SdS – Kapitel 4
Obwohl ich überzeugt gewesen war, dass ich mir den Weg bestimmt nicht gemerkt hatte, konnte ich mich sonderbarerweise erinnern. Während ich über den Hof ging, bemerkte ich einige Lkws, die an Laderampen standen. Von dort konnte ich auch laute Rufe hören. An einem Lkw lehnte ein Mann und rauchte eine Zigarette. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, was er mit dem Glimmstängel machte, wenn er fertig war. Automatisch glitt mein Blick zu Boden, und richtig, jetzt bemerkte ich die Kippen, die hier überall verstreut herumlagen. Ich verzog das Gesicht und hoffte, dass ich nicht in einer Abteilung eingesetzt wurde, wo es Raucher oder Raucherinnen gab. Nikotin war kein Geruch, den ich mochte.
Ich schritt auf ein Betongebäude zu, bei dem sich im zweiten Stock sehr viele Fenster befanden. Das sollte die Etage mit den Büros sein, wo ich Herrn Wagner treffen würde. Ich suchte nach einer Eingangstür und fand leider nicht nur eine, sondern gleich drei. Welche mich zu meinem Termin führte, wusste ich nicht, doch viel falsch konnte ich nicht machen. Immerhin war ich sowieso schon zu spät, also kam es auf die paar Minuten auch nicht mehr an.
Verstohlen blickte ich auf meine Armbanduhr und runzelte die Stirn. Das hätte ich vorhin schon machen sollen. Wieso hatte der Mann behauptet, ich wäre zu spät? Bis zu meinem Bewerbungsgespräch waren es noch fünfzehn Minuten! Ob es noch eine andere Bewerberin mit dem Nachnamen „Sommer“ gab? Eigentlich konnte ich mir das nicht vorstellen, aber ausschließen konnte ich das nicht.
Die erste Tür führte mich nur zu einem Gang mit noch mehr Türen, am Ende war eine große Glastür, durch die ich in eine Halle sehen konnte. Das war garantiert nicht der richtige Weg.
Die zweite Tür führte mich in ein Treppenhaus, was ich sofort als „stimmt“ einordnete. Als ich die Stufen im Treppenhaus nach oben schritt, erschrak ich unter dem hallenden Geräusch. Auch wenn niemand unterwegs war, erschien es mir viel zu laut. Mit jedem Schritt wurden meine Hände vom Schweiß nasser, und mein Herz überschlug sich fast schon vor Aufregung. Dabei konnte mir nichts passieren. Es ging nur um ein Bewerbungsgespräch. Was sollte da schon großartig schiefgehen?
Ich dachte an Frau Behrens, für die nur ein Erfolg zählte, nämlich dass ich die Stelle bekam. Vielleicht konnte doch mehr schiefgehen, als ich glaubte.
Irgendwann machte sich Verwirrung in mir breit. Wieso begegnete ich keinem Menschen? Warum hörte ich keine Schritte oder Stimmen, die durch das Treppenhaus hallten? War ich vielleicht doch falsch? Ich konnte die Unsicherheit in mir heranwachsen spüren und fühlte mich in meinen Gefühlen verloren. Aber dann atmete ich tief durch und sagte mir in Gedanken eines der Mantras auf, die ich mir im Internet zusammengesucht hatte: Ich atme Mut und Stärke ein und atme Unsicherheit und Angst aus.
Leider half mir das auch nach dem fünften Mal aufsagen nicht. Also probierte ich es anders herum: Ich atme Unsicherheit und Angst aus und atme Mut und Stärke ein.
Bereits beim zweiten Atemzug spürte ich eine deutliche Entspannung. Ich konnte fast schon fühlen, wie mich ein warmes, wohliges Gefühl von Kraft durchfloss. Frisch motiviert schritt ich weiter die Treppen hinauf, bis ich in den zweiten Stock kam. Dort ging es einen Treppenhausflur entlang. Zu meiner Linken waren Türen aus Holz, auf meiner Rechten befanden sich Glastüren. Da konnte ich nicht nur ins Innere sehen, sondern zugleich auf eine riesige Halle blicken, die dahinter lag und in der sich meterhohe Regalreihen erstreckten.
„Wow“, hauchte ich ergriffen. So hatte ich mir das hier nicht vorgestellt. Also war das Gebäude in Wirklichkeit eine riesige Lagerhalle, und vorn befanden sich Büros.
Als sich meine erste Ergriffenheit gelegt hatte, runzelte ich verwirrt die Stirn. Wo fand ich denn nun Herrn Wagner? Links oder rechts?
Wieder kramte ich in meiner Tasche nach dem Einladungsschreiben. Sicherlich stand dort etwas. In diesem Fall täuschte ich mich. Als ich es gründlich durchlas, konnte ich leider nichts finden. Da gab es keinen Lageplan mit einer bestimmten Kennzeichnung oder einen Hinweis wie „Zweiter Stock, zweite Glastür“. Also ging ich etwas unsicher weiter.
