Kapitel 23

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Wenn du deine Ängste in den Schlaf wiegst, so wird ein Sternenkind kommen und sie forttragen.

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Ich wollte nichts riskieren. Darum versuchte ich Yasmin zu überreden, mit mir früher Feierabend zu machen und zu meiner Heilpraktikerin zu fahren.

„Glaub mir“, sagte ich mit eindringlicher Stimme, „Nicole Buchner ist eine sehr einfühlsame Frau. Sie kann dir helfen. Und sie kann dir auch eine Entschuldigung schreiben, falls Frau Mendes eine braucht.“ Als Yasmin immer noch nicht überzeugt war, brachte ich meinen wahren Grund vor für meine Idee. „Wir müssen früh genug weg sein, damit Ahmed dich nicht entdeckt.“

Yasmin zuckte zusammen bei der Erwähnung seines Namens. Aber es schien zu helfen. „Vielleicht hast du recht“, murmelte sie.

„Natürlich habe ich recht. Wenn er sieht, wie du in den Bus steigst, wird er ihm folgen.“ Ich hatte keine Ahnung, ob es stimmte, doch nur wenn ich das schlimmste Szenario beschrieb, würde sich Yasmin entscheiden können.

„Gut, wir machen das so. Aber was sagen wir, weshalb wir zusammen früher gehen wollen?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Wir sagen die Wahrheit. Dass du Schmerzen hast und bei meiner Heilpraktikerin vorsprechen möchtest. Und dass ich dich begleite in deinem Zustand.“

Yasmins Sorge, dass wir nicht gehen dürften, waren unbegründet. Frau Peters war bereits außer Haus, doch Herr Brack, der Leiter des Archivs, ging sofort ans Telefon. Als er hörte, dass Yasmin Schwangerschaftsprobleme hätte, nötigte er uns, sofort zu gehen.

„Frau Sommer, das dürfen Sie nicht auf die leichte Schulter nehmen“, mahnte er. „So eine Schwangerschaft kann ungeahnte Komplikationen machen. Und wenn Frau Derya Schmerzen hat, muss sie sofort untersucht werden. Vielleicht wäre es sogar besser, wenn Sie sie direkt ins Krankenhaus begleiten.“ Er machte eine kurze Pause. „Na gut, da vertraue ich einfach Ihrem weiblichen Urteil. Vielleicht kann Ihre Heilpraktikerin bereits etwas bewirken. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg, gute Erholung und ein angenehmes Wochenende.“

„Danke, Herr Brack, Ihnen auch.“

Yasmin sah mich mit großen Augen an. „Ich hätte nicht gedacht, dass er so nett ist.“

Ich lächelte. „Du bist immer zu allen nett. Da ist es ganz natürlich, dass sie auch nett zu dir sind. Und nun schnapp dir deine Sachen. Wir gehen sofort los, ehe irgendjemand doch noch eine Arbeit für uns findet.“



„Müssen wir nicht vorher bei deiner Heilpraktikerin anrufen?“

„Ach nein, die Praxis hat geöffnet. Notfalls warten wir bei ihr. Es ist dort sehr gemütlich.“ Ich sagte Yasmin nicht, dass ich insgeheim hoffte, dass uns Jana ins Sternenland führte, auch wenn sie meine neue Freundin noch gar nicht kannte.

Wir schalteten die Computer aus, räumten unsere Arbeitsplätze auf und verließen die Bibliothek. Die Angestellten an der Servicetheke wünschten uns ein schönes Wochenende, und ich hoffte, wir würden es wirklich haben.

Yasmin war sehr still. So sagte ich ebenfalls nichts. Wir schritten zur Bushaltestelle, um dort auf den Bus zu Nicoles Praxis zu warten. Es dauerte nur wenige Minuten, bis er eintraf. Wir zeigten unser Ticket vor und suchten einen Vierersitz, wo wir uns bequem hinsetzen und die Rucksäcke neben uns stellen konnten. Es war Mittagszeit, so hatten wir Glück und der Bus blieb ziemlich leer. Der Ansturm von Schulkindern kam erst später, da wären wir längst bei Nicole.

