Kapitel 15
Auch damals raschelte der Wind in den Büschen. Äste brechen unter dem Gewicht von Tieren. So viel Leben steckt in Wäldern. So viele Abenteuer. So viele Geheimnisse ruhen an den fast unberührten Orten. Damals auch wie heute. Furcht hält die Menschen von den Wäldern fern. Furcht vor dem Unbekannten. Furcht dank schaurigen Erzählungen und gefährlichen Sichtungen. Furcht, die Rebecca auch damals verspürte. Als Kind. Auf Kosten ihres Bruders, der sich gerne Scherze mit ihr erlaubte. Ein Blick zwischen die Bäume und sie erinnert sich an jenen schicksalhaften Tag, als sei es gestern gewesen.
Ein verirrtes Kind. Allein unterwegs im stockfinsteren Wald. Auf zittrigen Beinen stand sie im Nirgendwo. Ein schwerer, süßerdiger Duft stieg ihr in die Nase. Sie roch das Moos, die Nadelbäume und Pilze. Während die Kälte bis in ihre Knochen wanderte.
„Joel“, bibberte sie.
Es war mehr ein Flüstern. Ihr Bruder musste sich schrecklich amüsiert haben, wenn er sie so sah.
„Du bist so ein Angsthase, Rebecca“, bekam sie von ihm zu hören.
Er war ganz in der Nähe, sie lauschte seinen Schritten.
„Ich will von hier fort, Bruder.“
„Öffne deine Augen, Rebecca. Öffne sie“, forderte ihr Bruder ganz aufgeregt.
„Joel! Meine Augen sind geöffnet! Aber ich sehe nichts! Es ist zu dunkel!“
„Dann, meine geliebte Schwester, hast du deine Augen nicht richtig geöffnet. Schärfe deine Sinne und gewöhne deine Augen an die Dunkelheit. Wie eine Katze.“
Joel formte seine Schwester seit jenem Tag. Er lehrte sie zu überleben. Auf seine ganz besondere Art. Vier Jahre vergingen seit ihrem Abschied. Seitdem befindet er sich auf Reisen. Keine Nachricht, kein Besuch. Nur traurige Stille. Hoffnung keimt in Rebecca, wenn sie an den Alchemisten denkt. Findet sie die Hexe, steht Clive in ihrer Schuld. Der Alchemist wirkt klug. Vielleicht entpuppt er sich als guter Spurenleser, denn Rebecca will nicht länger von ihrem Bruder getrennt sein. Niemand verstand sie besser als Joel. Heimat wäre dort, wo beide Geschwister vereint wären. Nicht, wo sie geboren worden. Keinen Tag mag sie länger in der Stadt versauern.
Kühle Luft und Nässe ließ das Unwetter zurück. Tiefe Pfützen und Matsch werden die Jagd erschweren. Eine kleine Herausforderung, der Rebecca freudig entgegenblickt. Die Dunkelheit wurde zu ihrem besten Freund. Ihr Schutz. Ihr Element.
„Danke für die nächtlichen Ausflüge, kleiner Bruder. Ich sehe und ich höre mein Umfeld nun“, spricht Rebecca mit dem Kopf zum sternenklaren Himmel gewandt.
In der Hoffnung, er könne sie hören, wo auch immer er gerade rumlungert. Ohne ihn wäre sie nicht diejenige, die sie heutzutage ist. Frech, selbstbewusst und unabhängig. Ihre Augen erfassen die Konturen der Bäume, der Büsche und auch die Spuren auf dem Waldboden. Wenn auch nicht ganz so deutlich als am helllichten Tag. Der vertraute Geruch der Wälder steigt ihr in die Nase. Die kühle Luft füllt ihre Lungen. Aus dem jungen, ängstlichen Häschen wuchs ein Luchs heran. Auf leisen Sohlen schleicht Rebecca unbemerkt durch die dichte Finsternis. Still und heimlich an den Bäumen vorbei.
Auch die Nase wurde trainiert, so nimmt Rebecca Gerüche bewusster wahr, anders wie die bequemen Stadtbewohner. Sina duftet untypisch für einen Menschen. Mehr wie eine aromatische Blume. So stark, dass Rebecca sich fragen musste, warum die Bienen und Hummeln sie bislang verschonten. Sinas blumige Note liegt in der Luft. Erst kürzlich wandelte die Hexe an jenem Ort. Ein gutes Zeichen, denn dann kann sie noch nicht weit gekommen sein. Die beschädigten Zweige und die Fußspuren verraten Rebecca den Weg. Sie hält jedoch inne, als das Wolfsgeheul ihre Ohren erreicht. Ausgerechnet Wölfe. Ihre Rufe kommen aus unmittelbarer Nähe. Anmutige Tiere, denen Rebecca nicht schaden will. Aber die Fährte führt durch das Jagdgebiet. Keine guten Aussichten.
