Kapitel 2: Wenn die Krähen kreisen

Der Mond versteckte sich hinter ein paar zerfetzten Wolken, als wollte er etwas verbergen – die Welt dahinter, nur noch ein matter Schleier. Magnus stand vor dem Pygmalion, dem Herzstück von Kronsgarten – zumindest, wenn es nach ihm und seinem besten Freund Leonard, kurz Leo, ging.

Seit 1911 flimmerten hier Geschichten über die Leinwand. Kaum zu glauben, dass das Kino einst eine Kutschenhalle war – heute leuchtete die goldene Schnörkelschrift wie das Echo vergangener Zeiten über dem Eingang. Ausgerechnet heute war er zu früh – obwohl Pünktlichkeit nicht gerade zu seinen Stärken zählte.

Die Nacht war mild, aber eine kühle Brise ließ einzelne, verwelkte Blätter über den Gehweg tanzen. Magnus zog die Schultern hoch, vergrub die Hände in den Taschen seiner Jacke. Halloween hatte sich in Kronsgarten in den letzten Jahren vom stillen Rübengeisterfest zur kleinen Tradition gemausert.

Kinder mit bemalten Gesichtern und improvisierten Kostümen zogen an ihm vorbei. Einige trugen geschnitzte Rübengeister in den Händen, deren flackerndes Licht sie wirken ließ, als kämen sie direkt aus dem Schatten. Früher war er selbst durch diese Straßen gezogen. Damals, als alles noch leichter gewesen war.
Er zog sein Handy aus der Tasche, sah auf die Uhr: 19:01.
Leo ließ auf sich warten. Magnus blickte auf die leuchtende Kinoreklame. Wenn das kein dramatischer Auftritt wird, dachte er und lächelte. Er steckte das Handy zurück in die Tasche.

Gegenüber, im Fenster des kleinen Italieners, war jeder Tisch besetzt.
Kerzen flackerten über rot-weiß karierte Tischdecken. Ein Kellner balancierte mit eleganter Hast ein voll beladenes Tablett durch den Raum – Gläser, dampfende Teller, Stimmen, Lachen.
Dann – ein Krächzen.

Magnus zuckte zusammen und blickte zur Kreuzung. Eine Krähe tappte über den Gehweg, als gehöre er ihr. Für einen Augenblick trafen sich ihre Blicke. Diese reglosen, schwarzen Knopfaugen. Still. Wach.

Magnus schluckte. Dann kamen Menschen. Laut und lachend – und die Krähe flog davon.
Lautlos. Fast zu elegant.

Die Gruppe passierte Magnus und verschwand durch die gläsernen Türen des Kinos.
Magnus holte sein Handy hervor: 19:05.

Wo bleibt er nur?

Plötzlich hörte er schnelle Schritte hinter sich. Er drehte sich um – da war Leo, noch leicht außer Atem. Langsam klappte Magnus das Handy zu und zog eine Augenbraue hoch. „Du bist spät dran“, sagte er trocken. „Hab schon überlegt, ob ich dich suchen soll oder gleich eine Vermisstenanzeige aufgeben muss.“




Leo lächelte, schob sich die Brille hoch und nickte entschuldigend. „Sorry, dass ich zu spät bin.“ Sein blondes, leicht zerzaustes Haar wirkte heute noch wilder als sonst. „Ich musste noch Nemo rauslassen. Der kleine war heute total aufgedreht.“ Für Magnus war der Yorkshire Terrier eher ein Plüschtier als ein richtiger Hund.

Leo wechselte schnell das Thema und grinste breit. „Aber jetzt zum Wichtigsten.“ Seine himmelblauen Augen funkelten. „Alles Gute zum Geburtstag!“

Dann zog er Magnus überraschend in eine feste Umarmung, sodass Magnus kaum Zeit zum Reagieren hatte. Kaum ließ Leo ihn los, streckte er ihm ein kleines Päckchen entgegen, liebevoll in silberfarbenes Geschenkpapier eingewickelt. Magnus starrte es an, ein zaghaftes Lächeln stahl sich auf seine Lippen – doch dann zögerte er, schüttelte langsam den Kopf.

