Kapitel 16 – Die endlosen Weiten

Der Zaun des Schlosses rückt näher und somit wirkt Riley immer angespannter. Sicherlich hoffte er darauf, aufzuholen, bevor die Elfe die Schlossmauern passiert hat. Für Samira ein kleiner Gewinn, denn zu selten bietet sich die Gelegenheit, die Stadt zu betreten. Auch wenn sie Jared am liebsten wegen den Angriff auf Cassandra zurückgelassen hätte, fühlt sie sich sicher umgeben von drei starken Männern. Jared und Savas lieben das Nachtleben und fürchten die Dunkelheit nicht. Sie begrüßen die Abenddämmerung mit offenen Armen. Auch jetzt in königlicher Begleitung. Anders als Riley. Dem scheinen die Gefahren deutlich bewusster und ernster zu sein.

 

So wie mit Savas geübt, holt Samira Anlauf und drückt sich im Sprung über das Mauerwerk, das am Schlossgärten grenzt. Sie hört Riley scharf die Luft einziehen, während Savas freudig in die Hände klatscht. Samira dreht sich mit offenen Armen um, um sie sich bei ihrem Meister zu verbeugen, dieser lächelt anerkennend, bevor er die Hand aufs Herz legt und sein Haupt neigt.

„Mit Straßenkünstler-Tricks kommen wir nicht weit!“, tönt es missbilligend von Rileys Seite.

Ohne auf eine Reaktion zu warten, überspringt er die Mauer, um sich an Samiras Seite zu gesellen.

„Du solltest das Schloss eigentlich nicht verlassen. Dein Vater wird stinksauer sein und mich für das Schlamassel verantwortlich machen. Noch ist Zeit, um umzukehren.“

„Straßenkünstler-Trick“, wiederholt Savas ihn spöttisch, „verzeih, dass wir im wahren Kampf wenig Anstand und Ehre zeigen. Dafür sind unsere Überlebenschancen aber höher.“

Riley rümpft die Nase. Paladin haben wahrlich einen gewissen Stolz und missbilligen fiese Tricks und Kampftechniken. Es war zu erwarten, dass die Zwillinge keinen guten Eindruck auf dem Paladin machen. Bevor es zum Streit kommt, schnippt Samira zwischen den Streitsuchenden und erinnert im strengen Ton an die Mission.

 

Einsichtig wird das Gespräch vertagt und die Zwillinge beweisen ihren Wert erneut bei der Spurensuche, denn trotz Eile verwischt die Elfe ihre Spuren gut. Trotz Schnitte an den Armen, hinterlassen magische Geschöpfe Lichterpartikel in der Atmosphäre zurück. Mit einer Fackel lassen sich die funkelnden Partikel durch das intensive Leuchten ausmachen. Da sich die Elfe dem Weg der Eismagie verschrieben hat, verrät sie sogar der Temperaturunterschied. Kälte sucht die Wege heim, die sie wählte. So mancher Grashalm oder auch Stein ist mit einer dünnen Frostschicht überzogen. Im Nu haben sie die Fährte der Elfe aufgenommen. Statt sich unter die Leute zu mischen, meidet Cassandras Mörderin die Stadt und durchquert diese nur am äußeren Rand. Zuerst durch das Handelsviertel. Das Schloss thront an höchster Stelle und die Stadt erstreckt sich auf einen Hügel, von wo die Stadtteile in Ringen hinabführen. Vom Adelsviertel und den Verteidigungsanlagen der Paladinen hinab zu der Mittelschicht. Dadurch dass die Elfe den Schleichweg wählt und den Patrouillen der Paladine entkam,  besteht die Vermutung, dass die Elfe sich mit der Aufbau der Stadt befasste und schon länger vor Ort verweilt, bevor es zum Anschlag kam. Von der Schlossbrücke aus ist der direkte Weg zum Handelsviertel durch mehrere Tore gesichert, aber von den Wachen fehlen sämtliche Spuren. Für Riley unerklärlich. Ein mahnender Blick von Samira reicht aus, um ihre beiden Leibwächter zum Schweigen zu bringen. Sicherlich liegt ihnen der Spott über das Versagen der Paladine auf der Zunge. Aber die Luft zwischen ihnen ist sowieso schon geladen. Daher hofft Samira, die Zwillinge legen es nicht drauf an, Riley weiter zu provozieren.



 

Der Weg führt durch den oberen Bereich des Handelsviertels, dort, wo die großen Gilden ihren Sitz haben. Nahe dem Marktplatz. Statt zum Hafen geht es hinaus zu den Ländereien. Unendliche Weiten. Fern vom Stadtlärm. Einige Male hat Samira sich bis hierhin heraus geschmuggelt, um einen Freund zu besuchen. Der Sohn eines Pferdezüchters. Mit ihm konnte sie durch die Ländereien reiten und das Leben hinter den Schlossmauern kurz vergessen. Einige Jahre sind seit ihrem letzten Besuch vergangen. Fast wehmütig blickt sie herüber zur Pferdekoppel.

 

„Samira, würdest du mir dein offenes Ohr schenken?“

Jared tritt entschlossen heran, wird jedoch im gleichen Moment von Riley gebremst, der den königlichen Schutzschild spielt.