Yasmin blickte stumm aus dem Fenster. Sie beklagte sich nicht über die unruhige Busfahrt. Ihre rechte Hand lag locker in Bauchhöhe. Ob sie an das kleine Mädchen dachte, das sich dort auf die Geburt vorbereitete? Ich hätte ihr gern etwas Tröstliches gesagt, doch mir fiel nichts ein. So schaute auch ich nur aus dem Fenster und zählte die Haltestellen bis zu unserem Ziel.

Als wir in dem beschaulichen Ort ausstiegen, war Yasmin überrascht. „Hier ist es ruhig“, murmelte sie. „Ich hätte nicht gedacht, dass eine Heilpraktikerin so abgelegen eine Praxis führen kann.“

„Vielleicht ist es gerade die Ruhe, die positiv für eine Heilpraktikerin ist“, meinte ich. „Und natürlich hilft auch Mundpropaganda. Ich habe sie durch meine Schwester empfohlen bekommen, die von einer …“ Ich brach ab. „Ist nicht so wichtig, komm, lass uns zur Praxis gehen. Es ist nicht sehr weit.“

Ein paar Minuten später standen wir vor dem Gebäude mit den weißen Fensterläden, in dem Nicole ihre Praxis hatte. Als ich die Tür öffnete, bemerkte ich Yasmins Zögern. „Du musst keine Angst haben. Es wird nichts geschehen, was du nicht selbst willst.“

Sie nickte und trat ein. Ihr Blick glitt über die Wände und Türen, dann wieder zu mir. „Und jetzt?“ Sie sprach ganz leise, als ob sie Angst hätte, jemand könnte sie hören.



Ich war selbst ein wenig unsicher. Normalerweise kam mir immer Jana entgegen, sobald ich die Haustür öffnete. Doch nun blieb alles ruhig. Ich ging ein paar Schritte, bis ich zu einer offenen Tür kam. Sonst hatte ich nie auf diese Räume geachtet, jetzt bemerkte ich das Schild an der Tür: Anmeldung. Die Theke war leer, dennoch trat ich ein. Yasmin folgte mir.

„Da hängt ein Zettel“, sagte sie und wies auf den Aufsteller auf der Theke. „Bitte nehmen Sie im Wartebereich Platz. Ich komme gleich zu Ihnen. – Nicole Buchner“, las sie vor.

„Okay, dann tun wir das mal“, sagte ich und ging Yasmin voran zu dem Wartezimmer, in dem ich selbst nur sehr selten saß. Meist war ich direkt ins Sternenzimmer geführt worden.

Yasmin blickte sich auch hier sorgfältig um. Ich half ihr aus dem Mantel und hängte ihren Mantel und meine Jacke an die Garderobenhaken. „Es ist richtig schön hier“, flüsterte sie. „Ich hätte nie gedacht, dass eine Heilpraktikerin gepolsterte Sessel im Wartezimmer stehen hat. Es sieht hier eher nach einem modernen Wohnzimmer aus.“

Yasmin setzte sich in einen der orangefarbenen Sessel und seufzte wohlig auf. Ich schob einen Sessel dicht neben ihren und setzte mich ebenfalls. „Magst du etwas lesen?“ Ich wies auf die Zeitschriften, die auf dem weißen Tisch vor uns lagen. „Oder möchtest du etwas trinken? Ich kann mal schauen, ob nicht vielleicht jemand in der Küche ist und uns einen Tee kocht. Oder ich besorge eine Flasche Mineralwasser.“

„Ein Wasser wäre schön.“

Ich sah Yasmin in die Augen, und ein wohliges Gefühl durchströmte mich. Wie gern würde ich ihr sagen, was ich für sie empfand. Aber ich fürchtete, dass sie es nicht verstehen könnte. In ihrer Kultur war alles anders. Vielleicht reichte es, wenn ich für sie da war. Und wenn sie irgendwann mehr für mich empfand … dann war ich bereit für sie und das kleine Mädchen – unser kleines Mädchen.