Manchmal verfluchte ich wirklich, dass ich vor allem solch eine Angst hatte. Frau Behrens würde hier sicherlich mit forschem Schritt vorwärts marschieren, vielleicht an irgendeiner Tür klopfen und selbstbewusst fragen: „Wo finde ich denn den Lagerleiter Herrn Wagner?“ Und dann würde sie nicht eher weitergehen, bis man es ihr nicht ganz eindeutig gesagt hatte oder sie vielleicht sogar hingebracht hatte.
Ich seufzte. Genau so wünschte ich mir mein Leben. Manchmal zumindest. Dann wäre einiges leichter.
Ich atme Unsicherheit und Angst aus und atme Mut und Stärke ein.
Ich hob meine Hand und wollte schon an der nächsten Tür anklopfen, da steckte ein Mann seinen Kopf aus einer der Glastüren. „Frau Sommer?“, rief er zu mir herüber, und ich zuckte schuldbewusst zusammen. Dabei hatte ich gar nichts getan, ich hatte nur irgendwo anklopfen wollen.
„Ja“, antwortete ich und merkte, dass meine Stimme zu leise war, also wiederholte ich etwas lauter: „Ja!“
„Kommen Sie bitte, ich warte schon auf Sie!“, rief er mit vorwurfsvoller Stimme, und ich wusste sofort, das war kein guter Einstieg für ein Bewerbungsgespräch. Aber das konnte ich jetzt nicht mehr ändern. Ich eilte ihm entgegen, und er verschwand direkt wieder in seinem Büro. Obwohl ich mich beeilen musste, riskierte ich einen schnellen Blick auf meine Armbanduhr. Acht Minuten bis zu meinem Bewerbungsgespräch. Und niemand war mir entgegengekommen. Also gab es keine andere Bewerberin, mit der ich vielleicht vertauscht worden war.
Drei Schritte weiter merkte ich, dass mein Gedankengang falsch war. Natürlich war mir niemand entgegengekommen. Wenn es noch eine Bewerberin mit Namen „Sommer“ gab, war sie nicht erschienen, sonst würde Herr Wagner nicht so ungeduldig darauf pochen, dass er bereits auf mich wartete und ich zu spät dran war.
Wie lange dauerte denn bei ihm so ein Bewerbergespräch? Zehn Minuten, fünfzehn Minuten – oder doch eher weniger? Nun, bald würde ich es wissen.
Mit einem mulmigen Gefühl trat ich durch die Glastür und schloss sie hinter mir. Jetzt wurde mir bewusst, wie nah die Lagerhalle war. Durch das riesige Fenster konnte ich den Lärm der Maschinen hören, sogar die Rufe der Menschen drangen bis hierher hoch. Worte konnte ich nicht verstehen, dennoch beunruhigte mich, wie laut es bereits hier im zweiten Stock ankam. Wie laut musste es unten in der Halle sein?
„Setzen Sie sich bitte.“ Herr Wagner zeigte auf einen Stuhl, der seitlich zur Fensterfront stand. Er selbst saß leicht schräg, sodass er einen perfekten Blick auf das Lager hatte. Allerdings begriff ich nicht ganz den Sinn davon, immerhin konnte er nichts sehen, was direkt unterhalb des Fensters passierte – und alles andere war so weit entfernt, dass er sowieso von seinem Büro aus nicht eingreifen könnte, falls etwas passierte.
Mit meiner Einschätzung lag ich total daneben, wie ich wenig später merkte. Ich saß noch nicht richtig, da drückte Herr Wagner auf einen Knopf und sprach mit ärgerlicher Stimme in ein Standmikro: „Mirko soll sofort den Stapler aus Gang fünf wegfahren!“ Es ertönte ein leicht kratzendes Geräusch, danach ein „Jawoll, Chef“. Kopfschüttelnd wandte sich Herr Wagner mir zu. „Ja, so ist das. Nicht einmal in Ruhe ein Bewerbungsgespräch kann man führen.“
Ich lächelte verhalten und knetete unruhig meine Finger. Genau jetzt war ich mir überhaupt nicht mehr sicher, ob ich hier arbeiten wollte, wo jeder Schritt genauestens überwacht wurde. Mein Herz klopfte unangenehm schnell, und ich versuchte, die unterschiedlichen Gerüche und Geräusche auszublenden. Dass Herr Wagner mit seinen eins neunzig, den breiten Schultern und den buschigen Augenbrauen keinen sehr einladenden Eindruck auf mich machte, verschlimmerte meine Situation.
Ich atme Unsicherheit und Angst aus und atme Mut und Stärke ein.
