Selbsttäuschung

Ich lasse das Buch in meinem magischen Silo verschwinden und kehre zurück ins Schloss. Niemand da. Keine Präsenz. Wie ich das genieße! Ich spaziere durch die stillen Hallen, doch diese Gemälde sind grässlich. Aus purer Langeweile beschließe ich, mich heute wieder einmal in der Schule umzusehen. Ich laufe zum Portal, und der Strudel bringt mich hinüber.

Martina wartet natürlich nicht – es ist schließlich kein offizieller Schultag. Ein Flyer an der Wand verkündet: „Freizeitangebote – entdecke neue Clubs!“ Ich lächle. Vielleicht finde ich etwas, das mich ablenkt. Ich gehe zum Treffpunkt Galaxy, einem Ort, an dem man reden, Nummern austauschen, Filme schauen und Spiele spielen kann. Er ist riesig, fast grenzenlos. Jeder darf hier eigene Clubs eröffnen – doch es gibt auch den Main Club.

Ich checke dort ein, und sofort merke ich: Hier ist alles anders. Kein bohrender Blick, kein Flüstern hinter meinem Rücken. Ich bin einfach nur eine von vielen. Das gefällt mir. Ich wusste von diesem Ort, aber ich hatte mich nie getraut, herzukommen. Eigentlich bin ich selbstbewusst – doch hier fühlt sich alles fremd an. Jeder flirtende Blick bringt mich in Verlegenheit. In der Schule flirtet niemand mit mir; dort haben alle Angst oder zu viel Respekt. Hier dagegen weiß niemand, wer ich wirklich bin – oder wer der Tyrann zu Hause ist.

Ich entdecke eine Bar, die in der Luft schwebt, und gehe hinauf. Der Barkeeper begrüßt mich mit einem charmanten Lächeln.

»Hallo, meine Süße. Was darf’s heute sein?«

Ich erkenne sofort, dass er aus einer der alten Vampirfamilien stammt – ein Vampir als Barkeeper, wie seltsam.

»Deine schönen rosa Augen«, sagt er. »Wie wär’s mit einem Grapefruit Zero mit Eis?«

Ich lächle. »Warum nicht?«

Er lehnt sich auf die Theke, beobachtet mich und sagt mit gespielter Ernsthaftigkeit: »Du siehst aus, als könntest du etwas Aufmunterung gebrauchen. Stress gehabt, meine Liebe?«

Ich zögere. Hat mir Pablo wirklich so zugesetzt? 

Ich nicke.

»Ein bisschen… viel Stress.«

Er lacht leise und beginnt, meinen Drink zu mixen. »Hier sind alle gestresst. Das Leben ist hart – besonders für junge Hybriden wie uns. Aber genau deswegen gibt es diesen Ort. Damit wir das alles für eine Weile vergessen können.«



Er reicht mir das Glas. »Auf die Normalität.«

Ich stoße an und nehme einen Schluck. Der Drink prickelt, frisch, bitter – nicht ganz mein Geschmack, aber er belebt mich. Vielleicht ist das genau das, was ich brauche: eine Pause von all dem Wahnsinn.

Die Musik im Galaxy pulsiert sanft. Überall lachen Menschen, Lichter tanzen. Ich beginne, mich wohler zu fühlen. Für einen Moment bin ich nicht die verfluchte Jemea, nicht die Gefangene des Tyrannen. Ich bin einfach nur ich – ein Mädchen mit einem Drink, das das Leben spürt.

Ich schlendere durch die Bar. Der Barkeeper ruft mir nach: »Zum ersten Mal hier, oder?«

Ich nicke.

»Gute Entscheidung«, meint er. »Aber sei vorsichtig. Hier gelten andere Regeln. Kein Rang, keine Sterne – nur Stärke und Klugheit. Wenn du Hilfe brauchst, komm zu mir. Vampire sind… sagen wir, zwielichtig – aber loyal, wenn man uns vertraut.«

Ich bedanke mich und verlasse die Bar.

Im nächsten Moment stehe ich im Upsidedown-Club. Wie cool – hier tanzt man an der Decke! Nur die Haare hängen, aber kein Getränk fällt. Ich tanze allein, bis ein Song erklingt: „I’m losing it“.

Plötzlich ändert sich die Stimmung. Das Licht flackert. Etwas Dunkles zieht durch die Menge. Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Ich zwinge mich, weiterzutanzen, aber meine Sinne bleiben wachsam.

Da spüre ich einen Stoß von hinten. Ich drehe mich um – ein junger Mann mit dunklem Haar und stechend blauen Augen steht hinter mir.

