Kapitel 19

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Tief in der Stille, hinter den glitzernden Sternenschleiern, ruht die Wahrheit, die nur Mutige finden.

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Die Tage vergingen schneller, als ich es erwartet hätte. Die Stunden verflogen, ohne dass ich es bemerkte. Ich saß oft an Yasmins Seite, lauschte ihrer ruhigen Stimme, stellte Fragen, wagte mich an erste kleine Aufgaben. Und immer öfter war da dieses leise, warme Gefühl, dass ich nicht nur in den Tag lebte, sondern erwachte. Neben ihr schien alles so leicht.

Yasmin war sehr einfühlsam. Wenn ich etwas nicht verstand, wiederholte sie es ohne jedes Anzeichen von Ungeduld. Ihre Stimme blieb ruhig, ihr Blick freundlich. Wenn wir gemeinsam im kleinen Pausenraum der Bibliotheksangestellten saßen, wurde sie von allen freundlich begrüßt. Sie begegnete jedem mit Wertschätzung und einer gelassenen Ruhe. Dort, wo ich mich zurückgezogen hätte, ging sie auf die Menschen zu und fragte, ob sie helfen könne.

An einem Nachmittag, während wir gemeinsam ein altes Registerbuch durchgingen, legte Yasmin plötzlich die Hand an ihren Bauch und atmete tief ein.

„Gehts dir gut?“, fragte ich sofort.

Sie lächelte und nickte. „Ja, das Kleine hat gerade beschlossen, etwas heftiger zu treten.“

Ich blickte überrascht. „Du bist schwanger?“ Wie hatte ich das nicht bemerken können? Mein Blick glitt nach unten zu ihrem Bauch, dorthin, wo ihre Hand lag. Und nun fiel mir auch die Wölbung unter ihrem weiten Gewand auf.

„Du hast es wirklich nicht bemerkt?“

„Nein, ich … äh …“ Verlegen brach ich ab.

„Mach dir nichts daraus“, sagte Yasmin lachend. Dann hielt sie mir ihre Hand hin. „Willst du mal fühlen?“

Ich riss die Augen weit auf. Ich sollte meine Hand auf ihren Bauch legen? Einfach so? Wir kannten uns doch erst wenige Tage. Und dennoch reichte ich ihr meine Hand, ließ es zu, dass sie sie auf ihren Bauch legte. Durch den Stoff ihrer Kleidung konnte ich es spüren. Es fühlte sich ganz seltsam an. Die Bauchdecke wölbte sich und drückte gegen meine Handinnenfläche. Es war magisch!

„Mein Mann meint, es ist ein Junge, so kräftig könne nur ein Junge treten.“ Yasmins Stimme nahm einen wehmütigen Klang an. „Er will unbedingt einen Jungen.“ Zum ersten Mal sah ich, wie ihre Augen ihr Strahlen verloren. Sie wirkten plötzlich abwesend, irgendwie leer. „Aber was ist“, flüsterte sie, „wenn es ein Mädchen ist?“ Ihre Stimme war so leise, dass ich sie fast nicht mehr verstand.



„Was ist denn an einem Mädchen so schlecht?“, fragte ich nach und zog meine Hand vorsichtig zurück.

„In unserer Kultur sind Jungen mehr wert als Mädchen. Der Mann ist der Ernährer der Familie, die Mädchen …“ Sie sprach nicht weiter. Wahrscheinlich würde ich es sowieso nicht verstehen.

„Bekommst du denn kein Geld für die Arbeit hier?“

„Doch, natürlich, aber das ist etwas anderes.“ Yasmin hob ihren Kopf und lächelte wieder, wenn auch zurückhaltend. „Hier in Deutschland ist alles so teuer, da muss ich mithelfen.“

Ich konnte noch immer nicht verstehen, was sie meinte. Jungen und Mädchen waren gleich viel wert, beide verdienten uneingeschränkte Liebe. Was später aus ihnen würde, ob Ernährer oder Hausmann, ob Berufstätige oder Hausfrau, das konnte man ihnen doch noch gar nicht ansehen. Aber ich spürte, dass eine Diskussion mit Yasmin nicht richtig wäre. Sie arbeitete seit zwei Jahren in der Zentralbibliothek und lebte seit vielen Jahren in Deutschland, sie hatte Zeit genug gehabt, um sich das Wissen über Gleichberechtigung anzueignen. Denn wenn sie Geld verdienen konnte, sogar musste, dann könnte es ein Mädchen später genauso wie ein Junge. Vielleicht würde sich ihre Meinung ändern, wenn sie erst ihr Kind in den Armen hielt – egal ob Junge oder Mädchen.