Dieses Mal zeigte das Mantra keinerlei Wirkung, denn in diesem Fall verzichtete ich gern auf Mut und Stärke. Ich wollte hier nicht arbeiten, lieber nahm ich einen Kredit auf, um über die Runden zu kommen. Hoffentlich hatte ich die Mail der Bank mit dem Kreditangebot von neulich noch nicht in den virtuellen Mülleimer geworfen. Es konnte sein, dass ich darauf zurückgreifen musste.
„Also, Frau Sommer …“ Herr Wagner räusperte sich. „Sie haben sich als Kommissioniererin beworben.“
Ich nickte. Mein Hals fühlte sich trocken an. „J-ja.“
Er lehnte sich zurück und musterte mich einen Moment. „Haben Sie Erfahrung in der Lagerlogistik?“
Wieso nur hatte ich das Gefühl, dass jedes Wort von mir falsch sein könnte? Ich atmete tief durch und antwortete: „N-nein … aber ich … ich bin sehr g-gut mit Listen … und Organisation …“
„Aha.“ Er griff zu einer Mappe, die ich als meine Bewerbungsmappe erkannte, und schlug sie auf. „Sie haben eine Ausbildung zur Einzelhandelskauffrau gemacht?“
„J-ja.“
Er runzelte die Stirn. „Und Sie haben danach auch in dem Beruf gearbeitet?“
„E-etwas“, stotterte ich unsicher. „A-aber ich wurde … oft nach der Probezeit n-nicht übernommen.“ Meine Stimme wurde mit jedem Wort leiser.
Er nickte langsam, seine Augen wanderten anscheinend weiter über meinen Lebenslauf. „Hmm … Einzelhandelskauffrau also. Und keine Erfahrung im Lager? Keinen Staplerführerschein?“
„N-nein …“
Er schüttelte den Kopf, schloss meine Bewerbungsmappe und seufzte. „Frau Sommer, ich fürchte, da ist wohl ein Fehler unterlaufen.“
Ich blinzelte. „E-ein Fehler?“ Sollte mich das freuen oder doch eher erschrecken? Immerhin hatte ich eine stundenlange Busfahrt hinter mir.
„Ja.“ Er klopfte mit einem Finger auf das Deckblatt meiner Bewerbung. „Wir suchen jemanden mit Erfahrung in der Lagerverwaltung. Jemanden, der sich mit der Warenannahme, Bestandskontrolle und vor allem mit dem Staplerfahren auskennt. Ohne Staplerführerschein können Sie hier nicht arbeiten.“
Mein Magen zog sich zusammen. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Es tut mir leid, dass Sie den weiten Weg umsonst gemacht haben. Ich weiß nicht, warum man Sie überhaupt eingeladen hat. Ihre Qualifikationen passen nicht zu der Stelle.“
Ich öffnete den Mund, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Auch wenn ich genau seiner Ansicht war, hörte es sich bei ihm wie nach einem Vorwurf an, als ob ich nicht einmal als Lagerarbeiterin taugte.
„Nun, es lässt sich nicht ändern.“ Er stand auf und zuckte mit den Schultern. „Trotzdem wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der weiteren Jobsuche. Vielleicht finden Sie ja eine Stelle, die besser zu Ihnen passt.“ Er griff zu meiner Bewerbermappe und hielt sie mir hin. Das war dann wohl das Zeichen für mich, dass ich gehen sollte.
Ich stand auf, griff mechanisch nach meiner Tasche, nahm meine Bewerbungsmappe entgegen und lächelte schief. „Danke … dass Sie sich die Zeit genommen haben“, murmelte ich. Wenigstens hatte ich dieses Mal nicht gestottert.
Er nickte. „Kein Problem. Alles Gute für Sie.“
Ich drehte mich um, öffnete die Tür und trat zurück auf den schmalen Gang. Mein Kopf pochte. Ich fühlte mich gleichzeitig erleichtert und enttäuscht. Was sollte ich bloß Frau Behrens sagen? Herr Wagner war tatsächlich meine einzige Hoffnung gewesen, alle anderen hatten mir abgesagt. Und nun wollte er mich auch nicht – hatte mich nie gewollt. Ich weiß nicht, warum man Sie überhaupt eingeladen hat. Ich wusste das noch viel weniger.
Ich blickte auf meine Uhr. Genau jetzt sollte mein Bewerbungsgespräch starten. Es hatte nicht einmal fünf Minuten gedauert, um mich abzuservieren.
Als ich dieses Mal durch das Treppenhaus nach unten ging, übertönte mein wilder Herzschlag den Hall meiner Schritte. Obwohl ich gar nichts dafür konnte, fühlte ich mich wie eine Versagerin.



























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