Mirani-Kapitel 56

~Azhar~
»Wo kommt der Nebel her?«, fragte Zahira ähnlich perplex, wie ich mich auch fühlte.
Ich hatte mein Leben in der Dämmerwüste verbracht, war in der unterirdischen Stadt aufgewachsen und doch hatte ich noch nie etwas vergleichbares gesehen.
Ich konnte kaum einen Meter geradeaussehen, bevor der Nebel meine Sicht blockierte. Dazu kam das seltsame, wartende Kribbeln, das er auf meiner Haut hinterließ.
Das war kein typisches Nebelverhalten.
»Wir sollten …«, setzte ich an, spürte aber im nächsten Moment ein sanftes Ziehen.
Als ich mich umwandte, entdeckte ich niemanden, dabei war ich mir sicher, dass mich etwas berührt hatte.
Allerdings wurden im Nebel Silhouetten sichtbar, bevor Mirani und Asher vor mir auftauchten.
»Du musst deinen Leute evakuieren. Die Tunnel sind voller Rakshasa«, stieß sie hervor.
Ihre Stimme hatte etwas, das ich bis jetzt nicht bei ihr gehört hatte.
Nicht nur war sie drängend, sondern hatte etwas Befehlendes.
Ich musterte sie von oben bis unten, bevor ich bemerkte, dass die Spitzen ihrer Haare gar nicht mehr als solche auszumachen waren. Sie verschmolzen förmlich mit dem Nebel.
»Ist das hier dein Werk?«, fragte ich, als Zahira einen Schritt auf mich zu trat. In einer überraschend defensiven Pose, als würde sie im Nebel etwas erkennen, vor dem sie sich schützen wollte.
»Ja. Der Nebel wird die Rakshasa ablenken, aber es sind zu viele, als dass ich sie alle genug verwirren könnte.«
Sie musste nichts weiter sagen. Mir war klar, dass es sich hierbei um die Alpha-Gabe handelte, von der mein Vater mir erzählt hatte.
Jetzt bestand kein Zweifel mehr. Sie musste die Richtige sein.
Meine Hand glitt in meine Tasche und meine Finger fuhren über die tiefschwarze Schachtel. Jetzt war vielleicht der passende Moment. Sollte ich sie ihr überreichen?
Nein. Dazu war jetzt nicht die Zeit.
»Kannst du mir sagen, welche Tunnel frei sind?«, fragte ich an Mirani gerichtet. Wenn ich ihren Nebel richtig einschätzte, dann konnte sie damit auch die Aufenthalte der Rakshasa einschätzen.
»Ich locke sie gerade aus dem Gang raus, den uns Zahira hergeführt hat«, erklärte Mirani fest, während sie konzentriert in den Nebel starrte.
Zahira neben mir schnappte nach Luft. »Woher weißt du das? Du warst doch ohnmächtig?«, fragte sie perplex.
»Ashers Geruch«, erwiderte Mirani lediglich.
Ich nickte. »Evakuierung über Tunnel 5A. Tunnel 5A. Alle dort entlang«, rief ich meinen Leuten zu.
Mehr brauchte es nicht. Sie wussten, was zu tun war.
»Wir können durch den Nebel nichts sehen«, erklang eine verwirrte Antwort.
»Der Nebel wird euch führen. Folgt seinem Ziehen«, schrie Mirani unruhig zurück, bevor sie sich abrupt umwandte. »Sie sind hier«, hauchte sie.
»Was?«, stieß Zahira hervor und griff nach dem kleinen Dolch an ihrer Hüfte.
»Irgendwohin musste ich sie doch locken«, erwiderte Mirani, die ihre Krallen ausfuhr.
Es war überraschend wie geschmeidig der Übergang ihrer Hand zu der einer klauenbewährten Wolfspranke war.
Eine gute Waffe, aber gegen rakshasa vielleicht nicht geeignet.
»Und dann führst du sie hierher?«, fragte Zahira panisch.
»Du willst mir doch nicht sagen, dass wir nicht gegen ein paar von diesen Viechern ankommen. Immerhin sind wir vier Alphas«, erwiderte ich belustigt.
Ich wollte die Abstimmung auflockern, konnte die Gefahr aber nicht einschätzen.
»Mit den richtigen Waffen würde ich dir zustimmen«, murmelte Mirani, die im Nebel Silhouetten beobachtete.
Dann kam einer der Rakshasa herausgestürzt. Direkt auf Mirani zu.
Sie reagierte schnell und geschmeidig.
Mit einem Hieb trennte sie den Kopf von der Schulter.
Bevor der Körper den Boden berührte, trat Asher nach ihm und schleuderte ihn in die Menge der Rakshasa, die uns umkreisten.
Beide bildeten eine Einheit, ohne sich überhaupt absprechen zu müssen. Das ließ mich lächeln. Es erinnerte mich sehr an meine Anfangszeit mit Zahira. Nur hatten wir nie das Privileg besessen, länger als ein paar Stunden in der Woche Zeit miteinander zu verbringen.
