Kapitel 5 – Auf sich allein gestellt

Die Treppen knarren fürchterlich unter Jubins Gewicht. Während Maxim sich in seinem Zimmer einrichtet, begibt sich sein bester Freund hinunter, um aus der Küche eine kleine Erfrischung zu organisieren. Auf der halben Treppe verharrt Jubin, als er seinen verzweifelten Vater hört.

„…Hören Sie, ich verstehe Ihre Lage. Aber meine Kinder brauchen mich und es ist ja nur heute. Es ist ja…“

Es folgt eine Pause, bevor er laut aufseufzt.

„…aber…“

Wieder bricht er ab. Jubin begibt sich langsam hinunter. Durch den Türrahmen entdeckt er seinen Vater im kleinen Wohnzimmer. Der arme Mann sitzt mit hängenden Schultern und einer gekrümmten Haltung auf dem alten Sofa. Ein hässliches Ding in einem abgenutzten Orange, das an Farbintensität und Glanz verloren hat. Ein Blick durch die Wohnung zeigt einen kunterbunten Einrichtungstil. Alles gebraucht und gut abgenutzt. Aber es reicht zum Leben.

 

Jubins Vater reibt sich die Nasenwurzel, als wäre er von starken Kopfschmerzen geplagt. Den alten Herrn so zu sehen macht Jubin immer aufs Neue fertig. Sich ein dickeres Fell anzulegen würde ihrem Vater gut tun, aber er ist einfach zu lieb. Sein Wunsch nach Harmonie lässt ihn oft einknicken und leider sind das die Menschen, die am meisten ausgenutzt werden. An der Last auf den Schultern wird der alte Herr wohl oder übel zusammenbrechen, dabei agieren Lyra und Jubin ständig als Stützpfeiler. Sie entlasten ihren Vater, wo sie können und muntern ihn bei jeder Gelegenheit auf. Aber die überschlagenden Ereignisse hinterlassen auch bei Jubin Spuren. Herz und Seele ertragen die Ungerechtigkeit ihrem Vater gegenüber nicht mehr. Das Schicksal ist so kalt und grausam, dass der Junge nicht anders kann, als in die Küche zu huschen. Er braucht dringend Ablenkung, bevor er die nächste Dummheit startet und den Betrieb seines Vaters aufsucht, um dort auf den Tisch zu hauen. Aber es sind die Existenzsorgen, die den Familienvater plagen und warum er alles erduldet. Es wird dringend Zeit, dass Jubin die Schule hinter sich bringt und ebenfalls Geld in den Haushalt stopft.

 

Schnell sind zwei Becher und eine Flasche Apfelschorle organisiert.

„Nein.“ Sein Vater klingt nah und verzweifelt. „Nein, soweit muss es gar nicht kommen. Ich mache mich gleich auf dem Weg.“



Sein Arbeitgeber kennt die Ängste und nutzt diese köstlich aus. Ersetzbar zu sein ist wahrlich ein Fluch. All die Überstunden und der Fleiß wird einem in der Imbisskette so oder so nicht gedankt. Die Finanzabteilung sieht nur die Zahlen bei den Einnahmen und ignoriert sämtliche Opfer.

 

Im Wohnzimmer angekommen, lehnt sich Jubin gegen den Türrahmen. Das Telefonat scheint beendet und liegt das Handy in den Händen des Vaters, als sei es tonnenschwer und kaum zu heben.

„Hey, Dad.“

Sein Vater zuckt zusammen, denn er hat ihn anscheinend nicht kommen gehört. Mit geweiteten Augen blickt er auf, verarbeitet den Schock und zwingt sich zu einem Lächeln.

„Hey, Großer.“

Jubin hasst es, wenn er so genannt wird. Er ist schließlich kein Kind mehr und hat einen Namen.

„Du musst zurück zur Arbeit?“

Der Blick des Vaters wird trübe. Nervös schlägt er die Augen zu Boden.

„Ja. Personalmangel. Das Küchenteam ist unterbesetzt.“

Jubin hält dies für eine Ausrede, dennoch möchte er sich nicht mit seinem Vater streiten. Der arme Kerl leidet schon genug unter den Launen des Chefs.

„Wir kommen klar.“

„Sicher?“

„Ja, geh schon.“

„Wenn etwas ist, dann ruft mich an. Dann komme ich sofort nach Hause.“

Eine Lüge. Sein Handy hört er auf der Arbeit nicht. So war das schon immer. Sobald ihr Vater das Haus verlässt, sind die Geschwister auf sich allein gestellt. Der alte Mann erhebt sich wie ein Häufchen Elend und schleift sich zur Tür. Den Anblick erträgt Jubin nur schweren Herzens.  Also begibt sich der Sohn hinauf.

 

Abrupt stoppt Jubin, als sich der sonnengelbe Vorhang auf der Zwischenebene der Treppe beult. Schuld daran ist kein offenes Fenster, sondern ein Arm bestehend aus einem Material, das Teer gleicht. Statt einer Hand ist eine Klaue vorzufinden. Eine gertenschlanke Gestalt versteckt sich hinter dem dünnen Stoff. Joleens dunkle Locken blicken hervor, der Stoff vor dem Gesicht bläht sich durch den Atem auf. Zwei grüne Augen wie schmutzige Smaragde starren ihn an. Der Gestank nach verwesendem Fleisch lässt Jubins Magen Karussell fahren.