Unvorbereitet kann das Fortschreiten den Tod bedeuten. Daher hat etwas anderes oberste Priorität. Rebeccas Finger fahren hinab zu ihren Gürteltaschen und überprüfen auf die Schnelle den Inhalt. Ihre Ausrüstung scheint vollständig zu sein. Nur kurz bereitet sie sich mental auf eine Konfrontation mit einem Wolfsrudel vor. Drei tiefe Atemzüge später stürmt sie voran. Mit leeren Kopf. Frei von all den Sorgen und unnötigen Gedanken, die sie bremsen können. Die Mehrheit der Leute tritt falsch auf und verrät sich somit. Statt mit der Ferse sollte der ersten Bodenkontakt durch den Mittelfuß erfolgen. Im Dunkeln mag es schwerer sein wie am Tag und doch achtet Rebecca auf kleine Zweige, die sie verraten könnten.
Das Nachtleben befindet sich im vollen Gange. Überall raschelt, kratzt und nagt es in den Büschen. Auch die Nachtvögel beteiligen sich aktiv an der Geräuschkulisse. Die Eulen verraten ihre Positionen mit ihren Zwischenruf. Auch dem Gesang der Nachtigall lauschen nur die wenigsten Menschen, dabei klingt die Natur befreiend. In der Wildnis fühlt sich Rebecca mehr willkommen als im lauten Stadtlärm. Ein kontrollierter Atem steigert die Leistung eines Menschen. Etwas, das Joel erkannte und ihr zu Beginn ans Herz legte.
Vor einem steilen Abhang bremst Rebecca rechtzeitig ab. Ihr Blick schweift umher Die Ohren bleiben gespitzt. Das bizarre Bild, was sich ihr dort bietet, lässt sie an allem Zweifeln, woran sie festhält. Die Hexe wandelt nicht allein. Sondern in Begleitung von Tieren. Ganz andere Kaliber wie die niedlichen Vögel, die sie im Anwesen in ihren Bann gezogen bekam. Ein ausgewachsener Bär bereitet Sina besonders Sorge. Statt Sina als Bedrohung zu betrachten, läuft er beschützend neben der Hexe. Wenn das pelzige Tier sie mit seinen Klauen trifft, dann hat Rebecca nichts mehr zu lachen.
Joel würde ihr sicherlich mit einem Lachen raten: „Sei schneller als der Bär.“
Mit einem tiefen Atemzug rollt Rebecca die rechte Schulter. Die Seite, die zuschlägt. Ihre Art von Kampfansage.
Was für Aussichten! Prügelei mit einem Bären. Das wird nur Joel ihr glauben. Aber die Art, wie sich Sina fortbewegt, hält Rebecca vor Augen, dass Sina häufig in der Wildnis unterwegs war. Sinas Beinmuskeln sind Rebecca bereits im Anwesen ins Auge gesprungen. Es scheint, als sei Sina überhaupt nicht wehrlos, wie der erste Eindruck vermittelt. Die Gedanken werden von einem Hecheln unterbrochen. Eine einzelne Schweißperle tropft von der Stirn, als die vielen Schritte wahrgenommen werden. Verdächtig nah. Viel Zeit wird Rebecca nicht bleiben, um den anlaufenden Gefahr zu entkommen. Ein Griff hinab zum Gürtel und schon schnappt sie sich das gewünschte runde Gefäß. Durch das ganze Laub wird die Glasphiole nicht am Boden zerbrechen, zum Glück befinden sich große Steine in ihrer Nähe. Sie darf nur nicht verfehlen, denn sie hat nur diesen einen Versuch.