„Ich hoffe, du willst dich entschuldigen.“

Bewusst klingt Samira eingeschnappt und blickt hinüber. Gerade als der Kerl zum Nicken ansetzt, fügt sie ein entscheidendes Detail hinzu: „Nicht bei mir, Jared. Du hast Cassandra schwer getroffen und verschreckt.“

„Das habe ich und ich bereue mein Handeln in keinerlei Weise. Viel schlimmer finde ich die Kluft zwischen uns…“

Er mag weitersprechen, aber Samira kehrt ihm schnaufend den Rücken. Zu seinem Glück tritt sein Bruder vor die Prinzessin und klatscht freudig in die Hände. Mit einem reizvollen Vorschlag.

„Spielen wir, Samira. Dieses Gelände ist größer, aber dafür bieten sich mehr Möglichkeiten. Kannst du mit mir mithalten?“

Rileys verwirrter Blick erheitert Samiras Laune. Dabei lag sie all die Jahre auch nicht auf der faulen Haut. Ihren Körper hielt sie anderweitig fit. Mit den sogenannten Spielen der beiden Zwillinge. Daher war sie sich so sicher, den Tisch in Cassandras Zimmer meisterhaft zu überwinden. Welch eine Blamage, dass die Garderobe ihr diesen Auftritt versaut hat.

 

„Savas, dein Messer.“

Ihr Leibwächter hebt fragend die Augenbraue. Sein Zögern bestraft sie mit einem finsteren Blick. Schließlich tasten seine Hände hinab, sein Bruder hingegen kommt ihm zuvor und hält seinen gebogenen Dolch vor Samiras Nase. Ein zu prunkvoller Gegenstand. Laut ihm ein Fund aus einem fast vergessenen Ort. Es würde sie nicht wundern, wenn er aus der Schatzkammer stibitzest wurde. Jared hat eine Schwäche für große Edelsteine und so blickt sie in eine Rubinkugel. Das Verbindungsstück zwischen dem goldenen Griff und dem polierten Stahl. Sicherlich ist seine Geste Teil seines Schlichtungsplans. Aber da Savas fündig wird, bevorzugt sie das gewöhnlichere Messer seines Bruders. Ein Geschenk eines Auftraggebers, der einen bleibenden Eindruck bei Savas hinterlassen hat. Immer wenn er sein Spielzeug zuckt und in Gedanken versinkt, lächelt er ehrlich.



 

Frech streckt Samira Jared die Zunge heraus, was er mit einem Lächeln quittiert. Mit Sorge nähert sich Riley.

„Was habt Ihr vor, Samira?“

Statt Worte folgen Taten. Der Ritter wird ganz blass um die Nase, als sie die vielen Rockschichten ihrer Garderobe konsequent durchtrennt. So schön das Kleid auch sein mag, es stört bei der Bewegungsfreiheit. Das zeigte allein der Abstieg in die Ländereien. Es schmerzt Samira im Herzen, die Rocklänge zu kürzen und das Meisterwerk des Schneiders zu beleidigen. Aber wenn es um ihre Schwester geht, ist sie bereit viele Opfer zu bringen.

„Wir können aufholen! Mit Pferden!“, spricht sie voller Tatendrang.

Aber Jared schüttelt seinen Kopf.

„Viel zu laut. Zumal du nicht darauf trainiert bist, bei Nacht im Galopp durch einen Wald zu reiten.“

„Wir schon, soll sich Samira zu einem von uns aufs Pferd gesellen“, meldet sich sein Bruder zu Wort.

Dankbar für die Unterstützung nickt Samira ihm anerkennend zu und reicht ihm den Dolch.

 

„Sir Riley, wir teilen uns ein Pferd“, beschließt Samira aus dem Stegreif.

Der Paladin keucht und stammelt nervös irgendwelche Worte, als verzweifle er an der Situation. Eine Reaktion, die sich Samira erhofft hat. Es ist ein Leichtes ihn aus der Fassung zu bringen. Es mag vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt sein und doch genießt sie all seine Facetten. So sehr, dass sie kaum satt sehen kann. Ihr Starren bleibt nicht unbemerkt. Kaum sehen sich die beiden in die Augen, lächelt sie entzückt. Daraufhin schwenkt er seinen hochroten Kopf zur Seite.

„Genießt du es, Samira?“ Jared klingt ebenfalls erheitert. „Der arme Kerl würde am liebsten im Boden versinken.“

„Niedlich oder?“

Überrascht hält Samira Ausschau nach seinem Bruder und es zeigt sich, wie schnell Savas Pläne umsetzt. Einmal aus den Augen verloren und schon findet sie ihn an der Türe des Pferdezüchters.

„Du könntest auch bei mir mitreiten“, bietet Jared ihr stattdessen an.

Ihre gute Laune lichtet sich. Zorn flammt auf. Aus Reflex boxt sie ihn gegen den Arm und weil sie weiß, dass sie kaum Kraft in den Armen hat, entpuppen sich Jareds schwächliches Zusammenzucken und Klagen als eine Showeinlage. Sicherlich, um sie zu ärgern, oder er will ihren Zorn mildern. Beides vergebens, denn sie wendet sich von ihm ab. Mit dem Blick auf die Wälder gerichtet. Jareds Spukgeschichte wurde nicht vergessen. Viele würden ihn sicherlich belächeln, aber Samira glaubt an einen wahren Kern. Aber sie kennt ihn und weiß, dass er gern einen Hauch Dramatik mit in seine Geschichten einwebt. Die Ereignisse mit Cassandra haben sie jedoch gelehrt, den Toten besser Respekt zu erweisen und die Welt mit offenen Augen zu betrachten.



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