SdS – Kapitel 12

Wieder einmal saß ich auf dem knackenden Plastikstuhl im viel zu kleinen Büro von Frau Behrens. Ihr stechender Blick schien mich zu durchdringen. Zumindest lag heute kein Zigarettengeruch in der Luft, nur das leicht bittere Aroma von Kaffee, wahrscheinlich ein Espresso.
„Wie ich dem Schreiben von Herrn Lehmann entnehme, sind Sie bei dem Seminar durchgefallen, Frau Sommer.“
Eigentlich erwartete ich, dass die Arbeitsvermittlerin auf ihren Monitor schaute, ehe sie meinen Namen nannte. Doch heute schien sie ihn zu kennen. War das gut oder schlecht?
„Er hat zudem geschrieben …“ Nun blickte sie doch auf ihren Monitor. „… habe ich Frau Sommer empfohlen, professionelle Hilfe zu suchen, sei es eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung.“ Sie blickte wieder zu mir. „Das Seminar war letzte Woche. Haben Sie bereits Kontakt zu Psychiatern und Psychotherapeuten aufgenommen? Sie wissen, die Wartelisten sind lang. Je eher Sie sich darauf setzen lassen, umso eher kann Ihnen geholfen werden.“
Ich schluckte. Wenn ich ihr von dem Sternenreich erzählte, würde sie mich für verrückt halten und vielleicht eine Zwangseinweisung erwirken. Mal ganz abgesehen davon, dass ich Nicole versprochen hatte, nichts zu verraten. Aber was konnte ich sonst sagen?
„I-ich bin i-in Behandlung“, sagte ich schließlich und knetete unruhig meine Hände, die immer mehr schwitzten. Auch an meiner Stirn konnte ich eine leichte Schweißbildung spüren. Es fühlte sich zumindest feucht an. Zum Glück hatte ich ein sehr gutes Deo. Kurz sah ich in Frau Behrens’ Augen, blickte aber rasch wieder auf den Schreibtisch. Dort gab es so viele Dinge, dass ich mir mühelos einen Punkt zum Fixieren heraussuchen konnte. Dieses Mal war es ein kleiner Block mit neonfarbenen Post-its.
„Aha.“ Die Arbeitsvermittlerin klang nicht überzeugt. „So schnell. Bei wem?“
Ich schluckte, mein Herzschlag beschleunigte sich. Mein Stresslevel stieg immer mehr an. „B-bei einer Heilpraktikerin f-für Psychotherapie.“
Frau Behrens hob die Augenbrauen, als hätte ich ihr erzählt, ich ließe mich von einer Wahrsagerin behandeln. „Eine Heilpraktikerin“, wiederholte sie langsam. „Das ist nicht gleichbedeutend mit einer fachärztlichen Behandlung. Sie wissen, dass diese Form der Therapie wissenschaftlich nicht anerkannt ist?“
Ich nickte kaum merklich.
„Ich rate Ihnen dringend, dennoch bei anerkannten Psychiatern oder Psychotherapeuten anzurufen und sich auf deren Wartelisten setzen zu lassen.“ Sie tippte mit den Fingern der rechten Hand auf dem Schreibtisch herum. Plötzlich drehte sie sich ein wenig, zog eine Schublade auf und holte ein Formular hervor. Sie reichte es mir mit den Worten: „Ich will einen schriftlichen Nachweis, Frau Sommer. Eine offizielle Bestätigung Ihrer Termine, mit Stempel, Unterschrift und dem Hinweis, dass es sich um psychotherapeutische Sitzungen handelt. Lassen Sie sich das hier ausfüllen und bringen Sie es beim nächsten Mal mit.“
Ich griff mit zitternden Händen nach dem Formular. Ohne einen Blick darauf zu werfen, schob ich es in meine Tasche. „U-und w-was ist mit d-den Bewerbungen?“, wagte ich, leise nachzufragen.
„Frau Sommer!“ Die Stimme von Frau Behrens klang so energisch, dass ich überrascht hochschaute. „Herr Lehmann hat ganz klar bescheinigt, dass Sie gar nicht in der Lage sind, zu arbeiten. Was Sie brauchen, ist professionelle Hilfe. Danach können wir weitersehen. Bevor Sie nicht stabilisiert sind, dürfen Sie sich nicht bewerben. Sie wollen doch langfristig bei einer Firma unterkommen, Frau Sommer, da müssen Sie wirklich arbeitsfähig sein.“
Mit großen Augen starrte ich sie an. Noch nie, wirklich nie, hatte sie meinen Namen ausgesprochen, ohne auf ihren Bildschirm zu blicken. Und nun wusste sie ihn jedes Mal ganz ohne ein Blatt oder einen Monitor-Blick. Hatte Herr Lehmanns Beurteilung wirklich eine solch starke Wirkung auf sie gehabt?
Ganz kurz huschte der Gedanke durch meinen Kopf, dass vielleicht der Segen der Sterne etwas damit zu tun haben könnte. Aber die Idee verwarf ich gleich wieder. Ich sah aus wie immer, ich stotterte wie immer, und mein Selbstbewusstsein war auch nicht wirklich besser geworden. Es musste Zufall sein, dass sie meinen Namen kannte.
