Kaffeedrachenprinzessin (2)
Patrizia machte sich nicht die Mühe, sich bei der Verfolgung im Verborgenen zu halten. Warum auch? Wenn Stephanie sie nicht dorthin führte, wo die Quelle ihrer Gelassenheit zu finden war, dann zermürbte sie wenigstens das Wissen, verfolgt zu werden. Damit die Sache nicht zu langweilig für sie selbst wurde, packte sie ihr Smartphone aus und checkte den Status der anderen Prinzessinnen.
Sie war eine von sieben, deren Drachen aus den mächtigsten Getränkedrachenfamilien stammten. Die Macht wurde dabei nicht nur durch die Stärke der Drachen bestimmt, sondern durch viele verschiedene Faktoren. Beziehungen zu den anderen Familien, angesammeltes Wissen. Präsenz in der Welt der Menschen. Es war komplex. Wie beliebt waren die Getränke der Drachen, wie beliebt waren die Menschen, denen einer dieser Drachen zur Seite stand? Es stand wohl außer Frage, wie beliebt Kaffee war, oder?
Stephanie blieb stehen und auch Patrizia hielt an. Zu sehr wollte sie ihr nicht auf die Pelle rücken, wo ihr doch immer noch dieser widerliche Teegestank anhaftete. Die blonde Hexe warf einen Blick über die Schulter und Patrizia lächelte ihr zu. Ein minimales, kaltes Lächeln, dem man ansehen sollte, wie wenig Mühe sich Patrizia dabei gab. Stephanie schüttelte den Kopf und lief weiter. Zielgerichteter und schneller.
Der Blick ging wieder zum Smartphone. Anastasia, die Quellwasserdrachenprinzessin, Beauty-Queen und Influencerin, hielt sich im Moment in Frankreich auf. Sie war die Beliebteste unter ihnen und ihr geografisch am nächsten. Aber sie blieb, wo sie war, also war alles gut.
Wann immer eine Königin der Getränkedrachen verstarb, wählten die sieben mächtigsten Familien eines ihrer Jungtiere aus und schickten es in die physische Welt der Menschen, wo es an der Seite seiner Partnerin Erfahrung sammeln und nach und nach seine Konkurrentinnen ausschalten sollte. In epischen Kämpfen, die stets mit dem Tod enden mussten. Damit das zeitnah geschah, liefen sich die Drachenprinzessinnen ganz unbewusst irgendwann automatisch über den Weg.
Selbst Patrizia, die den Konflikt liebte, und es genoss, ihre Macht zu demonstrieren, fand das furchtbar archaisch. Die Meisten der anderen Prinzessinnen stammten aus Familien, die den Kampf sowieso verabscheuten, empfanden also ähnlich. Glücklicherweise hatten die alten Knacker vor tausenden von Jahren nicht bedacht, dass es heutzutage Dinge wie GPS geben würde und Dienste, mit denen man jedem mitteilen konnte, wo man gerade auf der Welt steckte. So gingen sie sicher, dass sie sich auf keinen Fall begegneten und weiter ungestört ihre Teenagerleben „genießen“ konnten. An Stelle des physikalischen Kampfes war inzwischen eine Art Beliebtheitswettbewerb getreten.
Stephanie blieb plötzlich vor einem Haus stehen, strich mit der Hand über die Fassade und verschwand dann in einer Passage. Patrizia steckte das Handy weg und legte einen Zahn zu, damit ihr Opfer ihr nicht entkam. Abgesehen von ihrer Rache, brachte es ihr auch Punkte ein, im Wettstreit mit den anderen. Anastasia zeigte ihre Schokoladenseite und sie dafür ihre schwarze Seele.
„Desi!“, zischte sie und ihr Drache schoss aus der Rucksacktasche. Schwebte einen kurzen Moment vor ihr. Wenn das Licht im richtigen Winkel auf Desis Schuppen fiel, sahen sie tatsächlich wie schwarze Kaffeebohnen aus. Sie war ein schöner Drache. Wunderschön und gemein. Dann schoss sie davon, hinterließ ein verschwommenes Abbild ihrer selbst, das in einem Sekundenbruchteil in Kaffeepulver auflöste und dann verblasste.
