Kapitel 22 – Gefährliche Wetterlage

Hendrik

 

Langsam aber sicher nagt die Erschöpfung an Hendrik. All die Dankbarkeit fürs Verlassen der Höhle klingt langsam ab. Untertage war er geschützt vor dem beißenden Wind und der klammernden Kälte. Jeder weitere Schritt ins Ungewisse bringt seine Entschlossenheit ins Straucheln. Seine Wahrnehmung ist eingeschränkt, schließlich drohen seine Augen zuzufallen. Nichts um ihn herum erkennt er wieder. Seine Orientierung lässt ihn im Stich. Daher konzentriert er sich stur auf die große Gestalt des Groenendaels.

„Sag, Remy, wo finde ich die Hütten, die hier vermietet werden?“

Willst zu deinem Schnuckelchen zurück, richtig?

Wäre da nicht die extreme Müdigkeit, würde Hendrik ausrasten. Sandra ist mehr als eine hübsche Frau. Es ist ihr gutes Herz, das er besonders lieb gewonnen hat. Solch oberflächige Kommentare über seine Herzensdame duldet er für gewöhnlich nicht. Aber seine Gedanken sind eingeschränkt. Der Geist wird zu schläfrig und Hendrik erreicht seine Belastungsgrenze. Er taumelt und stolpert voran.

 

Was hast du? Bist du betrunken?

Was für eine dumme Frage. Hendrik würde gern darauf kontern, aber sein Körper bricht nach vorne weg und landet in den Schnee.

Hey! Los erhebe dich!

Remy’s Pfote kratzt an Hendriks dicker Jacke, während das Gesicht durch das Eis ganz taub wird.

Lass die halbe Portion liegen. Der kommt nicht weit und ist es nicht wert, ins Rudel aufgenommen zu werden. Der dient mehr als gutes Futter.

Remy winselt und ist Hendriks Gesicht viel zu nah. Er schnuppert an dem Menschen und schleckt sogar mit seiner rauen Zunge über Hendrik Wange. Aus Reflex hebt der Urbexer mit seiner letzten Kraft seine Hand, um dem großen Hund dankbar zu streicheln.

Kumpel, ich lass dich nicht zurück. Damit das klar ist! Ich bringe dich an einen sicheren Ort, aber halte dich wach!

Entschlossen dreht er Hendrik auf den Rücken. Keine schwere Aufgabe für einen Riesen wie Remy. Er hat wahrlich Kraft im Kiefer und in den Pranken. Dennoch ist er ganz vorsichtig, als er sich Hendriks Jacke mit den Zähnen schnappt und ihn durch den Wald schleift. Ganz allein. Seine Peiniger laufen nur daher, spotten über den Groenendael und erhoffen sich sicherlich Hendriks Tod durchs Erfrieren. Wie Aasgeier kreisen sie umher und scheinen Remy ebenfalls ganz nervös zu machen, schließlich brabbelt der herzensgute Hund noch viel mehr wirres Zeug wie vorher.



 

Die gute Tat weiß Hendrik wertzuschätzen und auch wenn der Wille noch immer besteht, Sandra wiederzusehen, nickt Hendrik immer wieder zwischendurch ein. Spitze Steine und nervige Äste streifen ihn zwischendurch und wecken ihn kurzzeitig. Sicherlich steuert Remy diese absichtlich an, als wolle er verhindern, dass Hendriks Geist verloren geht. Die Wetterlage nimmt ein katastrophales Ausmaß an. Zuerst fallen kleine Schneeflocken, die zunehmend an Größe gewinnen und von starken Windböen getragen werden. Die schleichenden Hyänen erkennen die Gefahr und stürmen fort. Remy‘s Erleichterung teilt er offenkundig mit. Zum Glück döst Hendrik immer wieder ein, sodass er die Hälfte nicht mitbekommt.

