Kapitel 2 – Unberührt
Wasser ist die Quelle allen Lebens und auch für die Freesien unverzichtbar. Gierig saugt sich die Erde voll, während die Sonne das Königreich nach einer sternenklaren Nacht begrüßt und mit warmen Farben belohnt. Zufrieden stellt Samira die Gießkanne ab und erfreut sich an den Orange- und zarten Rosatönen des Sonnenaufgangs. Mittendrin wandern die eindrucksvollen Wolken wie eine Schafsherde über den Himmel. Der Besuch am Grab liegt einen ganzen Tag zurück. Die Malerei blieb bislang unbemerkt, dabei wartet Samira sehnsüchtig auf die Konfrontation mit ihrem Vater. Sämtliche Szenarien entwarf ihr Kopf und die Liste ihrer Argumente ist lang und nicht an Schlagfertigkeit zu unterschätzen.
Bereits in aller Frühe fühlt sich die Luft angenehm warm an, sodass ein Übergangsmantel überflüssig sein wird. Mit offenen Armen begrüßt die Prinzessin die herrliche Sommerbrise und beschließt, die Fenster im Zimmer ihrer Schwester länger offen zu halten. So erfreut sich sicherlich auch das Personal an dem süßen Duft der Freesie, den der Wind durch das Schloss verteilt und bereits die Insektenwelt anlockt. Eine kleine Hummel wurde bereits fündig und macht sich fleißig am Nektar zu schaffen. Samira nimmt sich die Zeit, um das niedliche Geschöpf dabei zu beobachten, bevor ihre Morgenroutine beginnt. Meist wartet sie nur auf das Dienstmädchen Anna, das sich bereit erklärt hat, das Zimmer der Verstorbenen gewissenhaft zu säubern. Als würde sich die Königsfamilie sehnsüchtig auf die Rückkehr der verloren gegangenen Prinzessin gedulden.
Das große Schlafgemach seit jenem Tag unberührt und das Mobiliar nur deshalb nicht unter Tüchern versteckt, weil Samira ihre Einwände laut ausgesprochen hat. So kann sich die Thronfolgerin frei durch die Räumlichkeit bewegen und so tun, als wäre alles beim Alten. Cassandras Zimmer steckt voll von Erinnerungen. Allein die blaue Tapete wurde zu Samiras Kunstwerk. Es sind die schönsten Orte dieses Königreichs, die in diesem Raum malerisch aufgeführt wurden. Das Rosenlabyrinth vor dem Schloss, der große See westlich des Landes, die Schlossallee im Adelsviertel mit den vielen Pfirsichbäumen, an deren Früchte sich jeder bedienen darf. Aber auch die Stadtbewohner wissen die Natur zu schätzen. Besonders das Marktviertel ist an jeder Ecke bepflanzt. Der Blauregen und die Weinreben spenden zwischen den sonnigen Gassen Schatten und machen die Gänge besonders empfehlenswert. Cassandra hat ihre Patrouille meist ins Marktviertel verlegt, um sich an der Blumenpracht zu erfreuen. All diese Details finden sich in ihrem Zimmer wieder und haben der verstorbenen Prinzessin schon am frühen Morgen ein Lächeln auf die Lippen gezaubert.
Samiras bemalte Leinwände befinden sich an einer kleinen Trennwand zum Arbeitsbereich. Eine kleine Ecke an einem riesigen Bogenfenster mit einem großen Bücherregal und einen dunklen Schreibtisch, woran die beiden Prinzessinnen gern gemeinsam gespeist haben. Immer dann, wenn Samira der Meinung war, ihre Schwester habe ihre wohlverdienten Pausen vergessen. Auch heute befindet sich ein Obstkorb in Samiras Gepäck, den sie stolz auf den großen Tisch stellt und über die Schriften ihrer Schwester blickt. Das Tagebuch, worin die Patrouille und der Arbeitstag niedergeschrieben sind, liegt offen aufgeschlagen. Wie auf dem Präsentierteller. Verbotene Zeilen, denen sich Samira nicht widmen will. Allein, um die Privatsphäre ihrer Schwester zu wahren. Auch wenn sich dort sicherlich der Name des Ritters versteckt, den sie am Grab antraf. Ein feiner Kerl, der kein Wort an ihre Eltern verlor über den kleinen Ausflug. Dank ihm blieb der Grabbesuch unbemerkt. Noch. Bis sich eines Tages einer ihrer Eltern an die Ruhestätte wagt, um Cassandra zu besuchen, und ihr Kunstwerk alles verrät.
