Mirani-Kapitel 6

~Mirani~

Wieso hatte ich mich nur dazu entschieden, mir das anzutun?
Zahira und Asher in meinem Rücken zu haben, während ich die vertrauten Pfade der Nebelwälder durchschritt, fühlte sich seltsam an. Ihre Blicke waren starr auf mich gerichtet und mir war bewusst, dass sie jede meiner Regungen beobachteten. Gleichzeitig hielten sie jedoch auch respektvollen Abstand, wofür ich dankbar war.
Eine Reise in die Dämmerwüste war das letzte, das ich mir vorgestellt hatte. Nicht einmal in meinen Träumen hatte ich meine Heimat verlassen. Aber ich verstand Mutters Sorgen. Als Alpha, die sich um ihr Volk sorgte, verstand ich auch Zahira. Nur wusste ich nicht recht, was meine Gegenwart in der Dämmerwüste bringen sollte.
Trotzdem würde ich mich dieser Aufgabe stellen. Zumindest hatte ich mir das vorgenommen, doch je näher wir dem Rand meiner Heimatinsel kamen, desto angespannter fühlte ich mich. Plötzlich wünschte ich mir, das Ziel wäre weiter weg und der sanfte Nebel auf meiner Haut würde sich niemals lichten.
»Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte Zahira mit einer Stimme, die nach außen zwar ruhig wirkte, doch ich hörte das leichte Zittern. Ob sie mir nicht vertraute?
Die Nebelwälder waren ein gefährliches Pflaster. Sich zu verlaufen war viel zu einfach, daher nahm ich ihr das nicht übel.
»Wir sind jeden Moment am Rand der Insel«, erwiderte ich ruhig, ohne von meiner Route abzulassen. Ich spürte bereits, wie sich der Nebel leicht lichtete. Das hieß, wir waren in der Nähe des Wassers.
Zahira war mit dem Sonnenfalter gekommen. Ein Luftschiff, das der Familie Amqar gehörte. Ich war begierig darauf, es zu sehen und gleichzeitig machte ich mir etwas Sorgen. Ich war noch nie geflogen und wusste nicht, was mich erwarten würde.
Der Sonnenfalter war nicht so wie die anderen Luftschiffe, die ich mir angesehen hatte. Bisher hatte ich nur dann schauen können, wenn Händler unsere Inseln ansteuerten. Was nicht oft vorkam, da gerade die Hauptinsel mit unseren Häusern, sehr abgeschieden lag. Niemand traute sich unnötig durch den Nebel.
Was mich allerdings am meisten besorgte, war das Alter des Sonnenfalters.
Ich spürte, dass Asher zu mir aufschloss, bevor ich ihn neben mir erkennen konnte. Es kostete mich alle meine Kraft, nicht vor ihm zurückzuweichen und deshalb einen Umweg zu nehmen.




»Du kennst dich überraschend gut auf dieser Insel aus«, bemerkte er, wobei sein Blick mich förmlich durchbohrte. Ahnte er bereits, dass ich nicht einfach nur ein Werwolf war, sondern die Aura eines Alphas verbarg? Ich tat das nicht ohne Grund, denn wenn ich allgemein als Alpha anerkannt werden würde, wäre mein ruhiges Leben Geschichte. »Ich habe gehört, dass selbst erfahrene Betas Probleme in diesen Wäldern haben sollen.«
Damit hatte er recht. Besonders Wölfe von außerhalb.
Die Aethelhain-Inseln waren in viele Bereiche aufgeteilt, die mal mehr, mal weniger neblig waren. Gerade die Randgebiete, wo die Bälle während der Ballsaison stattfanden, hatten kaum mit Nebel zu kämpfen. Wir aber befanden uns hier in der Mitte der Aethelhain-Inseln. Hier war der Nebel am dichtesten und damit am gefährlichsten.
»Das ist richtig«, erwiderte ich, wobei ich nicht mehr dazu sagte. Ich war hier geboren und aufgewachsen. Natürlich kannte ich mich hier aus. Das sollte er sich auch selbst beantworten können.
Dadurch, dass wir dem Rand näherkamen, war ich auf andere Dinge konzentriert.
Der letzte Nebelschleier lichtete sich und das dichte silberne Moos unter meinen Füßen ging in sandigen, festen Boden über, weshalb ich innehielt.
Dort, am Rand der kleinen Lichtung, zwischen den knorrigen Ästen uralter Nebelbäume, wartete etwas, das auf mich wie ein Wesen aus einer anderen Welt wirkte.
Der Sonnenfalter.
Ich hatte die Geschichten gehört. Wusste, dass das Luftschiff der Familie Amqar besonders war, doch nichts hätte mich auf diesen Anblick vorbereiten können. Es war kein Märchen gewesen, dass dieses Schiff mit den Flügeln eines Insekts durch die Luft glitt. Dort, wo die Ruder sein sollten, waren wirklich Flügel. Feine, schimmernde, libellenartige Flügel.
Die Luft vibrierte leicht. Ein sanftes Summen drang an mein Ohr, als wäre das Schiff selbst ein schläfriges Wesen.
Die Segel waren dezente, halbtransparente Gebilde. Fast wie fein gewebte Blätter, die sich langsam im Wind bewegten. Sie schimmerten bernsteinfarben, obwohl der Wald kaum Sonnenlicht durchließ.
Vorsichtig, mit zittrigen Beinen, trat ich näher.
Das Schiff war aus dunklem, leicht golden durchzogenen Holz gefertigt. Keine Nägel und keine groben Übergänge waren zu sehen. Als wäre es aus einem einzigen, riesigen Stamm geschnitzt.