Patrizia bog in die Passage ein und sah noch, wie eine Tür zufiel und von innen verriegelt wurde. Sie war zu langsam gewesen. Aber …
„Ich bin drin“, zischelte es in ihrem Kopf, ein Geräusch, wie Kaffee, der durch eine Kaffeemaschine floss und in dünnem Strahl in die Kanne rann. Der verführerische Duft frisch aufgebrühten Kaffees breitete sich in ihrer Nase aus und ihr kamen die Tränen. Sie bildete ihn sich nur ein, das wusste sie. Aber selbst nach Jahren fühlte sich das immer noch so echt an und überwältigte sie jedes Mal. Sie schüttelte den Kopf und vertrieb die Illusion.
Stattdessen sah sie vor ihrem inneren Auge die blassen Konturen eines Treppenhausgeländers an sich vorbeirasen, dann Stephanies Rücken, der von einem grünen Nebel bedeckt war. Eine Teeaura, die vor Unruhe schützen sollte. Bescheuerter Nebeneffekt: Kaffeedrachen stieß sie natürlich auch ab. Also hielt Desi Abstand, wartete, bis die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und quetschte sich dann, so weit wie möglich über Stephanie, hindurch. Schmaler Flur, Schlafzimmer mit Doppelbett, eines mit einem Einzelbett, Bad, Wohnzimmer, Küche. Die Wohnung war winzig, zumindest für Patrizias Verhältnisse.
Stephanie betrat die Küche, in der Desi umherschwirrte. Ja, das war der Raum, in dem das größte Chaos angerichtet werden konnte. Sie öffnete eine Tür. Sah nach einem Vorratsschrank aus. Süßigkeiten, Dosen. Tüten … Mehl! Desi schoss auf den Schrank zu, durchschlug mit ihrem Körper die Mehltüte und tauchte den Raum in eine weiße Wolke. Stephanie schrie. Endlich!
Während das blonde Miststück fluchte, schubste Desi wahllos Dinge aus dem Schrank. Patrizia grinste und überlegte, wie sie es schaffen würde, ein Bild von Stephanie zu bekommen, um es auf ihrer Social-Media-Präsenz zu zeigen. Anders als Anastasia zeigte sie dort nicht ihr Gesicht, nur die ihrer Opfer. Es gab eine große Community, die sich am Unglück andere und an Streichen erfreute. Sie war berüchtigt und lag im Moment auf Platz 3 der Prinzessinnen. Dass die Teedrachenprinzessin immer noch vor ihr lag, wurmte sie gewaltig. Aber es war nur eine Frage der Zeit, bis sie auch die überholte.
Patrizia durchquerte die Passage bis zur Rückseite des Hauses. Ein kleiner Hinterhof mit Balkonen. Sie sah die Küche mit den weiß bepuderten Fensterscheiben im zweiten Stock. Ein Blick auf Balkone, Mauerwerk und Regenrinnen. Ja, das war machbar.
Ein Schlag traf sie am Kopf und Patrizia taumelte.
Sie blinzelte. Nein, das war nicht sie, die getroffen wurde, sondern Desi! Vor ihr stand Stephanie, ganz in Weiß, nur Augen und Mund bildeten Öffnungen in der Mehlschicht. Und sie war bewaffnet. Mit einer Wok-Pfanne. „Was auch immer du bist, ich kann dich sehen“, sagte sie. Ruhig, keine Spur von Angst. In ihren Augen stand Entschlossenheit. Sie konnte Desi sehen, weil auch sie voll mit Mehl sein musste. Scheiße!
Desi war noch halb benommen, drehte sich um, um aus der Küche zu fliehen, doch die Tür war zu. Ein zweiter Schlag traf sie, schleuderte sie gegen die Tür und dann zu Boden. Patrizia sank das Herz. Ein Gefühl, das sie im Kampf gegen normale Menschen noch nie erlebt hatte, breitete sich in ihrer Brust aus. Angst. Angst um Desi.
Instinktiv begann sie zu klettern. Griff nach dem ersten Ziegelstein, dann immer weiter. Sie war eine Bohnenstange. Eine kleine, kräftige Bohnenstange. Eine Nebenwirkung des Trainings, um auch im physischen Kampf bestehen zu können. Und wer schon als Kind Kaffee trank, wuchs eben nicht. Das sagte ihre Tante jeden Tag. Dass sie auch alle Rundungen wegtrainiert hatte, an denen Jungs interessiert sein konnten, war ein anderer Grund, warum sie so hart gegen die Konkurrenz angehen musste. Was ihre Tante darüber zu sagen hatte, behielt sie lieber für sich.