 

Fast wäre ihm die Flasche aus der Hand geglitten, doch dank seiner Reflexe verhindert er dies. Als Jubin mit klopfendem Herzen aufblickt, ist die Gestalt hinter der Gardine verschwunden. Nur ein Bündel herausgefallener Haare versichert ihm, dass es sich hier um keinen Traum gehandelt hat. Jubin nähert sich den schwarzen Locken. Er geht in die Hocke und betrachtet das Beweisstück interessiert wie ein Detektiv. Angewidert rümpft er die Nase, denn die Haarwurzel samt Fleischfetzen hängen am Haaransatz.



 

In seinem Kopf rattern die Zahnräder. Nur zu gern würde er das Zeug mit einer Pinzette aufheben und in einer Tüte verwahren. Denn wer weiß, vielleicht könnte das hier nützlich werden. Jubin muss an die vielen Videospiele in seinem Regal denken: Survivals und Apokalypsen.

Ob Joleen ein Zombie ist?

Aber für einen Zombie verhält sie sich zu schlau, wenn er den Fakten in den Horrorstreifen und den Spielen Glauben schenken kann. Auch ihr plötzliches Verschwinden passt nicht ins Schema. Außerdem widert der Gedanke Jubin an, dass Joleen überall ihre DNA unbewusst zurücklässt. Wie das Fleisch von ihren Knochen rutscht und ihre Haare massive Lücken aufweisen. Angewidert wischt sich Jubin sämtliche Gedanken über dem Verwesungsprozess aus dem Kopf.

 

Gedankenverloren begibt sich Jubin zu seinem Zimmer. Er wollte gerade eintreten, als er die leise Musik aus Lyras Zimmer hört. Ziemlich ungewöhnlich. Seine Schwester hört ihre Musik immer über Kopfhörer. Wenn die Klänge und Liedertexte ihr Zimmer verlassen, dann quält sie etwas.

 

Jubin ignoriert die Tatsache, dass sie Kuschelrock hört und stellt die Flasche und die Becher auf die kleine Kommode vor dem Spiegel. Schließlich klopft er an ihr Zimmer, um kurz darauf einzutreten. Die Musik wird lauter, der Duft von Vanille dringt in seine Nase. Ein Blick auf die Duftkerzen auf der Kommode lässt ihn misstrauisch werden. Als sein Blick jedoch zu Lyras Bett schnellt, errötet Jubin. Seine Schwester tauscht mit Maxim wilde Küsse aus, die beiden kleben aufeinander und gehen richtig zur Sache. Zwischen ihren leidenschaftlichen Moment bekommen die beiden gar nicht mit, dass Jubin eingetreten ist und so soll es auch bleiben.

 

Eilig tritt Jubin aus dem Zimmer. Ganz leise schließt er die Tür und wird das Bild nicht los, wie sich zwei Kamele gegenseitig abschlecken. Denn so hat es auf Lyras Bruder gewirkt. Es war widerlich. Aber angenehmer als jeglicher Gedanke an Joleen. Jubin vergisst die Flasche und die Becher und tritt in sein chaotisches Reich ein, um sich dort aufs Bett zu werfen. Das weiche Kissen legt er wie einen Helm über seinen Kopf, als hoffe er, dass alle Bilder der letzten Stunden von ihm abgeschirmt würden. Welch ein Wunschdenken.



 

Statt sich an die Konsole zu hauen, nimmt sich Jubin nun vor, im Internet nach ähnlichen paranormalen Ereignissen zu surfen. Er hofft auf aufschlussreiche Infos, doch am Anfang seiner Suche fühlt er sich nicht ernst genommen. Er wühlt sich durch einen Haufen Schwachsinn und kann nicht glauben, ob manche Menschen überhaupt ihren Kopf einschalten. Seine Recherche kostet ihn viel Geduld und Nerven. Immer wieder spukt der Gedanke in seinem Kopf, das Handy beiseitezulegen und allein mit diesem paranormalen Mist klarzukommen. Aber dann wird er endlich fündig. Die Fakten und Berichte auf der Website klingen nicht frei erfunden. Jubin wird das Gefühl nicht los, dass hinter jedem Satz eine wahre Geschichte steckt. Nach einer Weile nimmt er sich Stift und Papier zur Hand und beginnt einige hilfreiche Ratschläge niederzuschreiben.

 

Am Ende prangen die Kontaktdaten des Websitebetreibers hervor. Jubin juckt es in den Fingern. Vielleicht wird der Fremde seine Geschichte belächeln, aber vielleicht auch nicht. Also nimmt sich Lyras Bruder vor, eine E-Mail an einen Lukas L. zu schreiben. Eine Weile sitzt Jubin da und rätselt herum, wo er am besten mit seiner Erzählung beginnen soll. Nach und nach baut sich seine Nachricht auf und Jubin klickt tatsächlich auf Senden. Wenn er das mal nicht bereut.

 

Statt auf eine Antwort zu warten, schnappt sich Jubin seinen Controller. Ein Klick mit der Steuerungshilfe und das vertraute Piepsen kündigt den Start seiner Konsole an. Der Fernseher schaltet sich wenige Augenblicke später automatisch ein. Bewusst wählt Jubin ein Spiel, wo er in einer Zombieapokalypse die vom Hunger getriebenen Toten erlösen kann. Bei jedem Zombie stellt er sich vor, dass es sich um Joleen handelt. Dieser verdammte Spuk muss enden, bevor das Ganze noch stärker an seiner Psyche kratzt. Jubin möchte sein altes, sorgloses Leben zurück. Er ist diese paranormalen Begegnungen mit ihr Leid.

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