„Das wäre doch nicht nötig gewesen“, murmelte Magnus, während sich ein Knoten in seiner Brust zusammenzog. Leo lachte leise, als wolle er das Schweigen einfach übertönen. „Ich komme doch nicht ohne Geschenk zum Geburtstag meines besten Freundes!“ Er schob seine Brille erneut zurecht und sah ihn fest an. Magnus hätte abwinken können. Doch als sein Blick das vertraute, warme Lächeln traf, das Leo immer für ihn bereithielt, konnte er einfach nicht nein sagen.

Magnus schob das Geschenk in die Jackentasche, während Leo auf seine Armbanduhr blickte. „Komm, sonst verpassen wir den Film!“

Noch wollte Magnus etwas sagen, doch Leo hatte schon nach seinem Arm gegriffen und zog ihn mit sich zum Eingang.

Das Pygmalion empfing sie mit seinem eigentümlichen Charme vergangener Zeiten: Die Decke funkelte in tiefem Blau wie ein künstlicher Sternenhimmel, die Wände waren gesäumt von sorgfältig gerahmten Filmplakaten, und der rote Teppich schluckte gedämpft die Schritte der Besucher.

Vor der Kasse hatte sich eine lange Schlange gebildet. Seit zwei Jahren veranstaltete das Pygmalion an Halloween eine besondere Filmnacht: ein Überraschungsfilm, meist ein vergessener Horrorklassiker aus der Mottenkiste. Offenbar waren Magnus und Leo nicht die Einzigen, die sich das nicht entgehen lassen wollten. Die beiden Jugendlichen reihten sich ein. Die Luft war erfüllt vom süßen Duft frischen Popcorns und einer Spur Aufregung.




Als sie endlich an der Reihe waren, kauften sie zwei Tickets, einen riesigen Eimer karamellisiertes Popcorn und zwei Colas. Noch bevor Magnus seinen Geldbeutel aus der Jeanstasche ziehen konnte, hatte Leo schon bezahlt. Die Geldscheine landeten rasch und entschlossen auf dem Tresen.

Ein Anflug von Protest hob sich in Magnus‘ Brust, doch bevor er etwas sagen konnte, sah er Leos Zwinkern.

„Sieh es als Teil deines Geburtstagsgeschenks an“, sagte Leo mit einem Lächeln, das keine Widerrede duldete. „Dafür kannst du später im Stubenhocker was ausgeben“, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu. Sein großzügiges Angebot ließ Magnus schmunzeln, und er nickte schließlich. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Kinosaal.

Während sie durch das gedämpfte Licht des Foyers schlenderten, griff Magnus immer wieder in den Popcorneimer und warf sich Stücke in den Mund. Er bemerkte Leos Seitenblick, und im nächsten Moment klopfte ihm dieser leicht auf die Hand.

„Du isst noch alles leer, bevor der Film überhaupt anfängt.“

„Ich hab Hunger… hab extra heut Mittag nichts gegessen“, verteidigte sich Magnus mit vollem Mund und griff erneut nach einer Handvoll süßen Popcorns, das er sich genüsslich in den Mund stopfte. Leo verdrehte nur die Augen.

Sie betraten den Kinosaal. Die Sitzreihen fielen leicht ab, sodass jeder Platz einen guten Blick auf die Leinwand bot. Noch war das Licht nur gedimmt, nicht ganz aus – gerade hell genug, um den Zuschauern beim Einfinden Orientierung zu geben.
Stimmengewirr erfüllte den Raum, begleitet vom Rascheln von Jacken, dem Knistern von Popcorntüten und dem leisen Schlürfen durch Strohhalme – eine geschäftige, erwartungsvolle Atmosphäre, wie sie nur kurz vor Filmbeginn herrscht.

Auf dem Weg zu ihren Plätzen stolperte Magnus beinahe über eine Stufe, und Leo fing ihn geschickt auf. „Ich kann vermutlich gleich nochmal Popcorn holen gehen“, murmelte er mit einem Seitenblick.

„Tut mir leid“, erwiderte Magnus leise und folgte ihm.

Ihre Sitze lagen ziemlich weit oben – mittig in der zweiten Reihe von hinten. Von hier aus hatten sie einen perfekten Überblick über den Saal. Als sie sich setzten, ließ Leo sich tief in den Kinosessel fallen und streckte entspannt die Beine aus.