Die Adern im Holz erinnerten mich an die ältesten Bäume im Inneren der Nebelwälder, nur … wärmer. Lebendiger.
Das war also der Sarrash. Der Sonnenfalter der Familie Amqar. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, dass das Schiff so faszinierend war.
Asher trat neben mich. Er beobachtete schon die ganze Zeit, wie ich das Schiff musterte. Das ließ mich etwas schaudern. Ich wollte nicht, dass er mich anstarrte. Ich war nicht zu seiner Belustigung hier.
»Ist das … wirklich ein Luftschiff?«, fragte ich mit hauchender Stimme. Ich konnte das Unglauben einfach nicht verstecken. Das war doch kein Schiff, sondern ein Lebewesen.
Als ich mich zu Asher drehte, konnte ich das Funkeln in seinen Augen sehen. Er sah mich voller Stolz, aber auch ein wenig Hochmut an. »Natürlich, was dachtest du denn?«, fragte er, als würde er die Besonderheit darin gar nicht mehr sehen.
»Es wirkt eher wie ein Lebewesen«, flüsterte ich. Mein Körper wollte sich einfach nicht bewegen, dabei machte Zahira bereits einige Schritte auf die Planke zu, die uns nach oben führen würde.
Wenn dieses Schiff wirklich ein Lebewesen war …
»Du musst keine Angst haben«, versicherte Asher mit beruhigender Stimme. »Das Schiff ist noch nie abgestürzt.«
Als wäre es das, was mir Angst machte.
Ich war zwar noch nie mit einem solchen Schiff geflogen, doch ich stellte es mir sehr schön vor, durch die Wolken zu gleiten. Trotzdem zitterten meine Beine, als ich etwas näher an die Planke herantrat.
Statt direkt einen Fuß darauf zu setzen, streckte ich die Hand nach dem Holz aus und hielt kurz davor inne.
Mein Herz schlug heftig in meiner Brust und ich schloss die Augen, während ich die letzten Zentimeter überbrückte. Innerlich machte ich mich schon darauf gefasst, von Bildern überflutet zu werden, doch nichts geschah. Ich spürte nur den Widerstand des Holzes unter meinen Fingern.
Es war also doch kein lebendiges Wesen oder der Anzug schützte mich genug.
Erleichtert stieß ich die Luft aus und öffnete meine Augen wieder. Nichts würde geschehen, wenn ich auf das Schiff ging.
Erst da wurde mir bewusst, das Asher mich noch immer anstarrte und jede meiner Bewegungen genau betrachtete.
Außerdem hielt er mir eine Hand hin, als würde er mir helfen wollen, auf das Schiff zu gelangen. »Darf ich meine Hilfe anbieten?«, fragte er zuvorkommend, doch das Funkeln in seinen Augen erinnerte mich nicht gerade an einen Gentlemen. Und selbst wenn, wusste er doch sehr genau, dass er mich nicht anfassen sollte. Was also wollte er mit dieser Geste? Mich ärgern?




Mein Blick wurde finster, als ich die Hand betrachtete. Dann wandte ich mich von ihm ab und schritt langsam die Planke hinauf.
Ein sanftes Leuchten flackerte auf und ließ mich innehalten. Das feine Metallgeflecht, welches das Herz des Schiffes bildete, pulsierte in sanften Licht.
Sonnenenergie. Ich hatte davon gelesen, doch nicht daran geglaubt, dass sie existierte. Es juckte mir in den Fingern, die Runen zu berühren, und zu erforschen, wie sie genutzt worden waren. Doch das konnte ich nicht.
Mutter hatte mich noch einmal gewarnt, nicht zu tief in die Vergangenheit anderer Clans einzutauchen. Das war zu gefährlich und nicht immer den Preis wert.
Darum konzentrierte ich mich lieber weiter auf das Schiff. Vor allem auf den filigranen Pavillon, der sich über das mittlere Deck spannte. Er war gewebt aus goldenen Stoffstreifen, die trotz der Wärme kühl wirkten. Schatten, wo sonst überall Licht gewesen wäre.
Ich machte noch einen Schritt und fühlte mich zunehmend unwohler.
Erst, als ich meinen Blick zu Boden richtete, verstand ich, warum.
Meine Füße waren das weiche Moos und den erdigen Boden gewohnt. Hier war jedoch nur festes, unnachgiebiges Holz. Es fühlte sich fremd und falsch an. Es war nicht mehr mein Wald. Nicht mehr das, was ich gewohnt war.
Das erste Gefühl von Panik wallte in mir auf. War es eine gute Idee, den Wald zu verlassen? Wollte ich das wirklich?

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