Mirani-Kapitel 30

~Asher~

Ich ignorierte den leichten Kratzer, den sie mir mit ihren Fingernägeln zugefügt hatte. Wie sie in meinen Armen lag, nach Atem rang und kaum ihre Augen offen halten konnte, beunruhigte mich. Gleichzeitig besorgte mich auch die Reaktionen der Umstehenden.
Rashid lachte Nael aus, der verwirrt am Boden saß und scheinbar gar nicht verstand, was geschehen war.
Ich hätte verhindern sollen, dass er Mirani berührte. Wer konnte schon sagen, was sie durch ihn gesehen hatte. Irgendwas, das sie wirklich wütend gemacht hatte.
Wenn ich ehrlich war, hatte ich ihre Bewegung gar nicht kommen sehen. Sie war viel schneller gewesen, als erwartet. Selbst für mich zu schnell. Dabei war das meine einzige Stärke. Ich war sogar schneller als Rashid.
Wäre ich an Naels Stelle gewesen, hätte ich vermutlich nicht ausweichen können. Ich wusste nicht, ob ihre Stärke ausgereicht hätte, um mich von den Beinen zu hauen, doch das bestätigte mich in meiner Annahme, dass sie wirklich die Rakshasa besiegt hatte.
»Ich kann nicht glauben, dass eine Omega ihn umgehauen hat«, lachte Rashid, während Vater sein Lächeln versteckte.
»Nael«, sagte er mit mahnender Stimme. »Ich wusste ja schon immer, dass du nicht zum Krieger taugst, aber das …«
»Sie hat mich tierisch erschreckt«, bemerkte Nael, der sich langsam wieder erhob. Seine Beine zitterten, doch er ließ sich so schnell nichts anmerken. Vielleicht war es wirklich nur der Schreck gewesen.
»Was ist jetzt mit unserem Test?«, fragte Rashid, der sich nur langsam wieder fing. Er schien über die ganze Situation eher belustigt zu sein.
Rhaem und die anderen blickten zu Mirani, die in meinen Armen hing und schwer atmete.
»Sieht aus, als würde sie sich aus der Sache rauswinden wollen«, bemerkte Rashid schnaubend, als er sie kurz musterte. »Wie ich mir dachte, sie hat nichts gesehen. Das ist alles nur vorgespielt.«
Ich unterdrückte ein Schnauben. Mein Bruder war schon immer von sich überzeugt gewesen, doch so schlimm hatte ich es nicht in Erinnerung.
»Rashid. Das reicht. Ähnlich hat sie auch bei dem Wolf reagiert. Sie muss also etwas gesehen haben«, bemerkte Zahira, die angespannt auf Mirani blickte.
Wurde ihr jetzt endlich klar, dass diese ganze Berührungssache für Mirani gefährlich war?




