Mirani-Kapitel 36


~Asher~
Wieso war Khali ausgerechnet heute auf mich zugegangen? An jedem anderen Tag hätte ich mich über ihre Gesellschaft gefreut und wäre ihrer Einladung gefolgt, doch heute …
Mein Blick glitt auf Mirani, die nachdenklich neben mir herging. Was sie wohl darüber dachte? Wusste sie, dass Khali ein Mädchen aus einem Freudenhaus war? Kannte sie etwas Derartiges überhaupt?
Warum hatte Mirani das mitansehen müssen?
Das alles brachte mich aus dem Konzept. Ich verstand meine eigenen Gefühle nicht.
Warum frustrierte mich das so? Warum schlug mein Herz aufgeregt? Hatte ich Angst? Aber wovor?
Mirani war doch auch nicht mehr als eine Eroberung, hinter der ich her war.
»Sicher, dass wir hier richtig sind? Das ist eine ganz schön zwielichtige Gegend«, bemerkte Mirani, die sich nah bei mir hielt.
Ihr musste aufgefallen sein, dass hier nicht nur Glücksspiel betrieben wurde. Es gab auch Kämpfe, bei denen man Wetten konnten und allerlei Dinge zu kaufen, die eigentlich nicht ganz legal waren.
Und dann waren da noch die Freudenhäuser, die versuchten, Gäste anzulocken.
»Wir sind bald da«, versicherte ich, ärgerte mich aber gleichzeitig, dass ich mich für diesen Weg entschieden hatte. Allerdings hatte ich auch nicht lange darüber nachgedacht. Dieser Teil der Stadt war meine zweite Heimat. Hier hatte ich mehr Zeit verbracht, als in meinem Elternhaus. Daher hatte ich auch keinen Gedanken darauf verschwendet, wie Mirani diese Sachen auffassen würde. Ein Fehler, wie mir jetzt klar wurde.
Ich beobachtete ihre kleine Gestalt. Obwohl sie die Kapuze über ihren Haaren hatte, schimmerten einige silberne Strähnen im Schein der Laternen.
Khali hatte recht. Sie war wirklich eine Schönheit.
Schützend legte ich einen Arm um sie, als wir an einem Gebäude vorbeikamen, das den Ruf einer Spielhölle hatte. Ich wusste, dass der Mann, der an der Tür stand, jeden ansprach, der vorbeiging. Darum blickte ich ihn sofort an und hoffte, er würde meine Warnung verstehen.
Das Problem war nur, dass wir uns kannten. Ich war dort Stammgast, weshalb ich heute einen verwirrten und nachdenklichen Blick bekam. Hoffentlich hatte ich es mir damit nicht bei ihm verscherzt.
Als er einen Schritt auf uns zu machte, knurrte ich leise, was ihn sofort stehenbleiben ließ.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte Mirani, die überrascht zu mir hochblickte, aber dabei trotzdem weiterlief. Ich hielt sie so, dass sie nicht sehen konnte, wen ich anknurrte.
»Nein. Alles in Ordnung«, versicherte ich und schob sie schnell weiter.
Instinktiv wurde ich schneller, um endlich diesen Teil hinter uns zu lassen. Warum wohnte Beidou auch in einer solchen Gegend? War er mit seiner Handelskarawane nicht an Geld gekommen?
Schließlich verließen wir den Stadtteil, der mir noch nie so unangenehm war, wie heute.
»Ich wusste gar nicht, dass es auch Häuser gibt, die direkt in den Stein gehauen sind«, bemerkte Mirani überrascht, als sie die Höhlen in den Wänden des Flussbettes sah.
»Normalerweise sind es keine Wohnungen, sondern Lager«, erklärte ich stirnrunzelnd. Hatte Mutter mir vielleicht gar nicht die Wohnadresse gegeben sondern die des Karawanenlagers? Aber was auch immer es war, hier sollten wir also nach Hinweisen suchen.
Die Stimmen aus der nahen Stadt wurden vom Wind zu uns getragen, doch die Worte waren undeutlich, als wir uns dem Höhleneingang näherten.
Die Tücher, die davor gespannt waren, waren nicht in der auffälligen Farbe Rot gehalten, wie es sonst der Fall war. Sie waren stattdessen in einem Ton, der zu den orangeroten Sandsteinfelsen passte. Fast so, als hätte jemand versucht, diesen Teil zu verstecken.
Wachen konnte ich auch keine sehen, was mich unruhig machte. Eine Karawane sollte ihre Schätze nicht unbeaufsichtigt lassen. Aber da wir davon ausgingen, dass die Karawane nie zurückgekehrt war, waren vielleicht auch die Wächter abgesprungen. Oder schlimmer.
Als ich die Tücher zur Seite schob, kam uns kalte Luft entgegen.
Sie war sehr angenehm, doch das Bild, das uns empfing, dämpfte meine Erwartungen.