Ein Schulterblick und ihr Verdacht bestätigt sich. Das Wolfsrudel hat sie gefunden und schleicht bereits an. Bis zum Augenkontakt. Zeit, um als Rudelanführer sich zu beweisen. Ein kräftiges Männchen knurrt laut genug. Sein Einschüchterungsversuch und gleichzeitig ein Startsignal. Für Wolf und Mensch. Geübt wirbelt Rebecca herum und der Wurf geht ihr locker über die Hand. Die Wölfe schrecken kurz zurück. Nicht wegen dem Flugobjekt, sondern sicherlich wegen ihrer schnellen und gestreckten Bewegung. An ihrer Wurfkraft sollte es nicht scheitern. Andere Einflüsse könnten ihr das Leben kosten. Rebecca seufzt frustriert, denn es wirkt, als habe sie es doch vermasselt. An dem Stein wird die Phiole nicht zerspringen. Gegen ihre Erwartung erfüllt die Kante des Steins den Zweck. Kaum zerbricht der Glasbehälter entfaltet sich eine Rauchwolke. Damit nimmt Rebecca den Tieren die Sicht. Bevor sich die Vierbeiner auf ihre Nasen verlassen und den Schrecken überwinden, sprintet Rebecca los. Ein Sprung und sie schlittert den steilen Graben hinab. Hochkonzentriert, um sich nicht von irgendeiner Baumwurzel die Spritztour vermasseln zu lassen.
Noch immer wird Rebecca von den Wölfen unterschätzt. Denn ihr Gehör verrät ihr, das eines der Raubtiere auf sie zuspringt. Grinsend geht sie in Deckung. Ihr Herzschlag verdoppelt sich vor Adrenalin und Freude, als das Tier um Haaresbreite über ihren Kopf hinwegspringt. Der nächste Wolf ist auch schon im Anmarsch. Ihm auszuweichen wäre in ihrer Lage ein Ding des Unmöglichen, aber zum Glück nähert sich ein alter Baum. Die Arme streckt sie rechtzeitig in die Höhe und umfasst einen stabilen Ast, der ihr Gewicht problemlos trägt. Sie baumelt grinsend an diesem und dank ihrer Begegnung mit einem Akrobaten kommt sie mit etwas Schwung und Körperanspannung hinauf auf den Ast. Die Verwirrtheit der Tiere unterhält Rebecca köstlich. Das Rudel muss sich neu orientieren und die Spuren werden gewittert.
Sich in Sicherheit wiegen erweist sich als Fehler, denn die Nasen der Wölfe haben ihre Witterung im Nu aufgenommen. Die Tiere heben die Köpfe. Überrascht hebt Rebecca eine Augenbraue und zählt bereits sieben ausgewachsene Tiere. Aus der Ferne bewegen sich ebenfalls Silhouetten, die von der Größe her sich als Wölfe einordnen lassen. Nicht bereit, ihre Beute aufzugeben, beißt der Erste mit einem Sprung in die Rinde nah Rebecca. Was müssen die Tiere von einem Hunger getrieben sein, damit sie so weit gehen. Die Zeit hängt Rebecca im Nacken. Sina wird ihr so noch entkommen. Daher scheint der Kampf ums Überleben unausweichlich.
Selbst wenn die Anzahl an Wurfmesser ausreichen würde, müsste jeder Treffer sitzen. Auf gut Glück fliegt das erste Messer los und tatsächlich heult ein Tier auf. Eins der Rudeltiere wagt einen Sprung und fällt Rebecca direkt in die Arme. Nie käme ihr in den Sinn, dass auch nur eins der Tiere solch eine Höhe überwinden kann, nun aber stürzt sie mit einem Wolf hinab. Nicht bereit, sich kampflos zu ergeben, sticht sie mit gezückter Waffe mehrere Mal auf das Tier ein, noch ehe diesem einen Biss gelingt. Das Tier jault und federt sich an ihr ab, um in Sicherheit zu springen. Die hungrigen Mäuler warten bereits auf ihre Chance, doch auch im Fall schafft Rebecca ein Rückwärtssalto und entkommt der Meute. Vorerst. Kurz neuformatiert, nutzen die Wölfe die Chance zum Angreifen. Rebecca duckt sich über das erste Tier hinweg und tritt ein weiteres von sich fern. Ehe sie nach dem nächsten Gegner Ausschau halten kann, landet eines der Raubtiere auf ihrem Rücken und beißt sich an ihrer Schulter fest. Seine Zähne bohren sich tief in ihr Fleisch. Ein explosionsartiger Schmerz, den sie herausschreit. Einen Kampfschrei, den die Tiere besser ernst nehmen sollten, denn nun sieht sie rot.
Ein weiterer Wolf nähert sich ihr, bereit seine Hauer in ihr Bein zu schlagen. Nicht mit ihr, Rebeccas Messer trifft und schaltet das Raubtier aus. Mit dem nächsten Messer hält sie bereits Ausschau nach ihrem Ziel, die Wölfe jedoch entfernen sich langsam mit gesenktem Kopf von Rebecca. Auch der Wolf auf ihrem Rücken lässt von ihr ab und verkrümelt sich in den Hintergrund. Skeptisch blickt Rebecca umher, auf der Suche nach der Ursache dieses eigenartigen Verhaltensmusters. Etwas, was die Wölfe das Fürchten lehren könnte. Vielleicht ein Bär. Ein solches Monster wie an Sinas Seite. Der Griff um das Messer wird so feste, dass sich ihre Fingerknöchel weiß färben. Was auch kommen mag, Rebecca zieht den Todeskampf vor die Flucht.