Allmählich senkte sich das Licht weiter, und die Gespräche der Besucher verstummten. Auf der Leinwand flimmerte die erste Werbung. Eine Eisreklame erschien – ein verführerisch glitzerndes Bild von Schokoladeneis, das in Zeitlupe über die Leinwand zog. „Eis im Kino – Der perfekte Genuss“, prahlte der Slogan, als sei es das Highlight des Abends.

Magnus warf einen kurzen Blick zu Leo. Für einen Moment beobachtete er das vertraute Profil seines besten Freundes – die entspannte Haltung, die Spiegelung der Leinwand auf seiner Brille, während er an seiner Cola schlürfte.

Ein Kloß stieg ihm in die Kehle. Die letzten Monate waren alles andere als leicht gewesen, und er hatte es Leo auch nicht leicht gemacht.

Seit dem Unfalltod seiner Eltern kurz vor den Sommerferien war nichts mehr, wie es einmal war. Von einer Sekunde auf die andere war Magnus Vollwaise geworden.
Und trotzdem war Leonard geblieben. Hatte ihn nicht gedrängt, nicht bemitleidet. War einfach da gewesen. Still, verlässlich – wie ein Fels in der Brandung.

„Ist was?“, fragte Leo, als er Magnus‘ Blick bemerkte.

Magnus schüttelte den Kopf. „Alles gut“, sagte er leise und zwang sich zu einem Lächeln.

Dann, endlich, wurde es still im Saal. Die letzten Lichter in den Ecken verloschen, und der Raum versank in Dunkelheit.

Ein schriller Möwenschrei zerriss die Stille. Auf der Leinwand zog die Kamera langsam zurück – ein wolkenverhangener Himmel, graue Küste, dunkles Wasser.

Es war der Beginn von Die Vögel, Alfred Hitchcocks Klassiker von 1963. Lautlos senkte sich ein Schwarm Möwen in bedrohlich ruhigen Bögen über eine kleine Stadt – wie ein bedrohlicher Schatten.

***

„Es mag zwar kein Kuchen mit siebzehn Kerzen sein, aber besser das als gar nichts“, sagte Maja und stellte ihrem jüngeren Bruder ein Stück Käsekuchen mit einer einzelnen brennenden Kerze vor die Nase. Sie arbeitete als Kellnerin im Stubenhocker, einem kleinen Restaurant mit Loft-Atmosphäre. Backsteinwände sorgten für urbanes Flair, daran hingen Postkarten und schwarz-weiße Fotografien. Warm leuchtende Lichterketten zogen sich durch den Raum und verliehen ihm eine heimelige Gemütlichkeit. Der Käsekuchen war der beste weit und breit – und jeder, der hierherkam, wusste das.




Seit dem Tod ihrer Eltern war Maja mehr Mutter als Schwester für Magnus. Onkel Matt, der jüngere Bruder ihres Vaters, hatte zwar die Vormundschaft übernommen, doch als Journalist war er oft unterwegs. Also war es Maja, die sich kümmerte. Die Ordnung schuf. Die sie zusammenhielt.

„Wünsch dir was, bevor du auspustest“, sagte sie mit einem Lächeln. Magnus hielt inne. Starrte auf die kleine Flamme, die unruhig flackerte.

Was sollte er sich wünschen?
Dass das alles nur ein schlechter Traum war, aus dem er gleich aufwachen würde?
Dass ihre Eltern noch lebten?

Oder dass das Mädchen seiner Träume nicht mit seinem Rivalen zusammen wäre?

Die Kerze brannte weiter, als könnte sie seine Unentschlossenheit spüren.
Er schluckte. Wünsche änderten nichts. Sie waren bloß Gedanken, die im Dunkeln verhallten.

Also atmete er leise aus – nicht zu tief, nicht zu hastig – und pustete die Flamme aus. Für einen Moment war es still, dann klatschten Maja und Leo beiläufig. Das warme Licht über ihnen flackerte, während Magnus ein erzwungenes Lächeln aufsetzte.

„Danke“, murmelte er, auch wenn seine Stimme nicht so fest klang, wie er es sich gewünscht hätte. Maja drückte ihn kurz an sich. „Für meinen kleinen Bruder immer gern.“

Ihr dunkelbraunes Haar streifte seine Schulter, und für einen Moment fiel ihm auf, wie sehr sie sich ähnelten – dieselben eisblauen Augen, das Erbe ihrer Mutter.
Manchmal war das tröstlich.
Manchmal tat es weh.