Mirani gab einen leisen Laut von sich, der meinen Fokus wieder auf sie verschob. Ich hörte im Hintergrund meine Mutter und meinen Bruder diskutieren. Mutter versuchte ihm zu erklären, dass sie nur dank Mirani herausgefunden hatte, dass der tote Wolf zu einer Karawane gehörte, doch wie immer hörte Rashid nicht zu.
Ich räusperte mich leise. »Da niemand an unserer Anwesenheit Interesse hat, bringe ich sie jetzt in ihr Zimmer«, sagte ich, auch wenn es mir nicht gefiel. Am liebsten hätte ich sie ignoriert, doch das würde nur für ein Nachspiel sorgen, das ich nicht gebrauchen konnte.
Ich wollte Mirani nur noch hier wegbringen, doch ich schaffte es, auf Vaters zustimmendes Nicken zu warten. Er wäre sicherlich an die Decke gegangen, wenn ich das nicht getan hätte. Vater legte großen Wert auf Höflichkeit. Zumindest ihm gegenüber. Er selbst war nie höflich.
Da ich nun seine Zustimmung hatte, drehte ich mich zur Tür. Dabei streifte mich Nael, der sich zwar wieder aufgerappelt hatte, doch nicht begeistert den Mund verzog. Ich entdeckte die Stelle an seiner Wange, die ein wenig rot war.
Schadenfreude machte sich in mir breit und ein leichtes Lächeln umspielte meine Lippen, als ich hinaus in die Gänge trat. Es war also doch nicht nur der Schreck gewesen. Geschah ihm recht.
Als Mirani in meinen Armen zitterte, zog ich sie etwas näher an mich. War ihr erneut kalt? Das letzte Mal hatte sie gefroren, als sie wieder erwacht war. Sollte ich sie also eher in die Sonne bringen?
Ich wusste es nicht. Später würde ich sie fragen, wie ich ihr am besten helfen konnte.
Weil es mir draußen zu gefährlich war und zu viele Augen sie sehen würden, brachte ich sie in mein Zimmer.
Ich hatte noch nie eine Frau hierhin mitgenommen, doch Miranis Gegenwart störte mich nicht.
Hoffentlich würde sie sich nicht erschrecken.
Die Wände aus rotem Stein, die mit schwarzem Mörtel verfugt waren, waren so ganz anders als in ihrem Zimmer.
Generell war meines dunkler, doch ich mochte es so.
Mein Blick wanderte zu dem Regal mit den vielen Sanduhren und ein schiefes Lächeln umspielte meine Lippen. Der Gedanke, eine weitere Sanduhr zu platzieren, die für Mirani stand, fühlte sich irgendwie falsch an.




Hoffentlich fragte sie mich nicht nach den Bedeutungen der Sanduhren. Ihr von meinen gewonnenen Wetten und bestandenen Prüfungen zu erzählen, war kein schlechter Gedanke, doch unter den Sanduhren gab es auch diejenigen, die für intime Begegnungen standen. Ich glaubte nicht, dass Mirani davon gerade mehr gebrauchen konnte.
So wie ich Nael kannte, war er in seinen Frauengeschichten schlimmer als ich. Ich hoffte sehr, dass es Mirani nicht zu sehr verstört hatte. Aber wenn sie schon so alt war, wie sie sagte, musste sie doch sicherlich auch schon Erfahrung in diesem Bereich haben. Oder hatte sie sogar einen Freund?
Dieser Gedanke machte mich überraschend wütend.
Als ich sie auf mein Bett legte, stöhnte sie leise und blinzelte sogar.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich, weil ich nicht wusste, ob sie vielleicht Angst hatte. Sie kannte die Umgebung immerhin nicht und ich wusste auch nicht, ob sie mich aktuell erkannte.
Ihr Blick glitt umher, bevor sie sich hektisch atmend aufsetzte und um sich schlug.
Sofort zog ich mich zurück, um ihr Platz zu geben, weil ich nicht wusste, was sie sah.
Ihr Atem ging hektisch und ihre Augen waren weit aufgerissen, während sie zu mir sah. Dieses Mal hatte ich tatsächlich das Gefühl, dass sie mich nicht erkannte. So wie ich es fast schon erwartet hatte.
Verschwamm die Umgebung mit der Erinnerung?
Ich sprach nicht, sondern erwiderte ihren Blick und wartete, bis er sich ein bisschen klärte. Er war ein wenig verhangen. Fast so, als wäre ein Nebel über ihren Pupillen. War das auch schon das letzte Mal so gewesen? Wenn ja, war es mir nicht aufgefallen, doch das war durchaus interessant.
Mirani griff sich an den Kopf und blinzelte. »Wo bin ich?«, fragte sie irritiert. Eine Reaktion, die mich beruhigte. Es zeigte mir, dass sie die Umgebung wahrnahm. Das war gut.
»In meinem Zimmer«, erwiderte ich, war mir aber nicht sicher, ob sie mich überhaupt hörte.
Erneut blinzelte sie, bevor sie sich umsah. Ihre Haltung wurde ein wenig entspannter und das Zittern ließ nach.
Dann blickte sie auf das Bett, musterte es und seufzte leise.
Eine Reaktion, die mich überraschte, aber auch verwirrte.
Wenn ich jedoch daran dachte, was sie vermutlich gesehen hatte, erschloss sich mir ihre Reaktion.