Rakshasa waren nicht stark. Nicht gegen einen Alpha. Die Masse machte den Unterschied, doch Mirani verstand es, einen nach den anderen zu schicken.
Ein weiterer Rakshasa stürmte vor und versuchte Zahira zu beißen.
Ich zog den Griff aus meinem Stock, der damit zu einem eleganten, gut versteckten Degen wurde.
Zielsicher durchbohrte ich das Herz der Kreatur. Ein hoher, spitzer Schrei verließ seine Lippen, der von den anderen Rakshasa erwidert wurde, doch sie schlugen lediglich wild um sich, als würden sie uns an einer anderen Stelle sehen.
Dieser Nebel war eine sehr gefährliche Waffe. Besonders in Kombination mit Mirani, deren Bewegungen so präzise und stark waren, dass ich mich fragte, woher sie ihre Kampferfahrung hatte. Laut Vater war sie viele Jahre auf den Aethelhain-Inseln gefangen gewesen. Es wunderte mich sowieso, sie hier zu sehen.
»Es werden zu viele«, rief sie plötzlich. »Einige von ihnen werden durch den Nebel brechen.«
Kaum hatte sie das gesagt, stürzte eine Gruppe von drei Rakshasa auf Zahira zu und rang sie zu Boden.
Fluchend stürzte ich mich nach vorn. Mein rechtes Bein protestierte und ließ mich schwanken, doch ich ignorierte die Schmerzen.
Stattdessen stach ich einem der Rakshasa ins Auge und brachte ihn so dazu, Zahira zu ignorieren.
Diese strampelte, trat und kratze um sich und schaffte es, sich wieder freizukämpfen, sodass sie angreifen konnte.
Mit einer gezielten Bewegung, gelang es ihr, den Rakshasa in den Schwitzkasten zu nehmen, doch sie war nicht stark genug, um ihn mit einer fließenden Bewegung das Genick zu brechen.
Anders als Mirani, die das schon ein paarmal in diesem Kampf getan hatte.
Zahira war eine stolze Kriegerin und hielt viel auf ihre Kampffertigkeiten, doch ihr Blick verriet mir, dass sie das erste Mal den Unterschied zwischen einem aufgestiegenen und geborenen Alpha verstand.
Sie war stärker als ein Beta, doch sie würde lange nicht an Mirani oder Asher herankommen.
»Wie sollen wir gegen so viele Rakshasa gewinnen?«, fragte sie atemlos und hielt sich die Schulter. Dort vermischte sich der schwarze Speichel der Monster mit ihrem Blut.
Für sie war ein Biss viel tragischer, als für uns. Einer reichte, um sie in die Knie zu zwingen, auch wenn sie sich dagegen wehrte.
Plötzlich drang ein Geruch an meine Nase, der noch schlimmer war, als der von den Rakshasa. Eine Aura folgte, die mir das Gefühl gab, ich wäre gegen eine Wand gelaufen.
Ein Keuchen verließ meine Lippen und ich wirbelte herum.
»Mirani«, schrie Asher und zog diese zur Seite. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Atem ging flach und sie zitterte, während sie sich in einer Art Schockstarre befand.
Fluchend zerrte Asher sie zu uns, sodass wir einen Schutz um die beiden Frauen bilden konnten.
Zahira saß am Boden und atmete schwer. Ihr Blick auf eine der Ketten gerichtet, welche der Rakshasa getragen hatte.
Zeichen, dass sie eigentlich zu Rashid gehörten. Nur waren sie nicht allein und hörten definitiv nicht mehr auf Befehle.
Ashers Präsenz neben mir pulsierte.
Sein Körper war voller Kratzer. Oberflächlich und so, dass sie ihn nicht behinderten, doch gewollt.
Zahira hatte mir von seiner Gabe erzählt und er nutzte sie voll aus.
Der Rakshasa, der auf uns zugesprungen kam, bekam Ashers Faust gegen den Kiefer. Seine Zähne knirschten und brachen aus, bevor er im hohen Bogen zurück in sein eigenes Rudel geschleudert wurde.
Früher hätte ich diesen Kampf mehr genossen. Damals, als ich noch nicht so versehrt war.
Ich wollte ebenfalls kämpfen, doch meine Bewegungsfreiheit war so sehr eingeschränkt, dass ich die Rakshasa an mich herankommen lassen musste.
Als ich meinen Degen nach vorn schießen ließ, um den Rakshasa zu durchbohren, bemerkte ich das erste Mal den Unterschied zu anderen Alphas.
Vielleicht war ich noch immer so stark wie einer, sodass mein Angriff traf, doch mit dem, was da auf uns zukam, würde ich nicht fertig werden.
Das Wesen, dessen Präsenz Mirani zum Zittern brachte, umkreist uns. Es sah uns, da war ich mir sicher. Aber warum griff es nicht an.
»Mirani. Reiß dich zusammen«, hörte ich Asher Knurren, doch auch seine Stimme zitterte.
War es das, was Mirani so zugerichtet und so viele tote Wölfe gefordert hatte?
»Gegen den Jiangshi haben wir keine Chance«, brachte Mirani panisch hervor und krallte sich an Asher fest.