Einen Moment sahen wir einander an. Trotz des aufwühlenden Themas spürte ich ein warmes Gefühl in mir, eine immer stärker werdende Sehnsucht. Schließlich sagte ich: „Komm, lass uns weiterarbeiten.“ Sie nickte, und wir vertieften uns wieder in das Registerbuch.

 

Die letzten Tage hatte ich nicht an das Sternenland gedacht. Nach der Arbeit hatte ich meine Eltern besucht und mich anschließend noch um meine Wohnung gekümmert, ehe ich ins Bett gegangen war. Doch nach diesem Arbeitstag spürte ich in mir das drängende Gefühl, Zuflucht im Sternenland zu suchen. Das Gespräch hatte mich aufgewühlt – auch wenn ich nicht wirklich wusste, warum.

Ich suchte eine Busverbindung heraus und erkannte, dass ich es noch bis zum Ende von Nicoles Sprechzeiten schaffen könnte. Es würde knapp werden, doch ich wollte es unbedingt versuchen. Ich betete zu den Sternen, dass mein Bus pünktlich war. Und ich hatte Glück. Er kam nicht nur genau nach Fahrplan, er hatte fast keine Verspätung am Zielort. Von der Bushaltestelle eilte ich den mir bekannten Weg entlang, alles in mir drängte danach, im Sternenland zur Ruhe zu kommen und vielleicht auch herauszufinden, was mich so beunruhigte.



In Nicoles Praxis traf ich wieder Jana an. Sie begleitete mich in das Sternenzimmer und von dort ins Sternenland. Doch heute empfand ich es nicht als so beruhigend wie sonst. Vielleicht lag es daran, dass ich schon so oft hier gewesen war, dass die idyllische, mystische Welt fast schon normal auf mich wirkte. Oder konnte meine Verwirrung der Grund sein? War ich so durcheinander, dass nicht einmal die Sterne entspannend auf mich einwirken konnten?

Einige Feen umschwirrten mich, als wir uns dem Wald mit dem Wasserfall näherten. Ihre glockenhellen Stimmen waren so fröhlich, dass ich lächeln musste, obwohl mich weiterhin eine Unruhe gefangen hielt. Jana führte mich durch den Wasserfall zur großen Wiese, die wie immer im Dunkeln lag und nur von den funkelnden Sternen erhellt wurde.

„Ich lasse dich nun allein, Verena“, sagte Jana mit freundlicher Stimme. „Ich werde Nicole sagen, dass du hier auf sie wartest.“

„Woher weißt du …?“ Ich brach ab und war verwirrt, weil ich selbst nicht benennen konnte, was ich wirklich wollte. Wie also konnte Jana meine Wünsche erahnen und Nicole mir helfen?

„Manchmal spürt das Herz mehr, als der Kopf begreifen will“, erklärte sie leise. „Und wir Schwestern sind einander näher, als du vielleicht denkst.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und schritt den Weg zurück, den wir gekommen waren. Ich drehte mich zu den Frauen, die in kleinen Gruppen zusammen waren, blieb aber in einiger Entfernung zu ihnen. Es waren weniger als sonst, dennoch wollte ich lieber allein sein.

Langsam ließ ich mich ins Gras sinken, zog die Knie an den Körper und legte nachdenklich das Kinn darauf. Ich starrte ins hohe Gras, das im Sternenlicht silbern schimmerte. Die blauen Blumen leuchteten schwach. Und zum ersten Mal, seit ich auf dieser Wiese war, entdeckte ich sehr kleine Wesen zwischen den Blüten herumschwirren. Waren es Insekten oder winzig kleine Feen? Ich erinnerte mich an Nicoles Worte, dass die Sterne diese Welt für alle magischen Wesen erschaffen hatten, die auf der Erde in Gefahr gewesen waren. War meine Fantasie etwa gewachsen, sodass ich nun weitere magische Wesen erkennen konnte?

Ich wusste nicht, wie lange ich so dagesessen hatte und den neu entdeckten Wesen zugeschaut hatte. Doch plötzlich hörte ich Schritte herankommen. Nicole trat neben mich, ein Tuch locker um ihre Schultern geschlungen.