Ich stand auf und verließ das Wartezimmer. Wo die Teeküche war, wusste ich. Leider war dort niemand. Was war nur los? Es war Freitagmittag, für gewöhnlich waren um diese Uhrzeit immer Töchter der Sterne anzutreffen. Besonders während Nicoles Sprechzeiten war zumindest eine Frau hier, um Patienten oder Sternenschwestern zu empfangen. Auch wenn ich genau wusste, wo Teebehälter und Tassen waren, wollte ich nicht ungefragt Tee kochen. Aber eine Flasche Mineralwasser und zwei Gläser nahm ich dann doch. Yasmin war schwanger, sie musste viel trinken. Und in Gesellschaft trank sie sicherlich mehr, darum auch ein Glas für mich.



Zurück im Warteraum schenkte ich uns beiden etwas ein und reichte Yasmin ein Glas. Sie nahm es, trank einen kleinen Schluck und atmete tief durch. Ich setzte mich still neben sie. Ich wusste nicht, was ich sagen könnte, also blieb ich einfach ruhig neben ihr und starrte auf die Zeitschriften vor mir, ohne sie wirklich wahrzunehmen.

Irgendwann hörte ich Schritte. Auch Yasmin hörte sie, denn sie zuckte zusammen und richtete sich etwas auf. Ich sah zu ihr und merkte, dass sie die Tür fixierte. Ihre Hände lagen auf ihrem Bauch, und ich konnte erkennen, dass sie ziemlich fest zudrückte, so angespannt war sie. Mein erster Impuls war, meine Hände über ihre zu legen und so den Druck herauszunehmen. Aber ehe ich es tun konnte, öffnete sich die Tür, und Nicole kam herein.

„Ah“, sagte sie mit ihrer warmen, herzlichen Stimme, „habe ich es doch richtig gehört, es sind Besucherinnen gekommen.“

Yasmin warf mir einen Blick zu, den ich nicht deuten konnte.

„Ist das deine Freundin Yasmin, Verena, von der du erzählt hast?“, fragte Nicole und trat zu uns heran.

„Ja, sie hat da ein …“ Ich stoppte, denn Yasmin griff nach meiner Hand. Als ich zu ihr blickte, sah ich, wie sie heftig den Kopf schüttelte. „Äh … vielleicht könntest du …“ Ich brach ab. Wenn ich Nicole bat, nach dem Baby zu fühlen, ob noch alles in Ordnung war, musste sich Yasmin freimachen. Dann würde Nicole die blauen Flecke sehen und sofort wissen, dass meine Freundin misshandelt worden war. Genau das wollte Yasmin anscheinend nicht zugeben. Nur, wie sollte Nicole ihr helfen, wenn sie nichts über ihre Probleme erzählen wollte?

Einen Moment herrschte Schweigen. Ich fühlte mich völlig hilflos, deshalb starrte ich eine Banane an, die auf einem der Stillleben abgebildet war. Sie war sehr wirklichkeitsgetreu gezeichnet, sogar mit braunen Stellen.

„Ich schlage vor“, durchbrach Nicole die Stille, „wir gehen nach oben ins Sternenzimmer.“

„Sternenzimmer?“ Yasmin blickte verwirrt. Ich nickte und stand hastig auf. Bestimmt würde sie sich öffnen und Hilfe annehmen, wenn sie erst im Sternenland war. Es hatte mir auch geholfen, dort zu sein und die mystische Welt zu erfahren.

Nicole führte uns nach oben. Aber sie stellte sich nicht hin und nahm unsere Hände, um den Spruch zu sagen, der den Sternenpfad herbeirief. Sie deutete an die Zimmerdecke, nachdem sie die Tür hinter uns geschlossen hatte. „Obwohl in Mythen und Legenden von einem Sonnengott oder einer Sonnengöttin, von einem Mann im Mond oder einer Mondgöttin erzählt wird, so sind es doch die Sterne, die unser wahres Wesen widerspiegeln.“



Ich versuchte zwar, die Worte zu verstehen, aber so ganz begreifen konnte ich sie nicht. Inwiefern sollten die Sterne unser wahres Wesen widerspiegeln? Was überhaupt bedeutete wahres Wesen?

