sollen König Thorbens Töchter keine Schwäche zeigen. Vor wenigen Tagen war es ein Leichtes, die Mundwinkel zu heben. Nun aber kämpft Samira mit einigen Anläufen, die der Fremde zum Glück nicht zu sehen bekommt, da er nur auf ihren Rücken blickt.
„Würdet Ihr meiner Schwester und mir noch einen kleinen Moment geben?“
Die Stimme zittert und auch das Herz schlägt verräterisch laut. Damit ist all die Mühe, stark zu wirken, vergebens.
„Natürlich, Prinzessin. Verzeiht. Ich begebe mich in den Hintergrund und wache als Euer Begleitschutz.“
Verärgert bleckt Samira die Zähne. Die vorgeschlagene Distanz ist für sie persönlich nicht angemessen. Aber der Beschützer des Reiches scheint pflichtbewusst und engstirnig zu sein. Er wird vermutlich keine Widerworte dulden und das war seine Art von Kompromiss, womit sie sich zufriedengeben muss. Auch wenn es ihr nicht passt.
Das königliche Schweigen scheint der Fremde als Bestätigung zu betrachten, denn sie lauscht den Schritten, die in die Ferne rücken. Daher erhebt sich Samira. Darauf bedacht, ihm weiterhin den Rücken zu kehren. An die Kante des Grabes, nah an der Innenschrift, nimmt sie nun Platz und streicht zaghaft über die Schriftzüge. Buchstabe für Buchstabe. Zahl für Zahl. Der Stein aus weißem Marmor scheint hochwertig zu sein und auch der goldene Schriftzug wurde fein säuberlich gesetzt. Nur fehlt der Feinschliff. Der Korb liegt nah an ihren Füßen. Gefüllt mit den schönsten Farben, die Samira besitzt. Cassandra hatte kein künstlerisches Talent. Neben der Schwertkunde war sie ein strategisches Genie, das auch mit Zahlen gut jonglieren konnte. Doch sie beneidete Samiras malerische Fähigkeiten und wünschte sich zu jedem Fest ein neues Bild für die eigene Galerie. Einmal fertigte Samira sogar ein Porträt von ihrer Schwester an. Cassandras Augen haben noch nie so schön gestrahlt.
Spiegelglatt und somit eine wahre Herausforderung. Der Untergrund ist anders wie die Leinwände, die Samira verwendet. Aber das soll kein Hindernis werden. Die ganze Nacht war sie damit beschäftigt, Entwürfe anzufertigen und Ideen zu sammeln. Der Entschluss fiel schnell. Jeder Besucher soll die Schönheit ihrer Schwester mit eigenen Augen zu sehen bekommen. Der Pinsel ist schnell gezückt und die ersten Farbschichten werden aufgetragen. Detailliert entsteht nach und nach das Abbild von Prinzessin Cassandra, wie sie in ihrer weißen Uniform den Schwertgriff an ihrer Hüfte umklammert und den Kopf zum Himmel hochstreckt. Das Gesicht entspannt und glücklich. Das rubinrote Haar trotz Wind gepflegt und in Form gehalten. Geschmückt von einer einzelnen Blüte. Ganz nah erwacht der Kirschbaum in seiner vollen Pracht und die Kirschblüten werden vom Wind zu ihrer Schwester geweht. Unten am Boden blühen die geliebten Freesien, auch wenn die Blütezeit nicht zum Kirschbaum passt, handelt es sich um Dinge, die Cassandras Herz erwärmten.
Der Fokus liegt auf dem Gemälde, sodass die Anwesenheit des Ritters unbemerkt bleibt. Kaum sinkt der Pinsel hinab, zieht sich das Herz schreckhaft zusammen, als Samira einen Mann ausmacht, der ständig an Cassandras Seite verweilte. Ein Freund, ein Trainingspartner und ein talentierter Ritter. Im gleichen Alter wie Cassandra und einer der wenigen, der seine Schwester behandelte, als stehen sie auf gleicher Höhe. Keine Extraprivilegien und Sonderbehandlungen, wenn es ums Schwertraining ging. Cassandra erwähnte seinen Namen des Öftern, aber ihre Schwester machte sich nicht die Mühe, sich auch nur einen Namen aus der Ritterschaft zu merken. Andere Dinge hatten Prioritäten. Nie nahm sie die sanften Gesichtszüge des jungen Mannes wahr. Er lächelt nicht künstlich. Es wirkt aufrichtig. Wie purer Sonnenschein. Und seine Augen erinnern an den schönsten wolkenfreien Himmel. Seine Mähne hingegen ist wild und erinnert an einen goldenen Löwen. Kein wildes Tier aus den Büchern oder wie der aus der Zirkusvorstellung, die sie mit ihrer Familie vor einigen Jahren besuchte. Der Ritter wirkt wie eine besänftigte Raubkatze, die das Wetter genießt, aber bei Gefahr wüten wird.
„Seid Ihr Euch sicher, dass Euer Vater das Gemälde am Grab gutheißen wird, Prinzessin?“
Ehrliche Sorge spricht aus dem Ritter. Auch wenn seine Augen auffällig glänzen, als er ihre Kunst genauer betrachtet. Fast, als teile er Cassandras Begeisterung.
Furcht vor den Konsequenzen spürt Samira keine. Ganz im Gegenteil. Erleichterung macht sich in ihr breit. Ein kleines Stück innerer Frieden.
„Er wird es akzeptieren müssen, denn das ist mein Abschiedsgeschenk an meine Schwester.“
„Eure Schwester kann sich glücklich schätzen. Ich bin mir sicher, sie würde sich freuen, schließlich schwärmte sie bei jeder Gelegenheit über Eure Kunst.“
Auf solch ein Kompliment war Samira nicht vorbereitet. Ihre Wangen fangen Feuer und das Herz schlägt dankbar laut. Die freudigen Reaktionen ihrer Schwester waren Ehre und Motivation genug. Nie käme es ihr in den Sinn, dass Cassandra auch bei anderen von ihren Werken schwärmte.
Zum Glück ruhen die Augen des Ritters auf dem Grabstein, daher dreht sich Samira eilig von ihm weg und klatscht ihre Hände auf ihre Wangen. Ein Appell an sich selbst, ihre Emotionen im Griff zu bekommen. Angemessen für eine zukünftige Königin.
































Kommentare