„Okay“, sagte ich leise. „I-ich bewerbe m-mich erst, w-wenn i-ich gesund bin.“
„Das ist die richtige Einstellung, Frau Sommer“, lobte mich Frau Behrens, und wieder hatte ich das Gefühl, dass es doch mit dem Sternensegen zusammenhängen könnte. Nie war die Arbeitsvermittlerin so nett gewesen. „Ich wünsche Ihnen viel Erfolg. Wir sehen uns dann in einem Monat wieder.“
„E-ein Monat?“, kam es mir verblüfft über die Lippen.
„Ja, Frau Sommer, ich schicke Ihnen einen Brief mit dem nächsten Termin. Bis dahin sorgen Sie dafür, dass Sie das Formular ausgefüllt bekommen.“ Sie nickte mir freundlich zu, und ich entdeckte ein leichtes Lächeln, das ihre Mundwinkel nach oben zog. „Einen schönen Tag noch.“
„D-danke, Ihnen auch.“ Ich stand auf und hastete fast schon aus dem Büro. Ein Monat Ruhe vor einem Besuch bei Frau Behrens! Ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass sie mir in letzter Sekunde doch noch einen früheren Termin gab. Es war unglaublich, wie gut es heute verlaufen war. Dabei hatte ich schon während der Busfahrt hierher Magenschmerzen gehabt. Gerade weil sich Herr Lehmann so negativ geäußert hatte, rechnete ich mit dem Schlimmsten. Und nun war das Gespräch für mich überaus positiv verlaufen. Frau Behrens konnte richtig nett sein.
Ich schritt den Gang entlang und warf einen Blick auf die Stellenausschreibungen, die an der Wand hingen. Mal wieder wurden hauptsächlich Mitarbeitende im Lager gesucht. Aber dann kamen ein paar Stellen in Verwaltungen, zwei freie Stellen für Steuerfachangestellte – und eine freie Stelle im Archiv der Stadtbibliothek. Ich blieb stehen und starrte auf die Ausschreibung. Frei ab sofort. Meine Atmung beschleunigte sich. Sie suchten eine Aushilfe im Archiv, keine Archivarin, also musste ich keine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Auch wenn ich mich vorerst nicht bewerben sollte, war das vielleicht die Möglichkeit für mich, doch meinen Traumjob zu bekommen.
Schnell kramte ich nach meinem Handy, machte ein Foto von dem Aushang und las mir noch einmal alles durch. Als sich eine Tür öffnete, zuckte ich zusammen und drehte den Kopf in Richtung Frau Behrens’ Büro. Es war nicht ihre Tür, sondern von einem Kollegen, der sie direkt hinter sich zumachte und sogar mit Schlüssel verschloss. Für mich war es das klare Zeichen, dass ich gehen musste. Frau Behrens durfte mich nicht dabei erwischen, wie ich mir Stellenangebote durchlas. Immerhin sollte ich mich zunächst therapieren lassen.
Glücklicherweise brauchte ich nicht lang auf den Aufzug zu warten. Ich stieg ein und fuhr nach unten. Draußen roch die Luft nach nassem Asphalt, es tropfte vom kleinen Vordach des Eingangsbereichs herunter. Anscheinend hatte es eben noch geregnet, jetzt lichtete sich der Himmel aber wieder. Das Platschen, wenn die Autos durch die Pfützen fuhren, warnte mich davor, zu nah an den Straßenrand zu gehen. Auch an der Ampelanlage hielt ich gebührend Abstand. Bereits auf dem Weg zur Bushaltestelle entschloss ich mich, nicht zu mir nach Hause zu fahren. Ich würde bei Nicole vorbeifahren und sie fragen, was sie von der Stelle im Archiv hielt. Wenn auch sie der Meinung war, dass ich mich erst einmal nicht bewerben sollte, würde ich es nicht tun.
An der Haltestelle setzte ich mich hin und recherchierte, mit welchem Bus ich möglichst nah an Nicoles Praxis kam. Direkt von hier konnte ich nicht abfahren. Ich musste gleich auf die andere Straßenseite gehen, um von der Haltestelle mit dem Bus zum Bahnhof zu fahren. Dort fuhr ein Zug in die Nachbarstadt, und da gab es eine Busverbindung fast bis zur gewünschten Straße.
„Hoffentlich ist es bei Nicole trocken“, murmelte ich mit einem Blick auf den grauen Himmel, bei dem nur vereinzelte blaue Flecken zu entdecken waren. An einen Regenschirm hatte ich heute Morgen nicht gedacht. Andererseits würde mir ein Regenschauer bestimmt nicht schaden. Und wenn ich noch genug Zeit hatte, könnte ich bei Lisa und Matthias nachfragen, ob sie mich später bei Nicole abholen konnten. Immerhin hatte ich jetzt viel Zeit, bis ich mich wieder bei Frau Behrens einfinden musste.
Eine innere Ruhe durchströmte mich, als ich daran dachte, was ich mir wirklich wünschte: noch einmal ins Sternenland gehen zu dürfen, die magischen Tiere und Blumen zu sehen. Vielleicht erlaubte mir Nicole, etwas länger dortzubleiben und mit den Frauen auf der Wiese zu musizieren. Zwar spielte ich kein Instrument, aber eine Trommel oder ein Tamburin konnte selbst ich verwenden.
Mit diesen positiven Gedanken schritt ich zurück zur Ampelanlage, um die andere Bushaltestelle aufzusuchen.
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