Prolog

Riley Carter erwachte mit einem leisen Rumpeln, das durch die dünnen Wände ihres Campus-Zimmers drang. Der graue Morgen dämmerte hinter den Vorhängen, während das vertraute Summen von Klimaanlage und entfernten Gesprächen durch das offene Fenster sickerte. Noch bevor sie die Augen vollständig öffnete, spürte sie die Leichtigkeit im Raum – eine unruhige, ungeduldige Energie, die sie von ihrem Bett aus wahrnahm. Langsam schlug sie die Lider auf und sah Izzy, ihre beste Freundin seit Kindertagen, in der Ecke ihres Zimmers umherwirbeln. Izzy, stets ein unerschöpflicher Quell von Tatendrang, stand in aller Frühe bereits bereit für ein neues Abenteuer. Das schulterlange, kupferrote Haar wirbelte bei jeder ihrer Bewegungen umher; sie trug eine lässige Jeans und ein altes, ausgedient scheinendes T-Shirt, auf dem ein längst verblasstes Bandlogo prangte.

„Riley, aufwachen!“, rief Izzy, als wäre es höchste Dringlichkeit, die Sonne aus dem Himmel zu holen. „Wir haben heute unser erstes offizielles Treffen. Der Club… der Club erwartet uns!“

 

Riley blinzelte einmal, zweimal. Der Geruch von frischem Kaffee stieg ihr in die Nase, vermischt mit dem Hauch von Izzy’s Zitronenduschgel. Für einen Moment fiel ihr die Gleichförmigkeit ihres Lebens ein: vorlesungsreiche Tage in den labyrinthartigen Hörsälen der UCLA, endlose Bibliotheksbesuche über menschlichen Anatomie-Skizzen und nächtelange Lernsessions an Op-Tischen aus Plastikmodell-Knochen. Sie, die stets am Rationalen festgehalten hatte, die fest daran glaubte, dass alles, was existierte, seinen Platz in einem Lehrbuch fand. Doch Izzy, mit ihrer strahlenden Unbekümmertheit, hatte sie am Vorabend überredet: „Komm schon, Riley! Nur ein harmloser Spaß. Ein paar Leute, die genauso neugierig sind wie wir. Geistergeschichten erzählen. Ausrüstungen ausprobieren. Wer weiß, vielleicht ist es nur ein Mythos – aber zumindest haben wir was zu erzählen!“

Riley hatte schließlich zugestimmt. Einmal abschalten, einmal etwas jenseits von Anatomie und Biochemie erleben. Ein kleiner Ausflug ins Übersinnliche – nichts, was den strengen Konturen ihres Weltbildes ernsthaft schaden konnte. Als Riley sich nun auf ihre Unterarme stützte und die Decke zurückschlug, wirkte Izzy so entschlossen, dass jede Gegenwehr zwecklos schien. Mit einem resignierten Lächeln setzte Riley ihre Füße auf den kühlen Holzboden. Das Bett knarrte leise, als sie sich nach ihrer Schlafkleidung bückte, während Izzy bereits hektisch in einer kleinen Reisetasche kramte.



 

„Okay“, murmelte Riley, „du bekommst deine Dramatik. Aber nur, weil ich dich kenne.“ Izzy strahlte über das ganze Gesicht. „Das wird großartig! Wir treffen die anderen in der Studierendenbar um acht – keine Verspätungen!“ Die Morgensonne schien inzwischen vollständig über den Horizont geklettert zu sein. Riley trat ans Fensterbrett und blickte hinab auf den von Eukalyptusbäumen gesäumten Campus. Der Schein von tautropfendem Gras, die wehenden Banner der UCLA mit ihrem blauen Schriftzug, Studenten, die eilig vorübergingen – alles wirkte wie in einen verträumten Schleier gehüllt. Hier und da huschte ein Fahrradfahrer vorbei, der laut klingelte, um Fußgänger zum Ausweichen zu bewegen. Riley erinnerte sich daran, wie sie vor zwei Jahren aus Wichita, Kansas, hierhergekommen war, mit einem Koffer voller Hoffnungen und einem Kopf voller Bücher. Die pralle Sonne Kaliforniens hatte sie empfangen, während im Herzen noch die endlosen Kornfelder der Heimat schlummerten. Die ersten Wochen waren geprägt von Kopfschmerzen und Heimweh gewesen, von der ständigen Suche nach einem festen Freundeskreis. Dann begegnete sie Izzy in der Mensa, beide mit demselben vergnüglichen Missgeschick, als beide gleichzeitig versuchten, einen letzten belegten Bagel zu ergattern.

