Kapitel 5 – Beobachtungen
Ein fein blumiger Geschmack mit einer angenehmen Süße lässt Körper und Geist in nur wenigen Augenblicken entspannen. Samira nimmt sich Zeit für jeden einzelnen Schluck und spürt die ansteigende Wärme in ihrer Brust.
„Bei der Hauptkomponente handelt es sich bestimmt um den Lavendel.“
Denn dieser Geschmack ist am deutlichsten vertreten. Anna nickt geduldig, als erhoffe sie sich, dass Samira weitere Zutaten errät.
„Holunder ist vertreten, aber auch Rosenblätter, wenn ich mich nicht irre.“
Anna greift gern zurück auf die Blätter der Apothekerrose, die im Schlossgarten wächst. In dem Dienstmädchen steckt viel potenzielles Talent, sodass sich Samira immer wieder für sie einsetzt und sie dem Küchenchef anvertraut. Ob Kreation von Süßspeisen, aber auch von ungewöhnlichen Teesorten, liegen Anna besonders im Blut.
„Hagebutten und auch die Kamille runden das Gesamtbild ab“, verrät Anna mit Freude.
Die Kamille – kaum ausgesprochen schmeckt Samira die Blüten heraus.
Das Ratespiel genießt die Prinzessin für gewöhnlich, nur entgeht ihr die Ungeduld ihrer Schwester nicht. Genießen tut Samira den Tee vom Schreibtisch aus, während Cassandra im Hintergrund verweilt. Sie meidet das Tageslicht schon eine Weile und die Erschöpfung nimmt immer mehr Ausmaß an. Cassandra fallen zwischendurch die Augen zu, was Samira dazu verleitet, ein anderes Mal mit Anna über die selbsterstellte Teemischung zu reden.
„Ich danke dir, Anna. So sehr ich unsere Gespräche genieße, würde ich Etwas Ruhe bevorzugen. Der Tee ist eine wahre Wohltat. Aber ich bin leider nicht in der Laune für lange Gespräche.“
Das Dienstmädchen senkt beschämt das Haupt. Ihre Wangen nehmen einen zarten rosafarbenen Ton an.
„Verzeiht, Eure Hoheit. Ich hatte gehofft, etwas Gesellschaft würde Euch aufmuntern.“
„Für gewöhnlich schon. Nur heute nicht. Es ist viel passiert und mein Kopf ist voll von Gedanken. Zuerst will ich mich mit den Fakten auseinandersetzen und mich sortieren. Bitte hab Verständnis.“
„Natürlich, Eure Hoheit.“ Anna läuft zwei Schritte rückwärts, als sie den Mut findet, ihr Haupt zu heben. „Aber solltet Ihr Eure Meinung ändern oder Euch etwas wünschen, dann zögert nicht, nach mir zu rufen.“
Samira lächelt aufrichtig und ein wenig gerührt. „Ich danke dir, Anna.“
Für Samiras Geschmack zögert die Dienstmagd zu lange, bis sie die Schwestern allein lässt. Samira ist eigentlich kein Freund davon, den schmackhaften Tee wie Wasser hinunterzukippen, aber Cassandra braucht die Stärkung dringender. Wie gut, dass die Mischung mit einer angenehmen Wassertemperatur serviert wird. So verbrennt sich Samira nicht. Kaum ist die Tasse erneut befüllt, winkt Samira unauffällig ihre Schwester heran. Wachsam spielt sie den Beobachter und es zeigt sich, dass Cassandra tatsächlich einen hohen Bogen um das Tageslicht macht. Angekommen, aber verunsichert, beginnt die Totgeglaubte auf die hochgehaltene Tasse zu starren. Misstrauisch runzelt Samira die Stirn.
„Doch keinen Tee? Lieber Wasser?“
Ihr Hinterfragen lässt Cassandra zusammenschrecken. Noch ehe Samira die Arme senken kann, bewegen sich die Hände zur Tasse und ganz zaghaft nimmt Cassandra die Stärkung entgegen. Statt an die Lippen hält sie die Tasse auf Augenhöhe. Der Mund ist zum Staunen geöffnet und ungläubig betrachtet sie den Porzellanbehälter aus sämtlichen Winkeln, was ihre Schwester weiterhin stutzig macht.