„Darf ich mich zu dir setzen?“

Ich nickte, und sie setzte sich neben mich. Eine Weile schwieg sie, schließlich fragte sie: „Du trägst etwas in dir herum, das du nicht in Worte fassen kannst, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht … vielleicht … ja, kann sein. Ich verstehe mich selbst nicht.“

„Wann hat dieses Gefühl angefangen?“

Ich hob den Blick und sah sie an. In ihren Augen konnte ich wieder den Sternenglanz entdecken. Nicole trug so viel Weisheit in sich, als käme sie selbst direkt von den Sternen. Es tat gut, mit ihr zu sprechen. Und so erzählte ich ihr von dem Baby in Yasmins Bauch und ihrer Hoffnung, dass es ein Junge wird. Als ich Nicole von meinem Wunsch erzählte, Yasmin zu sagen, dass es keinen Unterschied machte, ob ihr Baby ein Junge oder ein Mädchen würde, spürte ich erneut Unsicherheit in mir hochkommen.

„Ich hatte Angst, mit ihr zu diskutieren. Ich dachte, wir hätten uns angenähert und ich könnte ihr alles sagen. Aber ich hatte Angst, etwas Falsches zu sagen, sie zu verletzen. Und … ich hatte Angst …“ Meine Stimme wurde ganz leise. „… dass sie aus meinen Worten heraushören könnte, dass ich … dass ich …“ Meine Atmung wurde schwerer, und mein Herz schlug schneller. Ich konnte es nicht aussprechen.

„Hab keine Angst vor deinen Gedanken und deinen Gefühlen, Verena“, sprach Nicole mir Mut zu. „In dieser Welt wird dich niemand verurteilen. Du kannst tief in dich horchen und nach der Wahrheit in dir suchen. Und du darfst für sie eintreten.“

„Aber vielleicht ist meine Wahrheit nicht Yasmins Wahrheit. Was ist, wenn sie sich ebenso wie ihr Mann einen Sohn wünscht? Und was ist … wenn sie eine Tochter bekommt? Wird sie das Kind weniger lieben, wenn es ein Mädchen ist?“

„Du kannst Yasmin nicht zwingen, so zu handeln oder zu denken, wie du es tust. Doch du kannst sie sanft in eine neue Richtung lenken.“ Nicole hob ihr Gesicht und blickte zum Himmel hinauf. „Es ist wie bei einer Pflanze: Sie wächst aus dem Boden empor und nährt sich vom Regen und der Sonne. Manchmal reicht es nicht. Dann können wir sie gießen und ihr künstliches Licht schenken. Aber den Regen und die Sonne selbst können wir nicht zwingen, mehr zu geben.“

„Ich kann das nicht“, flüsterte ich. „Wie soll ich Yasmins Kind Liebe schenken? Vielleicht werde ich es nie erblicken. Ich bin doch nur eine Kollegin für sie.“



„Bist du dir sicher?“

Ich zögerte, ehe ich antwortete. „Ja, denn sie hat einen Mann. Sie ist von ihm schwanger. Selbst wenn sie eines Tages in mir eine Freundin sehen könnte, sie würde … Ich meine …“ Ich senkte den Blick, schloss die Augen und holte tief Luft. „Ich glaube, ich habe Sternenflattern. Aber ich darf so nicht für sie empfinden, sie ist vergeben. Und sie liebt Männer.“

„Manche Seelen begegnen sich nur für eine kurze Zeit, Verena. Andere für ein Leben. Und ob man Frauen oder Männer liebt, spielt dabei keine Rolle. Wichtig ist, für den anderen da zu sein.“ Nicole legte ihre Hand auf meine Schulter, und es fühlte sich vertraut und richtig an. „Ein einzelner Stern kann den Nachthimmel nicht erleuchten. Doch viele Sterne lassen den Himmel erstrahlen. Jeder soll für jeden da sein – nicht bloß für einen Seelenverwandten.“

Ich öffnete die Augen und sah Nicole an. Dann blickte ich hoch zu den Sternen, die zu Tausenden dort über mir funkelten. In diesem Land der Harmonie und Liebe war jedes Wesen so erfüllt von Frieden, dass man hier zur Ruhe kommen konnte. Es gab keinen Neid, keine Eifersucht. Hier durfte ich still sein. Ich durfte unsicher sein. Ich durfte mir so viel Zeit lassen, wie ich brauchte, um zu mir selbst zu finden.

„Du bist nicht verloren, Verena“, drang Nicoles warme Stimme an mein Ohr, „du bist unterwegs.“

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