 

Heute jedoch wollte Riley einmal nicht über die perfekte Technik bei der Intubation oder die neuesten Forschungsergebnisse zur Neuroplastizität nachdenken. Ein wenig Nervenkitzel, ein wenig abseits wissenschaftlicher Vorhersehbarkeit – das war alles, um was es ging. Ein harmloser Club: Menschen versammelten sich, lauschten Geschichten, überprüften alte Spuklegenden und vielleicht – ganz vielleicht – hörten sie das Rascheln in der Dunkelheit, das keine logische Erklärung hatte. Im Zimmer breitete sich geschäftiges Treiben aus. Riley legte ihre Sportschuhe neben der Tür ab und band sich den langen Zopf zu einem lockeren Dutt. Vor ihr auf dem Schreibtisch lag ein professionelles Diktiergerät, das Izzy ihr ausgeliehen hatte, sowie ein Satz Taschenlampen – leistungsstarke LED-Modelle, die in völliger Dunkelheit noch Klarheit versprachen. Daneben stapelten sich Notizhefte und Kulis; ordentlich beschriftet mit Themen wie „Berichte“, „Erfahrungen“ und „Theorien“. „Du bist wirklich vorbereitet“, stellte Riley fest, während sie eine Lampe testete und ein helles, kreisrundes Licht über die weiße Wand warf.



 

Izzy lehnte sich gegen die Tür und verschränkte die Arme. „Wir sind nicht hier, um rein aufzutreten und zu erwarten, dass wir nur Geister sehen. Forschung, Riley! Das ist Bürgerwissenschaft!“ „Bürgerwissenschaft“, wiederholte Riley mit einem feinen Lächeln. „Ja, und wir beweisen heute, dass Bürgerwissenschaft auch ohne Beweise auskommt.“ Izzy kicherte und warf ihr den Rucksack zu. „Komm schon, du alte Skeptikerin. Etwas Magie in deinem Leben kann nicht schaden.“ Riley griff nach dem Rucksack und warf einen Blick auf das Adressetikett: „Spukhaus 308 – Abendtour“. Eine Gruppe von anderen Studenten hatte sich zusammengefunden, eine bunte Mischung aus Theatermajoren, Geschichtsstudenten, Physikern und ein paar Fotografen mit sperrigen Kameras um den Hals. Sie alle waren dabei, weil sie mehr wissen wollten, als reine Logik zu bieten hatte. Mit einem letzten Blick in den Spiegel nahm Riley ihre Jacke ab – ein dunkelgrauer Hoodie, schlicht und ohne Aufdruck. Nichts, was Aufmerksamkeit erregen würde. Es durfte ja nur harmlos sein. Gemeinsam verließen sie das Zimmer. Der Flur war still, bis auf das entfernte Trappeln von Schritten. In den meisten Räumen herrschte noch Ruhe; nur Izzy lief weiter mit schnellen Schritten voraus und warf gelegentlich einen Blick zurück, als wollte sie sicherstellen, dass Riley sie nicht verließ.

 

Unten angekommen, schwankte der Campus zwischen schläfriger Morgenstille und dem ersten Dröhnen eines neuen Tages. Riley und Izzy schlossen sich den anderen an, die bereits neben einem alten Backsteingebäude warteten. Die Fassade war von der Zeit gezeichnet, kleine Risse im Mauerwerk, überwucherte Efeuranken an den Fenstern. Drinnen lag das ominöse Zimmer 308, das laut Legende schon seit Jahrzehnten Schülerinnen und Studenten in seinen Bann zog – ohne sie je wirklich wieder freizugeben. Doch bis zu dieser Stunde des wahren Bewährungsprobes lagen noch Stunden voller erwartungsfroher Unschuld. Die Gruppe lachte, tauschte Anekdoten aus und teilte Kaffee aus Pappbechern. Riley fühlte, wie die Anspannung wuchs – nicht die Angst vor dem Unerklärlichen, eher das prickelnde Gefühl, als stünde sie kurz davor, etwas zu entdecken, das sämtliche Lehrbücher in Frage stellte.



 

Als der Morgen in den Mittag überging, war das Gespräch längst auf Theorie und Strategie umgeschwenkt: Welche Fragen würden sie stellen, wenn…? Wie reagiert man auf plötzliche Temperaturstürze? Wäre es sinnvoll, Infrarotkameras zu nutzen, oder könnte das elektronische Störfelder hervorrufen? Izzy notierte eifrig jeden Vorschlag, während Riley abwägte, wie viel sie selbst bereit war, zu glauben. Das Lächeln auf Rileys Gesicht war ruhig, beinahe verträumt. Denn im Kern war sie immer noch die junge Studentin aus Wichita: neugierig, vorsichtig, doch mutig genug, etwas Ungreifbares zu erforschen. Ganz gleich, ob am Ende die Schatten nur in den Köpfen der Anwesenden existierten – oder tatsächlich an der Schwelle warteten, um sich zu offenbaren. Und so begann der Tag, der Riley Carter auf die Probe stellen würde: als rational denkendes Wesen zwischen Vorlesungssaal und Spukhaus, in einem Leben, das sich in diesem Augenblick noch harmlos anfühlte – bevor sich die Schatten regten und die dünne Grenze zwischen Mythos und Wirklichkeit zu bröckeln begann.

 

Kommentare

  1. Ein wirklich sehr gelungener Prolog, der eindeutig Lust auf mehr macht.
    Izzy und Riley sind mir sehr sympathisch. Izzy sogar ein Stück mehr. Man spürt ihre Energie förmlich.
    Und der letzte Satz ist dir wirklich sehr gelungen.