„Stimmt etwas nicht, Cassy?“
Der Blick verharrt eisern auf die Tasse. Cassandra ist wie erstarrt und ihre Gestalt beginnt zu flimmern. Beunruhigt erhebt sich Samira, als das Bild ihrer Schwester sich verzehrt. Kurz, aber beunruhigend. Die Sorge gewinnt immer mehr Kraft, Cassandra könne verschwinden. Aus Angst, das Sonnenlicht könne hiermit etwas zu tun haben, schreitet die kleine Prinzessin zu den Vorhängen und zieht diese eilig zu. Kaum dreht sie sich um, fallen ihr die Tränen der Schwester auf. Casandra setzt die Tasse gerade von ihren Lippen, da verblasst ihre Gestalt. Und doch lächelt sie traurig, als habe sie nichts zu befürchten.
Wie ein Blatt im Herbst gleitet die Tasse sanft zu Boden. Die Landung ist weich und wie durch ein Wunder bricht das Porzellan nicht. Samira greift durch die Erscheinung hindurch, als sei Cassandra nichts weiter als eine Erinnerung, die vor ihrem Auge verblasst. Kopfschüttelnd und von Kummer geplagt tritt Samira wenige Schritte zurück. Die Tränen ihrer Schwester stecken sie an.
„Geh nicht, Cassy!“
Es klingt hysterischer, als beabsichtigt. Aber die Sorge ist zu gewaltig, um die Gefühle im Griff zu haben. Tatsächlich formen sich die blassroten Lippen ihrer Schwester zu einem Lächeln und die vertraute Stimme erreicht ihre Ohren.
„Sei unbesorgt, ich bin nicht lange fort.“
Worte, die Samira beruhigen sollen, aber keinerlei Wirkung erzielen. Erneut verliert sie ihre große Schwester. Auf wie lange Sicht? Vielleicht diesmal für immer? Zu kurz war ihr Wiedersehen, um die fürchterliche Leere in ihrem Herzen zu füllen. Samiras Beine lassen sie ebenfalls im Stich und so kauert die Prinzessin eine lange Zeit an der Stelle, wo ihre Schwester verschwindet. Herz und Seele trauern lange über den Verlust, bis der Kopf das Wiedersehen bis ins kleinste Detail abruft und noch mal all die auffälligen Beobachtungen vor Augen ruft. Unruhig wird die Seele. Mit Beinen wie Wackelpudding erhebt sich Samira und steuert den Schreibtisch an.
Cassandras Tagebuch war ein verbotener Schatz, der nicht angerührt werden darf. Samira ist nicht die Einzige, die Cassandras Privatsphäre respektiert. Daher wird niemand ins Buch blicken, was der kleinen Prinzessin zu Gute kommt. Zwischen all den Zeilen Cassandras wunderschön geschwungener Schrift und kleiner Versuche von kleinen Zeichnungen, die Samira traurig beschmunzelt, finden sich freie Seiten. Nach einer gründlichen Überlegung beginnt Samira die heutige Begegnung niederzuschreiben. Angefangen mit dem Fund der Herzdame unter dem Kirschblütenbaum. Lichtscheu, unterkühlte Körpertemperatur, fehlender Herzschlag und die ansteigende Müdigkeit sind Beobachtungen, die Samira noch mal gesondert auflistet. Die Kunst half ihr schon immer, auf andere Gedanken so kommen, daher steht der Entschluss, Cassandras Erscheinung bildlich festzuhalten. Der auffällig verschobene Text deutet daraufhin, als habe ihr Unterbewusstsein dies von Anfang an geplagt. Denn die verschobenen Schriften bieten genug Platz für mehr als ein Bild. Schnell ist der Kohlestift gefunden und kratzt im Nu über das Papier. Nach und nach entstehen die ersten Skizzen. Beginnend mit dem Blick vom Schlossgarten auf Cassandras Zimmer, wo die Silhouette am Fenster auszumachen war. Dann die Kontaktaufnahme am Bett. Auch die müde Version in der dunklen Ecke darf nicht fehlen, sowie der Abschluss, als Cassandra die Tasse an sich nimmt und zögert. All die eingebrannten Bilder spiegeln sich wenig später im Tagebuch wieder und helfen Samira, mit der Erfahrung besser umzugehen. Niedergeschrieben wirkt es weniger wie ein Traum. Dieses Wiedersehen darf sich nicht nur in ihrem Kopf abgespielt haben. Auch wenn ein winziger Teil von Samira ihre Bedenken zu dem Ganzen hat, wünscht sich ihr Herz, dass ihre geliebte Schwester erneut ins Licht tritt.































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