 

Konfus erwacht der Geist an einem Ort außerhalb der Kälte. Gewärmt von einer muffigen Wolldecke, die aussieht, als habe sie noch das letzte Jahrhundert überlebt. Trotz Flicken lösen sich einzelne Fäden. So ungewöhnlich schwer waren auch die Decken bei der Oma eines Kollegen. Gebettet wurde Hendrik auf einer alten Ledercouch. Im Hintergrund knistert ein Kaminfeuer, während sich um ihn herum ein riesiges Holzgerüst erstreckt. Die Räumlichkeit ist rustikal gestaltet und scheint ebenfalls eine Hütte zu sein. Der ganze Wohnbereich ist mit hellen Holzelementen gekleidet. Bewohnt und zu privat eingerichtet für Touristen. Denn es hängen zu viele Fotos herum von Gesichtern, die sich wiederholen. Keine typische Familie, sondern eine Art Gemeinschaft, was allein den riesigen Wohnbereich erklären würde. Bedrohlich funkelt ein Haufen Nadeln in einem Nähkorb auf einem Beistelltisch nahe der Couch. Direkt neben einem alten Lampenschirm.

 

Der Traum von einem Haus mit Galerie haben Mandy und Hendrik gemeinsam. Ein kleines, aber feines Eigenheim. Jedoch moderner als die alte Holzhütte, in der er sich befindet. Die eindrucksvollen Bauten beeindrucken den Urbexer dennoch immer aufs Neue. Der Luftraum lässt die Räumlichkeit größer wirken und macht neugierig auf die oberen Etagen. Hendrik zählt drei Stockwerke. Sein Blick folgt der großen Holztreppe mit Zwischenebenen hinauf in die Galerie. Es handelt sich definitiv um ein altes Haus, wie die Abnutzung zeigt. Lack, der abblättert. Holz, das ordentlich zerkratzt scheint und einen dringenden Schliff benötigte. Alte Teppiche auf den Zwischenebenen. Im ersten Stockwerk bringt ein Fund ihn ins Stocken. Das Geländer ist an einer Stelle komplett eingedrückt. Es ist gesplittert, als sei hier eine höhere Gewalt im Spiel. Der tragende Holzbalken daneben zeigt tiefe Kerben, die an eine gewaltige Raubtierkralle erinnern. Die letzten Stunden gewinnen mehr Beachtung. Die Wölfe, Remy und die Bestien tief Untertage.



 

Zwei Augenpaare blicken auf den Gast hinab. Groß und voller Neugier. Klein sind die Hände, die das Geländer umklammern. Kaum treffen sich die Blicke, flitzen die beiden Gestalten fort. Zurück im Gedächtnis bleiben die ausdrucksstarken Augen, die an einen wolkenlosen Himmel erinnern, und weißblonde Strähnen, die ins Gesicht fallen. Noch benötigt Hendrik einige Minuten, um klar im Kopf zu werden. Sein Geist liegt im Nebel. Die Erschöpfung sitzt noch knochentief. Die Wärme durch den Kamin und der Wolldecke lässt ihn entspannen und die beunruhigen Spuren im oberen Stockwerk vergessen. Der Geist droht wegzudösen, bis plötzlich ein riesiger Schatten angesprungen kommt und Hendrik als Matte benutzt. Er keucht unter dem plötzlich schweren Gewicht. Etwas trifft ihn genau im Magen und liegt nun schwer auf ihn. Eine feuchte Zunge schlabbert erbarmungslos durch sein Gesicht und lässt ihn vor Ekel erschaudern.

 

Gewaltsam drückt Hendrik die schwere Last von sich fort, um in das freudige Antlitz von Remy zu blicken. Der riesige Groenendael bleibt schwanzwedelnd auf ihm liegen.

Du bist wach! Wie geht es dir?

Ein strenges Pfeifen und die Ohren sinken hinab. Zögernd klettert Remy hinab und macht es sich auf dem Boden gemütlich, während Hendrik sich dankbar aufsetzt, um darauf mit einem Berg von Mann konfrontiert zu werden. Eine Begegnung, die ihn schlucken lässt und das Gefühl in ihm weckt, den Kopf der Bande vor sich zu stehen zu haben.

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