Plötzlich tauchte hinter Maja eine schwarzhaarige Frau auf – üppige Locken, volle Lippen und ein enges T-Shirt, das ihre Kurven betonte. Clarissa Jonas, Majas beste Freundin, die ihr den Job hier im Stubenhockerverschafft hatte. Sie hatte diese selbstbewusste Ausstrahlung, die ihr immer ein leicht spöttisches Lächeln verlieh.

„Maja, Tisch sieben will zahlen.“ Sie deutete mit dem Kinn zum Nachbartisch, bevor ihr Blick auf den Käsekuchen mit der Kerze fiel. Ihre dunklen Augen blitzten. „Feiert ihr hier irgendeinen Jahrestag oder so?“

Während sie sprach, musterte sie Leo und Magnus – ihr Blick wanderte langsam von einem zum anderen. Dann, als hätte sich eine Erkenntnis in ihrem Kopf festgesetzt, strahlte sie plötzlich.

„Oh mein Gott, ich wusste es! Ihr seid süß zusammen!“




Magnus spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. „Was … nein! Wir sind nicht zusammen! Wir sind nur Freunde!“ Er wedelte hilflos mit den Händen, doch Clarissas Grinsen wurde nur breiter.

„Ach komm schon, ihr seht total danach aus.“ Sie zwinkerte Leo zu, der sichtlich nach einer Fluchtmöglichkeit suchte und sich tiefer in den Sitz drückte. Maja lachte und schüttelte den Kopf. „Magnus hat heute Geburtstag.“

Sie zwickte ihm schelmisch in die Wange – was die Situation nicht unbedingt besser machte. Clarissas Augen weiteten sich. „Oh! Warum sagt denn keiner was? Happy Birthday, Süßer!“

Bevor Magnus reagieren konnte, zog sie ihn in eine feste Umarmung – oder besser gesagt: Sie drückte ihn so fest an sich, dass sein Gesicht direkt in ihrem Busen landete. Er japste nach Luft, aber Clarissa hielt ihn noch einen Moment länger fest, während sie übertrieben freudig lachte.

„Ersticke … gleich …“, keuchte er, während Maja und Leo sich kaum das Lachen verkneifen konnten. Erst als er wild mit den Armen fuchtelte, ließ Clarissa ihn los und grinste herausfordernd.

„Na gut, Geburtstagskind, du darfst heute ausnahmsweise überleben.“

Magnus zupfte sein Shirt zurecht, während Leo sich räusperte und einen Schluck Cola nahm – offenbar bemüht, seine Peinlichkeit zu überspielen.

Maja schüttelte den Kopf. „Manchmal bist du echt unberechenbar, Clarissa.“

„Ach, ich bring nur ein bisschen Schwung in den Laden“, erwiderte Clarissa und zwinkerte Magnus zu, bevor sie auf einen Ruf vom nächsten Tisch reagierte. Beim Gehen drehte sie sich noch einmal um.

„Überleg’s dir, Magnus. Du und Leo – ihr würdet echt ein süßes Paar abgeben. So richtig aww-mäßig.“

Mit einem übertriebenen Grinsen verschwand sie Richtung Theke. Kaum war sie außer Hörweite, lehnte sich Leo zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Magnus mit hochgezogenen Augenbrauen an.

„Nur Freunde? Dein Ernst?“

Magnus seufzte, fuhr sich durch die Haare. „Sorry … ich war etwas überrumpelt. Natürlich. Beste Freunde.“

„Das hoffe ich doch sehr.“ Leo lächelte leicht skeptisch.

„Das ist die Wahrheit“, versicherte Magnus aufrichtig und schenkte ihm ein dankbares Lächeln. Sie kannten sich seit der ersten Klasse und hatten seither so ziemlich alles zusammen durchgestanden. Leo nickte zufrieden und grinste dann selbstgefällig. „Dazu ist der beste Freund auf der ganzen Welt schließlich da.“




Magnus schnaubte amüsiert. „Werde jetzt nicht überheblich.“

„Willst du noch dein Geschenk auspacken?“, fragte Leo mit einem erwartungsvollen Lächeln.

Das Geschenk – Magnus hatte es völlig vergessen.

„Aber klar doch.“ Er griff in seine Jackentasche und zog ein kleines, silbern verpacktes Päckchen heraus. Behutsam löste er das Papier und enthüllte eine schlichte, elegante schwarze Box. Während Magnus den Deckel öffnete, beobachtete Leo ihn aufmerksam.