Ich versuchte, etwas zu erkennen.
Der Nebel machte es mir nicht leicht, doch ich hoffte, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.
Ein Klackern ertönte, das bei Mirani für einen Schweißausbruch sorgte, doch ich erkannte auch, wie sie gegen die Panik ankämpfte.
Dann traf mich etwas im Rücken und riss mich so heftig von den Beinen, dass mir die Luft aus den Lungen gedrückt wurde.
Ich wirbelte durch die Luft, bevor ich zu Boden krachte.
Die kleine Schatulle aus meiner Tasche polterte zu Boden, öffnete sich und das silberne Armband, dem mein Vater sein ganzes Leben gewidmet hatte, rutschte über den Boden.
Die kleinen Anhänger, die alle andere Miniaturwaffen zeigten, klimperten, doch ein schiefes Lachen übertönte das Geräusch.
Mir gefror das Blut in den Adern, als sich eine Aura drückend auf mich legte.
Obwohl ich versuchte, mich hochzudrücken, gelang es mir nicht. Meine Arme zitterten vor Anstrengung und nur, weil Zahira mir zu Hilfe kam, schaffte ich es, nicht gebissen zu werden.
Ich konnte nicht sagen, wann sie sich aufgerappelt hatte, doch ihr Körper war voller Schweiß und ihr Atem angestrengt.
»Das wird ein Festmahl. So viele Alphas«, erklang eine kichernde Stimme, die mich würgen ließ.
Was war das für ein Wesen? War das wirklich ein Jiangshi? Aber … wieso konnte er sprechen? War er so schlau?
Neben uns erklang ein Schritt und als ich zur Seite blickte, bemerkte ich Mirani, die angespannt, zitternd und trotzdem fokussiert auf das Armband zulief.
Als sie sich hinabbeugte und mit den Fingern das Armband berührte, schien für einen Moment die Zeit stillzustehen. Es schimmerte in einem angenehmen Blau, wie ich es noch nie gesehen hatte.
Was auch immer Miranis Verbindung zu diesem Armband war, dem mein Vater sein Leben gewidmet hatte, es schien ihr neuen Kraft zu geben. »Asher«, sagte sie, wobei ihre Stimme fest klang.
Ihre Finger hoben das Armband auf und sie zupfte sich mit einer fließenden Bewegung die kleine Axt vom Ohr, die perfekt zu den restlichen Anhängern passte. »Bring deinen Vater und deine Mutter hier weg«, befahl sie, während das Armband seinen Platz um ihr elegantes Handgelenk fand.
Ich hatte sofort das Gefühl, dass es ihre Aura verstärkte, auch wenn dies nur Einbildung sein konnte. Die Art von Artefakten, die das konnten, waren Rudelgeheimnisse. Die Dämmerwüste besaß nicht einmal ein solches Artefakt. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass mein Vater an einem solchen gearbeitet hatte. Er war kein Gott, nur ein besonders guter Schmied.
»Das kann ich nicht«, erwiderte Asher, der einem Rakshasa in den Magen schlug und ihn so zurückschleuderte.
»Ich werde euch Zeit verschaffen und euch dann folgen«, beharrte Mirani, deren Ausdruck plötzlich überraschend entschlossen war. »Wenn wir hier bleiben, sind wir alle tot.«
Zahira zog mich hoch. Auch, wenn ich an ihrem Blick erkennen konnte, wie schmerzhaft das für sie war. »Sie hat recht«, flüsterte sie und blickte zu Asher. Vermutlich wusste nur ich, wie sehr dieser Junge ihr am Herzen lag. Sie würde alles tun, um ihn zu schützen.
Mirani blickte zu mir. Noch immer entschlossen, während sich weitere Rakshasa durch den immer dichter werdenden Nebel kämpften. Ihre Klauen bereits sichtbar, doch noch immer so zurückgehalten, dass wir Zeit zum Durchatmen hatten.
Ich atmete tief ein, bevor ich meine Kraft zusammennahm. »Wir sehen ihr nur im Weg«, stimmte ich zu und ließ mich von Zahira mitziehen.
»Ich kann dich nicht …«, setzte Asher an, der auf Mirani zugehen wollte.
»Asher«, schnitt diesem ihm das Wort mit so fester Stimme ab, dass selbst mein Körper erzitterte. Ihre Aura legte sich drückend auf mich, sodass es mir kaum gelang, diesen Befehl zu ignorieren. Sie war eine wirklich atemberaubende Alpha.
Als sie sich umwandte, lag ein Lächeln auf ihren Lippen. »Vertrau mir. Ich komme nach«, sagte sie, doch noch immer zögerte Asher.
Es war Zahira, die ihn griff und mit sich zog, während der Nebel uns von diesem Ort weglenkte und die Rakshasas von uns fernhielt.
Die, die doch durchbrachen, wurden von Asher erbarmungslos niedergestreckt, doch ich machte mir dennoch Sorgen.
Wenn ihr Nebel uns beschützte, würde er dann auch sie beschützen?


























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