Kapitel 19 – Wie ein Engel
Erwartungsvoll nehmen Samiras Augen ihre Schwester in Beschlag. Das Herz klopft wie wild und die Kehle ist wie ausgedorrt. Nicht etwa wegen dem Geständnis und der Tatsache, dass Cassandra direkt neben Riley verweilt, sondern aus Sorge, Cassandra stellt sich gegen den neuen Plan. Cassandra schien Wort zu halten, denn Riley dreht sich verlegen zur Seite und seufzt laut. Aber Samiras Augenmerk gilt ihrer Schwester. Ganz vorsichtig nähert sich Samira den beiden Freunden.
„Cassy?“ Heiserkeit. Wie peinlich! Samira räuspert sich. „Hättest du einen Moment für mich?“
Doch ihre Schwester atmet tief ein und bleibt stur: „Schließe Riley nicht aus. Du wirst sicherlich schnell erkennen, dass er die Unterhaltung bereichern wird.“
„Daran hege ich keine Zweifel.“ Unmöglich! Samira will sich zwingen, Riley in die Augen zu sehen, aber ihr Geist erkennt, welch ein Fehler dies wäre. Allein seine Anwesenheit hat Einfluss auf ihre Konzentration. Blickkontakt würde ihren Kopf sicherlich mit einem Schlag leeren. „Doch ich komme mit eine Bitte und kann Einmischungen nicht gutheißen. Daher folge mir doch bitte, Cassy. Zumal die Zeit drängt.“
Die Sorge bleibt nicht unbegründet. Cassandras Erscheinung verliert an Materie. Sie wirkt immer durchsichtiger und die Augenringe bleiben nicht verborgen. Und doch bemüht sich der Geist ihrer Schwester weiterhin stark zu wirken. Wie in Lebenszeiten. Schlafmangel überspielte Cassandra schon immer für die Außenwelt.
Die Folgen verstrichener Zeit scheint Cassandra erneut zu unterschätzen, daher greift Samira zu und entführt ihre Schwester einfach.
„Jetzt warte doch mal, Samira!“
Aber ihr Widerstand trifft auf taube Ohren. Es muss erst ein gesunder Abstand zurückgelegt werden. Um streng zu wirken, stemmt Samira ihre Hände in die Hüften und mustert ihren Gegenüber mit glühendem Blick. Eine Maßnahme, die Wirkung zeigt, denn Cassandra weicht mit einem Schrecklaut zurück.
„Bist du sauer, Samira? Etwa, weil ich Rileys Empfinden vor dir verschwiegen habe?“
Eilig winkt Samira ab. Ihre Fassade der inneren Ruhe beginnt verdächtig zu bröckeln. Das Thema Riley mag sie im Moment weit von sich schieben.
„Ich habe mich mit Riona unterhalten…“
Zu mehr kommt die kleine Schwester nicht, denn Cassandra klatscht mit einem freudigen Laut in die Hände und wuschelt kurz darauf durch Samiras Mähne. Trotz des Brummens.
„Wie schön! Du nimmst mein Vorhaben ernst. Lobenswert, Samira! Ich sehe, du wirst eine tolle Königin.“
„Cassy!“ Samira hebt streng den Finger, woraufhin der Rotschopf summend aufblickt. „Jetzt hör mir doch mal zu! Du hast dein Vorhaben nicht richtig durchdacht! Unser Vater wird deiner Mörderin niemals vergeben. Niemals! Wir können nicht einfach eine Elfe in unsere Gesellschaft würfeln. Selbst, wenn wir sie an unser Reich knechten, zerfleischt unsere Gesellschaft sie!“
„Du schaffst das! Ich habe großes Vertrauen in deine Fähigkeiten.“
Schmeichelnde Worte, die Samira nicht verdient hat, besonders dann nicht, wenn es sich um Wunschdenken handelt. Die Prinzessin ist ein Realist und sieht das Scheitern des Plans in Stein gemeißelt.
„Die Umsetzung deines Vorhabens bedarf eine längere Vorbereitungszeit. Lass mich dieses Reich formen…“
Je mehr Samira von ihrem Plan preisgibt, desto mehr schwindet die Konzentration ihrer Schwester. Cassandras weiche Züge sind gänzlich verschwunden. Es bedarf keinerlei Worte, um ihre Missgunst auszudrücken, und doch unterbricht sie Samira nicht ein einziges Mal. Das Leuchten der Blüten glimmt ab und der Zauber zerfällt. Cassandra hebt ihre zittrigen Finger auf Augenhöhe und seufzt erschöpft. An Glanz verlieren die Augen, als die Freesien sich pulverisieren.