In der Mitte lag eine silberne Kette mit einem runden Anhänger – ein fein gravierter Kompass.

Magnus‘ Finger glitten über die Gravur, als Leo leise erklärte: „Ich weiß, dass die letzten Monate hart für dich waren … dass du dich oft verloren gefühlt hast. Die Kette soll dich daran erinnern, dass du immer einen Weg finden wirst – egal, was passiert.“

Ein Kloß bildete sich in Magnus‘ Kehle. Er schluckte und sah Leo an, der plötzlich leicht errötete. „Ich hoffe, sie gefällt dir. Ich wollte dir etwas Besonderes schenken.“

Magnus suchte nach den richtigen Worten. „Ehrlich gesagt … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ein einfaches Danke fühlt sich irgendwie zu wenig an.“

Er versuchte, die Kette anzulegen, aber die kleinen Verschlüsse machten es ihm schwer. Bevor er sich weiter abmühen konnte, stand Leo auf und half ihm. Seine Finger streiften kurz Magnus‘ Nacken, als er den Verschluss schloss. Die Kette lag kühl auf seiner Haut, doch in ihm breitete sich etwas Warmes aus.

„Eine Umarmung reicht auch aus“, meinte Leo leise. Magnus stand auf – und ohne groß nachzudenken, zog er Leo in eine feste Umarmung.

***

Kurz vor Mitternacht verließen Magnus und Leo das Stubenhocker. Beim Hinausgehen zwinkerte Clarissa Magnus noch zu und formte stumm mit den Lippen:

„Überleg’s dir mit Leo.“

Magnus verdrehte nur die Augen. Leo bekam davon nichts mit.

Draußen empfing sie die kühle Nachtluft. Sie legte sich wie feiner Nebel auf die Haut – kalt, fast elektrisch.

Die Straße war beinahe leer. Nur vereinzelt zogen Menschen an ihnen vorbei, die Schultern hochgezogen, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Magnus tat es ihnen gleich. Neben ihm ging Leo schweigend.

Sie passierten eine Straßenlaterne. An ihrem Pfahl klebte eine Vermisstenanzeige. Das Papier war vom Regen gewellt, die Ecken mit transparentem Klebeband festgeklebt.




Ein blasses Foto zeigte einen Jungen mit feinen Gesichtszügen und blondem Haar. Till Brübach, 13 Jahre – vermisst seit dem 23. Oktober.

Magnus blieb kurz stehen. Ein flaues Gefühl breitete sich in seinem Magen aus.
„Einfach nur unheimlich, oder?“, murmelte Leo.
Magnus nickte langsam. Die ganze Aufregung um den Vermissten war irgendwie an ihm vorbeigegangen. Er hatte in letzter Zeit genug mit sich selbst zu kämpfen.

Plötzlich durchbrach Glockenläuten die Stille.
Mitternacht.

Die Schläge der St.-Barbara-Kirche hallten schwer durch die nächtliche Stadt.

Dann ein neues Geräusch: ein scharfes Krächzen, metallisch, rau – als würde jemand mit rostigen Nägeln über Blech ziehen.
Magnus und Leo blickten nach oben.
Über den Dächern zogen dunkle Schatten. Ein Schwarm Krähen flatterte aufgeregt durch die Nacht, kreisend, aufgeschreckt.
Ihr Gekrächze war schrill, beinahe panisch – und es kam aus allen Richtungen zugleich.

„Das ist ja … schräg“, sagte Leo. In seiner Stimme lag ein Hauch Unsicherheit.
Magnus grinste. „Hat dich der Film vorhin etwa doch ein bisschen gegruselt?“
„Quatsch … ich … ich hab keine Angst vor Vögeln“, entgegnete Leo – aber seine Stimme klang nicht ganz überzeugt.
Magnus zog eine Augenbraue hoch.

Leo starrte noch immer zum Himmel, wo sich die schwarzen Silhouetten langsam auflösten.

„Es wirkt … wie ein schlechtes Omen“, murmelte er.

„Du hast einfach zu viele Gruselfilme gesehen“, neckte ihn Magnus. Doch sein Blick glitt zurück zur Vermisstenanzeige.

Er ahnte nicht, dass das Unheil längst unter ihnen lauerte.

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