Hier war definitiv einmal ein Karawanenlager gewesen, doch es war nicht mehr viel davon übrig.
Kaputte Kisten, zerrissene Tuche und alte Papierfetzen bedeckten den Boden.
Alles, was von Wert war, hatte jemand mitgenommen.
»Großartig«, stieß ich hervor und verzog den Mund.
Mirani huschte an mir vorbei und trat direkt auf ein Papier zu, das am Boden lag. »Sieht aus, als wäre nichts zurückgeblieben«, sagte sie und hockte sich nieder.
Ich ließ die Tücher wieder zurückfallen. Trotzdem war es recht hell in der Höhle. An den Wänden hingen Fackeln, die entfacht waren, was mich irritierte.
»Wir sollten nicht zu lange hier bleiben«, bemerkte ich, denn die Fackeln waren ein Hinweis darauf, dass dieser Ort vielleicht noch genutzt wurde. So nah, wie er am Sündenpfuhl der Stadt lag, könnten Banditen sich hier einquartiert haben.
»Ich versuche, ob ich etwas sehen kann«, sagte Mirani, die das Dokument wieder fallenließ. Scheinbar enthielt es nichts Wichtiges.
Ohne ihre Gabe würden wir vermutlich keine Anhaltspunkte finden. Ob das der Grund war, warum Mutter uns geschickt hatte? War sie vielleicht sogar schon hier gewesen und hatte gesucht?
Ich beobachtete, wie sie auf eine der Wände zuging und ihre Hände daran legte.
Mein Herz setzte einen Moment aus, als mir klar wurde, dass Mirani nicht einmal eine Kiste oder Ähnliches brauchte. Eine Wand reichte ihr. Sie würde ihr alles zeigen, was wir wissen mussten.
Mirani schloss ihre Augen, bevor sie die Luft ausstieß. Ich spürte plötzlich etwas, das sich um sie legte. Wie ein sanfter, fast kaum wahrzunehmender Nebel. Ein ganz leichtes Gefühl ihrer Aura kribbelte auf meiner Haut. Ich konnte sie nur spüren, weil ich mich darauf konzentrierte.
War das schon immer so gewesen oder lag es daran, dass sie ihre Gabe aktiv nutzte?
Ich erinnerte mich nicht, wie es bei dem Ring gewesen war. Damals hatte ich mich nicht wirklich auf Mirani an sich konzentriert.
»Deine Mutter hat hier schon gesucht«, bemerkte sie mit verzogenem Mund. »Aber davor wurde die Höhle geplündert.«
So etwas hatte ich mir schon gedacht, doch es bestätigt zu bekommen, fühlte sich seltsam an.
Ich wartete geduldig, ohne sie zu drängen. Vielleicht würde ich sie irgendwann einmal fragen, was genau sie eigentlich sah. Es schien jedenfalls nicht so, als wären die Bilder immer sonderlich klar, denn sie brauchte eine ganze Weile, bis sie die Luft ausstieß und sich von der Wand zurückzog. »Sie haben sich schon vor einigen Wochen auf den Weg in die Hafenstadt gemacht. Noch bevor du mit deiner Mutter zu den Aethelhain-Inseln aufgebrochen bist. Sie wollten die nordwestliche Route nehmen.«
»Wenn sie das getan haben, weiß ich in etwa, wo sie lang sind«, sagte ich, auch wenn es nur eine Vermutung war. Es gab zwei Wege, welche die Karawanen immer nahmen. Die nordwestliche Route war nicht unbedingt die, die man nehmen würde, wenn man in die Hafenstadt wollte, aber vielleicht war Beidous Karawane losgereist mit einem Ziel, das auf dieser Route lag.
»Sehr gut, dann finden wir auf den Wegen vielleicht noch weitere Hinweise«, bemerkte Mirani, die sich lächelnd zu mir umwandte.
Allerdings schwankte sie etwas, weshalb ich sofort auf sie zuging, um sie zu stützen. Ihr Atem ging schwerer als nach unserem Kampf und sie lehnte sich schwer auf mich.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich besorgt, denn sie sah auf einmal sehr ausgelaugt aus. Es war jedoch nicht so schlimm wie nach dem toten Wolf. Mirani machte auf mich nicht den Eindruck, dass sie gleich zusammenbrechen würde. Sie war nur erschöpft.
»Ja«, murmelte sie und schloss einen Moment die Augen, während sie an mir lehnte. »Es war nur sehr viel«, gab sie widerwillig zu. Allerdings hielt der Moment nicht lange. Als sie die Augen wieder aufschlug, zog sie sich auch wieder von mir zurück, als hätte dieser kurze Moment schon geholfen. Ich war mir da nicht so sicher. Mir wäre es lieber, wenn sie sich noch einen Moment ausruhte.



























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