Der kleine Hunger meldet sich und so bedient sich Samira am Obstkorb. Ein blinder Griff, und das Ergebnis erfüllt sie mit Freude. Der Apfel – schmackhaft süß – hätte Cassandra sicherlich ebenfalls gemundet. Aus Gewohnheit schnappt sich Samira das Messer aus dem Korb und trennt sich von der Hälfte. Im Bücherregal befindet sich etwas Geschirr, das von den Bediensteten immer gesäubert und zurückgebracht wurde, weil die Schwestern bekanntlich gerne im Arbeitsbereich speisten. Samira platziert die Apfelhälfte neben dem Tagebuch und wandert mit dem Rest zu der schicken Uniform eines Paladins, dessen Status Cassandra vor etwa einem Jahr durch harte Arbeit erhielt, obwohl sie als Königstochter nicht zum Griff des Schwertes verpflichtet war. Und doch wünschte sie sich die harte Ausbildung und tat ihre Pflicht in den Reihen der Armee gewissenhaft und mit Stolz.
Reinlich weiß. Schlicht und doch elegant zeichnet die Rüstung aus, die ein jeder Paladin trägt. Ein jeder Bewohner ehrt die Paladine und die Mehrheit strebt eine solche Karriere an. Nur Samira nicht. Zu wild und undiszipliniert ist ihre Seele. Nicht gern an Regeln gebunden und ihre Freizeit verbringt sie lieber mit dem Pinsel und schöner Musik. Ein Ohrwurm zu einer erst kürzlich neu erlernten Symphonie auf dem Klavier fordert Samira zum Summen auf. Schwungvoll dreht sich die Prinzessin durch den Raum. Der weiße Rock plustert sich auf, ihr braunes Haar wirbelt umher. Noch ehe ihr Geist in die Zeilen eintauchen kann und sie mit dem Tanz richtig beginnt, erschreckt sie sich über die Anwesenheit einer Person. Jemand sitzt auf Cassandras Platz und lächelt ihr lieblich zu. Samira stoppt abrupt. Sie stolpert über ihre eigenen Füße und balanciert etwas ungeschickt ihr Gleichgewicht aus. Die Prinzessin sieht sich bereits am Boden und blamiert sich mit einigen unbeholfenen Schritten. Ihre Arme wedeln durch die Luft und sie hört, wie sich der Stuhl verschiebt. Der Besuch scheint sich zu erheben. Kaum kommt Samira zum Halt, verharrt sie in halbgebückter Stellung. Mit weit aufgerissenen Augen, einem ungläubigen Blinzeln und angehaltenem Atem. Aber das rubinrote Haar konnte Samira schon immer aus der Ferne ausmachen. Niemand sonst wurde in diesem Reich mit solch einer kräftigen Haarfarbe und solch ein gütigen Blick gesegnet.
Sicherlich ein Traum. Ein wundervoller Traum, aus dem Samira nicht erwachen mag. Denn Cassandra befindet sich in greifbarer Nähe. Nur wenige Schritte entfernt und unversehrt. Mit keiner Wunde am Bauch und keiner ungesunden Blässe im Gesicht. Ihre Schwester lächelt herzallerliebst, als die Sorge über Samiras Stolpereinlage verglimmt. Beruhigt atmet Cassandra auf und winkt etwas unbeholfen, als wolle sie Samira nicht verschrecken. Ganz langsam erhebt sich die jüngste Prinzessin. Ohne den Blick von ihrer geliebten Schwester zu nehmen. Aus Angst, Cassandra könnte jeden Moment verblassen. Tränen der Freude bahnen sich einen Weg über das Gesicht und der Wunsch nach einer innigen Umarmung wächst.
Der erste Schritt Richtung Schreibtisch wäre getan, da unterbricht ein Klopfen das große Wiedersehen. Aus Gewohnheit dreht die kleine Prinzessin den Kopf zur Tür, da tritt auch schon das Dienstmädchen Anna ein. Eine freundliche und eifrige Person. Jung und motiviert. Eine kurze Verbeugung und sie beginnt sofort mit ihren Aufgaben. Die Trennwand versteckt den Arbeitsbereich, woraufhin Cassandras Rückkehr sicherlich verborgen blieb. So glaubt Samira. Bis zu jenen Moment, als sie das Fehlen ihrer Schwester bemerkt. Beunruhigt tritt Samira an den Tisch. Auf der Suche nach Spuren. Panik keimt in ihr auf. Es darf sich um keinen Streich handeln! Verschuldet durch ihren Kopf. Eine getrübte Wahrnehmung durch den schmerzenden Verlust. Samira schüttelt beunruhigt den Kopf und wird hektisch. Die Hoffnung ist groß, ihre Schwester versteckt sich unter dem Tisch oder vielleicht hintern den himmelblauen Vorhängen. Frustriert klammert sie sich an den Stuhl. Feste, als gäbe ihr dieser den nötigen Halt, den sie gerade braucht. Eine Stütze, um mit den Ängsten und Sorgen fertig zu werden. Die Knöchel färben sich weiß und der Griff lockert sich erst, als der halbe Apfel ins Bild fällt. Angebissen, aber nicht von ihr. Die Hälfte war unberührt, daran besteht kein Zweifel!
































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