„Geh irgendwohin, wo sie dich nicht schlagen kann!“, dachte Patrizia. Desi startete benommen und schwankend vom Boden. Langsam, aber immer noch schnell genug, und die Pfanne donnerte gegen die Tür, statt den kleinen Drachen zu zerquetschen. Rettung versprach der Zwischenraum über der Anrichte und dem Schrank darüber. Wenn Desi sich in der Ecke unter dem Schrank versteckte … Desi schlug wieder auf dem Boden auf und eine Nudeltüte schlitterte an ihr vorbei. Spirelli-Nudeln.
„Halt durch!“, dachte Patrizia und schwang sich über das Geländer des Balkons. Sie rüttelte an der gläsernen Balkontür. Die war natürlich verschlossen! Sie zog den Rucksack von den Schultern. Er bestand aus einem Patchworkteppich aus Drachenschuppen. Ein Geschenk ihrer Tante und zusammengesetzt aus all den Rivalen, die sie in ihrer Jugend erlegt hatte. Massiv und genau das Richtige, wenn man eine Fensterscheibe zertrümmern wollte. 50 Kilo an Schulbüchern im Inneren verliehen ihm das nötige Gewicht. Die Scheibe neben dem Türgriff brach, Patrizia griff hinein und öffnete sie. Wenigstens einmal, dass ihre Tante etwas richtig gemacht hatte.
Sie stürmte durch das Wohnzimmer, hinein in den Flur und riss die Küchentür auf, wo Stephanie mit hoch erhobener Pfanne über Desi stand. Das Aufreißen der Tür schreckte sie auf und sie wirbelte herum, schlug mit der Pfanne jetzt nach Patrizia.
Es wäre ein Leichtes gewesen, diesem Schlag auszuweichen, aber aus irgendeinem Grund bedeckte eine schmierige Schicht aus Mehl, Spaghetti, Marmelade und Scherben den Boden. Patrizia rutschte aus. Der Schlag verfehlte sie, dafür spürte sie einen stechenden Schmerz in der Wade. Sie krabbelte zurück, falls Stephanie noch ein zweites Mal zuschlagen wollte.
Doch die stand nur reglos über ihr. Verwirrt starrte sie sie an. Dann wich die Verwirrung Erkenntnis und schließlich Verachtung. „Wusste ich doch, dass du dahinter steckst! Ich kenne jetzt dein kleines Geheimnis.“ Sie zeigte mit der Wok-Pfanne auf Desi. „Lass mich in Frieden, sonst setze ich alles daran, dass es ans Licht kommt. Klar?“
Patrizia wusste nicht, was sie sagen sollte. Wusste nicht, ob sie vor Wut kochen sollte, oder sich freuen, dass Desi nichts mehr passieren würde. Die versuchte, sich in die Luft zu erheben, kam aber nur ein paar Zentimeter weit, bis sie wieder zu Boden trudelte. Den Rest des Weges zum Rucksack krabbelte sie.
Stephanie sah sie fest an, wartete auf eine Antwort und Patrizia nickte. Sie hatte diesen Kampf verloren. Dass sie gehen durfte, war ein Akt der Gnade. Für den sie Stephanie noch viel mehr hassen würde. Die gefallene Prinzessin stand langsam auf und humpelte auf den Ausgang zu. Scheiße! Jeder Schritt schmerzte.
„Hey, ich glaube, du blutest“, rief ihr Stephanie hinterher, mit Sorge in der Stimme. Warum hielt sie nicht einfach die Klappe? Sie machte alles noch schlimmer! Patrizia flüchtete ins Treppenhaus und knallte die Tür hinter sich zu.




























Geschieht der Kaffeehexe und ihrem Koffeinmonster recht. Die hätten sich ruhig noch ein wenig mehr wehtun können.
Na, aber wir wollen mit der Geschichte ja jugendfrei bleiben – vielleicht. Also sehr viel mehr hätte es wohl nicht wehtun dürfen.