„Auch wenn manche Menschen gern allein sind, so brauchen wir einander. Das Ungeborene …“ Sie zeigte auf Yasmins Bauch. „… die Mutter, kleine Kinder erfahrene Menschen, und sehr alte Menschen brauchen dann oft wieder die Hilfe der Jüngeren. Und alle sind wir unterschiedlich – trotzdem alle gleich viel wert. So wie kein Stern, egal wie hell er leuchtet oder wie klein er sich am Nachthimmel zeigt, besser ist als der andere. Sie alle zusammen ergeben den prachtvollen, magischen Sternenhimmel, der uns unseren Weg erleuchtet.“

Yasmin stand einfach nur da und schaute die Sterne an, die sich leuchtend vom dunkelblauen Hintergrund abhoben. Sie sprach kein Wort, mit beiden Händen hielt sie ihren Bauch umfangen. Ich kam mir ein wenig überflüssig vor. Oder waren Nicoles Worte auch an mich gerichtet? Ich war sehr gern allein, dennoch wusste ich, dass ich ab und zu die Hilfe anderer Menschen brauchte. Meine Eltern waren immer für mich da, wenn ich nicht weiterwusste. Durch meine Schwester Lisa hatte ich von Nicole erfahren. Und in gewisser Weise war sogar meine Arbeitsvermittlerin Frau Behrens hilfreich gewesen. Sie hatte mich zwar manches Mal sehr forsch vorangetrieben, doch letztlich hatte ich eine wundervolle Stelle bekommen und – die noch wundervollere Yasmin kennengelernt.

„Möchtest du noch mehr erfahren, Yasmin?“ Nicole streckte ihre rechte Hand aus. Yasmin sah zu mir, und ich nickte aufmunternd. Damit sie sah, dass es ganz normal war, streckte ich ebenfalls meine Hand aus, und gemeinsam fassten wir einander an.

Nicole sagte mit singender Stimme den Spruch, und wieder verschwanden die Wände, die Kissen lösten sich in einem wirbelnden Nebel aus silbernen und blauen Funken auf und wurden zu dem mir so gut bekannten Sternenpfad. Um uns herum leuchtete ein dunkelblauer Himmel, der erfüllt von Millionen Sternen war.

„Das ist nicht möglich“, stieß Yasmin hervor und starrte mit offenem Mund auf dieses Wunder.

„Wenn du magst“, sagte Nicole mit freundlicher Stimme, „können wir gemeinsam ins Reich der Sterne gehen. Dort ist es ruhig und friedlich.“



Yasmin stand wie versteinert da. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Dann schüttelte sie den Kopf und zog ihre Hände zurück. „Ich … ich kann nicht. Noch nicht. Es ist … zu viel.“

Nicole nickte. Der Sternenpfad erlosch, und das Zimmer um uns herum tauchte wieder auf. „Alles ist gut, Yasmin. Das Sternenland wartet, bis du bereit bist.“

Ich spürte Traurigkeit in mir. Es wäre so schön gewesen, wenn Yasmin den Schritt gewagt hätte. Doch vielleicht war das wirklich noch zu viel verlangt. Immerhin kämpfte sie gerade darum, sich von Ahmed zu lösen. Ich musste geduldig sein.

„Komm, Yasmin, fahren wir nach Hause“, sagte ich und lächelte sie an.

„Nach Hause“, murmelte sie und senkte den Kopf. „Dort kann ich nicht mehr hin.“

„Ich meine zu mir“, erklärte ich rasch.

Sie sah hoch. „Ich will dir keine Umstände machen.“

„Du machst mir keine Umstände. Ich habe dich sehr lieb, Yasmin, du bist meine Freundin.“

Sie sah mich an. Und wieder fühlte ich dieses Kribbeln im Bauch, die Wärme im ganzen Körper, und ich sehnte mich so sehr danach, sie in die Arme zu nehmen, dass ich kaum noch Luft bekam.

„Danke, Verena“, flüsterte sie.

Ich streckte meine Hand aus, und sie ergriff sie. Gemeinsam gingen wir die Treppen nach unten. In diesem Moment war ich rundum glücklich.

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