„Glückwunsch, Schwesterherz. Du hast meinen Plan vereitelt. Mein Kopf liegt in Watte und die Müdigkeit lässt sich kaum noch ertragen. Dabei wollte ich doch nur das Beste für dich und dieses Reich.“
Cassandra schluckt hörbar, sodass sich Samira aufgefordert fühlt, ihre Hände zu umfassen. Ganz sanft und voller Liebe. Noch ehe sie den Mund öffnen kann, erfasst sie eine Böe und bringt sie ins Straucheln. Stahl trifft auf Stahl und Funken sprühen durch die Luft. Riona wittert Schwäche und stürzt sich in ein Gefecht mit Riley. Nur kurz hebt Samira den Kopf und betrachtet die beeindruckende Parade zwischen den beiden Feinden mit klopfenden Herzen, aber Cassandras Zustand verschlimmert sich. Der Geist ihrer Schwester befreit die Hände und umfasst den hängenden Kopf. Die Augenlider fallen immer wieder zu, aber Cassandra kämpft krampfhaft gegen die Erschöpfung.
„Eine Entscheidung…“, nuschelt sie benommen.
„Cassy, ruh dich aus!“
Eine Bitte von Herzen. Aber ihre Schwester kann unfassbar stur sein. Denn statt dem Rat zu folgen, fixieren ihre Augen kurz sie, bis der Kopf rüber zu Riona schwenkt.
„Samira, ich habe dich unfassbar lieb. Aber es wird Zeit zu gehen.“
Die Angesprochene schüttelt heftig den Kopf und schluchzt tief. „Nein! Bitte nicht!“
Aber ihr Gegenüber lächelt milde. „Keine Angst, ich komme wieder. Denn ich vertraue deinem Urteilsvermögen und unterstütze deinen Plan. So erhalte ich die Chance, ins Reich der Elfen zu gehen, um ihre Kultur kennen zu lernen. Darf ich mir ein wenig Energie von dir leihen?“
„Nein!“, tönt es aus dem Hintergrund.
Samira funkelt Jared kurz böse an, bevor sie dem widerspricht: „Jederzeit, Cassy.“
Jared mag seinen Frust laut kundtun mit seinem albernen Schnalzen, aber das interessiert Samira nicht die Bohne. Cassandras Lächeln ist voller Milde, als sie die Hände ihre Schwester umfasst. Wärme wird der lebenden Prinzessin genommen. Wärme und Energie. Eine leichte Müdigkeit macht sich bemerkbar, aber Cassys Erscheinung hört auf zu verblassen und gewinnt sogar an Materie dazu.
Cassandras Blick wird intensiv, als sie ihre Schwester betrachtet.
„Werde zu einer starken Königin, Samira. Ich vertraue darauf, dass du auf Frieden hinarbeitest. Nun musst du mir vertrauen, dass ich Riona und ihr Volk von unserem Vorhaben überzeuge. Ich werde verreisen, aber wieder kehren zurück. Ein Versprechen. Ein Fluch für Riona. Denn ich bin überzeugt, dass ich aus Rache Vergebung forme. Noch mag sie uns als ihre Feinde betrachten, aber das wird sich ändern. Pass auf dich auf, mein Schwesterherz. Wenn einer das Land formen kann, dann nur du.“
Damit wäre alles gesagt und Cassy will sich abwenden, aber die Sorge spricht aus Samira: „Sei wachsam. Lass dich nicht überlisten und misstraue. Riona wird sicherlich alles versuchen, um dich abzuschütteln.“
„Mit Sicherheit.“ Und doch lächelt Cassandra siegessicher. „Aber das soll sie doch erst mal versuchen. So leicht gebe ich mich nicht geschlagen.“
Wie ein Umhang weht die rote Mähne der Prinzessin in den aufsteigenden Böen. Mit durchgestreckten Rücken läuft Cassandra zielorientiert voran. Die rechte Hand liegt auf der Hüfte. Sicherlich aus Gewohnheit, denn dort ruhte immer ihr Schwert. Ein treuer Freund, der ihr Sicherheit gab. Unter Cassandras Stiefeln sprießen Setzlinge, dessen Wachstum sich beschleunigt und in Sekundentakt prachtvolle Freesien erwachen. Das bedrohliche rote Leuchten der Glühwürmchen verwandelt sich in ein reines Weiß. Die Böen tragen einzelne Blüten hinauf in die Lüfte und im Nu duftet es wie in Cassandras Zimmer. Der liebliche Duft der Freesie. Samiras Herz erblüht und trotz des Abschiedes formen ihre Lippen ein ehrliches Lächeln.
Schwungvoll ranken Jungpflanzen hinauf. Von den Beinen zu Cassandras Kreuz, um dort ein Gerüst zu formen. Samira steht der Mund offen, als an den saftig grünen Stängeln Blütenkelche erwachen. Statt Federn schmücken unzählige Blüten das Flügelgerüst. In einem reinen Weiß. Strahlend hell und duftend.
Ein Engel wurde geboren!
Der Gedanke sitzt fest in Samiras Kopf und lässt sie vor Glück weinen. Denn der monströse Jäger getrieben von Rache ist gebannt und durch einen Schutzengel getauscht. Eine Rolle, die wahrlich besser zu Cassandra passt.




























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