»Entschuldigung«, sagt er lächelnd. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Kein Problem«, antworte ich.

»Ich bin Danny.«

»Jemea.«

Seine Hand ist warm. Ein Strom geht durch mich, als sich unsere Haut berührt.

»Zum ersten Mal hier?«, fragt er. Ich nicke.

»Willkommen im Upsidedown.«

»Danke«, sage ich. »Es ist… interessant hier.«

Er lacht. »Ja. Aber man kann sich leicht verlieren – und manchmal mehr, als einem lieb ist.«

»Das klingt ziemlich beruhigend.«

»Dann lass uns woanders tanzen«, schlägt er vor.

Er nimmt meine Hand, zieht mich mit sich. Ich schließe die Augen, lasse los. Für einen Moment vergesse ich alles.

Doch als ich wieder die Augen öffne, fällt mir ein Detail auf: In einer Lounge sitzt ein Mädchen, das mir seltsam bekannt vorkommt – in den Armen eines Jungen mit Drachenschuppen an den Händen. Mein Herz bleibt stehen.



Martina.

»Martina?«, rufe ich. Sie dreht sich um, ihr Blick leer, kalt. Dann wendet sie sich wieder ab, küsst den Drachenmann weiter, als wäre ich Luft. Ihre Kleidung ist knapp, fast herausfordernd – nichts erinnert an die brave Schülerin, die ich kenne.

Danny bemerkt meinen Blick. »Kennst du sie?«

»Ja«, sage ich leise. »Das ist meine Schulfreundin.«

Er mustert sie, dann mich. »Sie sieht nicht aus wie du. Du wirkst… zu rein für diese Welt.«

Ich lächle schwach. »bin ich nicht.«

Danny fragt mich, warum ich so gelassen bin. Ich schaue ihn an und lächele geheimnisvoll.

Er lacht. »Ach, deine Freundin hat zwei Gesichter, nicht wahr?«

Ich zucke mit den Schultern. »Warten wir es ab«

Er lacht. »Dann bleib bei mir. Vergiss sie.«

An der Bar mixt er uns zwei bunte Cocktails. Wir trinken, reden, lachen. Danny zeigt mir seine Lieblings Plätze im Galaxy:

den Dschungelclub, wo man über hohen Feuer kocht und exotische Riesen Früchte schneidet,

den Wasserclub, wo man unter Wasser singt,

den GameDome, wo man in echten Arenen kämpft,

und den Dunkelclub, wo Karten nur im Infrarotlicht sichtbar sind.

Jeder Ort ist ein neues Abenteuer. Für Stunden vergesse ich alles – den Tyrannen, die Schule, den Fluch. Ich bin einfach Jemea, die durch die Sterne tanzt.

Doch irgendwann macht sich Müdigkeit breit. Ich sage Danny, dass ich gehen muss. Er bietet an, mich zum Portal zu begleiten. Wir laufen durch die Neonflure, vorbei an tanzenden Schatten. Immer wieder wirft er verstohlene Blicke in einen dunklen Korridor, aber sagt nichts.

Da höre ich plötzlich eine Stimme.

»Jemea!«

Ich drehe mich um – Martina. Ihr Blick wirkt unsicher.

»Gehst du schon?«

»Ja, ich bin spät dran.«

»Ist Danny dein Freund?«

Ihre Frage trifft mich unerwartet. Ich erröte und bevor ich antworten kann, sagt Danny: »Und wenn das so ist?« Ich erstarre einen Moment. Die Konversation läuft ohne mich weiter.

Martina lacht auf. »Ich dachte, du seist immer eingeklemmt, da habe ich mich wohl getäuscht.« »Und ich habe mich in dein süßes ruhiges Gesicht getäuscht«, entgegne ich. Die Luft knistert vor Spannung. Danny scheint die Situation zu genießen. Er grinst uns beide an. »Ich glaube, ihr zwei habt was zu bereden«, sagt er. Er zwinkert mir zu. »Süße, bis ein andermal.« Damit dreht er sich um und verschwindet wie Blitz im Getümmel des Clubs. 



Martina wirkt plötzlich nervös. »Wir sollten mal unter vier Augen reden. Als Freundinnen.«

Ich nicke. »Ein andermal.«

Sie lächelt, fast zu süß. »Wie du willst.«

Ich gehe zum Portal. Mein Herz hämmert. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich bin froh, dieser seltsamen Begegnung entkommen zu sein. 

Martina spielt ein doppeltes Spiel – das spüre ich.

Aber was sie wirklich plant, das werde ich noch herausfinden.

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