Immerhin war Nael so dreist gewesen, mit meiner Verlobten ein Schäferstündchen auf meinem Bett zu halten. Daher hatte ich es auch verbrannt und ein neues besorgt.
»Dein Bruder ist ein widerliches Arschloch«, brachte sie hervor. »Wie kann deine Familie so ein Verhalten dulden?«
Das war eine sehr gute Frage. »Sie lassen nichts an die Öffentlichkeit dringen. Und solange er es nicht übertreibt…«, setzte ich an, wurde aber von ihrem Knurren unterbrochen.
»Du bist genauso ihr Sohn. Sie sollten auch dich beschützen, nicht nur ihn.«
Ich hob die Hände, kam aber nicht umhin, ein warmes Gefühl zu spüren. Es war wirklich selten, dass sich jemand so für mich einsetzte und ich dankte es ihr sehr. Nur machte ich mir auch Sorgen.
Ihr Mund verzog sich, als sie meine Reaktion musterte. Eine Geste, die mich schmunzeln ließ. »Ich danke dir, dass du meinetwegen so wütend wirst, aber ich bin es gewohnt. Es ist alles in Ordnung«, sagte ich, um sie zu beruhigen.
Ich war über mich selbst überrascht. Warum nutzte ich das nicht aus und sorgte so dafür, dass ich ihr näherkam? So hätte ich es bei jeder anderen Frau getan, doch bei Mirani fühlte es sich falsch an.
Sie stieß die Luft aus und fuhr sich durch die Haare.
Dann schwang sie ihre Beine aus dem Bett und erhob sich. »Bleib liegen«, bat ich, doch da war es schon zu spät. Sie trat auf mich zu und schlang ihre Arme um mich, bevor sie sich an mich schmiegte, als würde sie mich damit trösten wollen.
Diese unerwartete Nähe ließ mein Herz höherschlagen. Ihr Duft stieg mir in die Nase und ließ mich schaudern.
Ich schlang meine Arme ebenfalls um sie und atmete tief ein.
Ohne mir groß Gedanken darum zu machen, begann ich, sanft ihren Rücken zu streicheln, um sie zu beruhigen.
In dem Moment schien sie zu bemerken, was sie getan hatte und zuckte leicht, doch ich ließ nicht los. Ich wollte nicht, dass sie sich zurückzog. Im Moment brauchte ich ihre Nähe sehr.
Mirani hob langsam ihren Kopf. Ihre silbernen Augen blickten zu mir auf und funkelten. Nicht fragend, aber neugierig und abwartend.
Ich hielt die Luft an, während ich ihr Gesicht musterte und mich fragte, was ihr Blick zu bedeuten hatte.
Ohne es zu wollen, landete mein Blick immer wieder auf ihren zarten, rosafarbenen Lippen.




Sie zuckte nicht, als ich ihr immer näher kam und ich fragte mich nicht, was ich hier überhaupt tat.
Erst, als sich unsere Lippen berührten und ein angenehmer Schauer meinen ganzen Körper packte, wurde mir bewusst, dass ich sie gerade küsste.
Doch noch überraschter war ich darüber, dass sie vorsichtig und tastend meinen Kuss erwiderte.
Die Art, wie sich ihre Lippen bewegten und wie sie ihre Augen schloss, sagten mir, dass sie nicht abgeneigt war. Sie genoss es, war aber vorsichtig, ja regelrecht unsicher.
Es war ihr Atem, der sich mit meinen vermischte, ihre Wärme, die mich umhüllte und wie sich ihre Finger vorsichtig in meinen Rücken krallten, was diesen Moment so besonders machte.
Ich spürte in mir kein Rauschen, keine Gier, nur der Frieden des Moments, der mich dazu bewegte, meine Augen zu schließen.
Das hatte ich noch nie getan, doch ich wollte sie mit all meinen Sinnen spüren.
Ich war verwundert, aber nicht verwirrt.
Obwohl mich das Gefühl von Verwundbarkeit überkam, fühlte ich mich doch sicher.
Sicher in der Umarmung einer Frau, die in mir den Drang weckte, sie für immer an mich zu drücken und sie nie wieder loszulassen.

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