Aus dem Augenwinkel heraus nähert sich ihr eine menschliche Gestalt. Vorbei an den Wölfen. Völlig sorglos und mit einer eindrucksstarken Präsenz. Rebecca hat bislang jede Gottheit verleugnet, auch jetzt wird sie nicht einknicken und gläubig. Tiere können dressiert werden, das hier beeindruckt sie nur wenig.
„Genug! Lass das Messer fallen, Rebecca!“
Eine äußert bekannte Stimme. Jung, weiblich und naiv genug, solch eine Forderung zu stellen. Rebecca fletscht die Zähne und kann nicht glauben, wer sich hier im Kampf um Leben und Tod einmischt.
„Ist dir bewusst, dass ich deinetwegen in diesem Wald umherlaufe?“, wirft sie Sina vorwurfsvoll an den Kopf.
Doch die Hexe blendet ihren Kommentar völlig aus und betrachtet sie ruhig mit ausdruckslosem Gesicht.
„Lass bitte das Messer fallen.“
„Ich denke ja nicht mal daran! Ich bin nicht so dumm und lass mich fressen!“
„Sie werden dir nichts tun.“
Kaum liegt der Kopf im Nacken, erhascht Rebecca durch die Baumwipfel einen Blick auf die Sterne. Sie ignoriert ihre brennende Schulter und genießt den Moment der Ruhe, bevor sie der Hexe mit Spott kommt.
„Ich soll deinen Worten Glauben schenken? Der Frau, die Clive betrogen hat?“
Endlich zeigt ihr Gegenüber eine Regung. Denn Sinas blaue Augen verengen sich, aber Sina schluckt die Wut zu schnell hinunter. Instinktiv weicht Rebecca zurück, als Sina sich ihr nähert. Wie befürchtet, lag sie nicht auf der faulen Haut. Flink wie ein Frettchen und schnell wie eine Schlange kommt sie Rebecca zu vor und umfasst die Schwachstelle. Rebecca presst ihre Zähne aufeinander, als Sina in Berührung mit der Wunde kommt. Sie nimmt sich so feste vor, im Rausch ihrer Gefühle Sina anzuschreien. Aber dann steigt Rebecca dieser vertraute Duft in die Nase. Eine Note Salbei. Ein Blick auf die Schulter und ein Verband aus Salbeiblätter schlingt sich wie per Zauberhand um ihre Schulter. Die Bisswunde wird komplett verdeckt und begleitet von blinkenden Leuchtkörpern schließt sich die Wickel von ganz allein. Völlig perplex betrachtet Rebecca die getrockneten Blätter, bis sie Sinas zufriedenes Grinsen wahrnimmt.
„Hexe!“, spricht sie ihren Gedanken laut aus.
Erzürnt blinzelt Sina sie an, denn auf diese Beschimpfung war und ist Clives Herzensbrecherin nie gut zu sprechen gewesen.
„Ich bin nicht euer Feind! Ich hatte meine Gründe. Eigentlich wollte ich nicht umkehren, aber wie könnte ich dieses Gemetzel nur zulassen? Du hast tapfer gekämpft und es wären sicherlich noch einige von ihnen draufgegangen, bevor sie dich zerfleischen konnten. Du hast Fragen, das sehe ich dir an. Ich beantworte all deine Fragen, aber ich werde euch nicht begleiten.“
Rebecca wollte handeln und Sina wie einen Sack Kartoffeln über ihre heile Schulter werfen, nur der Bär im Hintergrund lässt den Gedanken schnell verpuffen. Mit einer Entführung wird Rebecca nicht weit kommen, also muss sie es schaffen, der Hexe ins Gewissen zu reden. Mit leeren Händen kann sich Rebecca schließlich bei den zwei Jungs nicht blicken lassen. Das wäre eine Blamage, die Cuno ihr immer vor Augen halten würde. Und die Chancen auf eine Zusammenarbeit mit dem Alchemisten würden sich sicherlich auch schmälern. Entschlossen blickt Rebecca auf, fast herausfordernd.
„Gut, wie du magst. Reden wir“, willigt sie ein.
































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