Kapitel 4
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Ein wenig mulmig war ihr schon, als sie in Richtung Norwegen brauste. Sie war bereits um fünf Uhr morgens abgefahren, um genügend Puffer zur Fähre zu haben, die kurz nach Mittag vom dänischen Hirtshals ablegte. Ihre Mutter war schlichtweg entsetzt gewesen, als sie von Annikas Plänen erfahren hatte, und hatte alles versucht, sie ihr auszureden. Doch Annika war stur geblieben. Immerhin hatte sie zugesagt, sich regelmäßig zu melden. Mit Skype war es einfach und günstig, den Kontakt nach Hause zu halten. Notgedrungen hatte sich Kerstin schließlich damit abgefunden, als sie sah, dass ihre Tochter nicht von dieser Idee abzubringen war. »Aber du musst mir eins versprechen«, sagte sie eindringlich zum Abschied. »Verliebe dich nicht in einen Norweger. Versprich es mir.«
Ein merkwürdiges Ansinnen. Es schien ihrer Mutter wirklich wichtig zu sein. Annika hatte es ihr leichten Herzens versprochen. Sie hatte keinerlei Ambitionen, sich in diesem Urlaub zu verlieben. Die Trennung von Sven saß noch zu tief. Auch wenn sie selbst die treibende Kraft gewesen war, tat es nicht weniger weh. Er war mit dem Rest ihrer Clique schon seit zwei Wochen in Kroatien. Sie hätte sich gerne noch mit Rieke getroffen und ihr von Dennis erzählt, doch ihre Freundin wohnte inzwischen in Hamburg und ein Treffen hatte sich einfach nicht mehr ergeben.
Annika war viel zu früh an der Fähre, aber das störte sie nicht. Sie checkte ein und ruhte sich dann auf dem großen Parkplatz aus. Sie war eine der Ersten hier, doch er füllte sich zusehends. Nachdem sie eine Kleinigkeit aus ihrem Lunchpaket gegessen hatte, spazierte sie über den Parkplatz. Es war sonnig, aber sehr windig und sie musste ihre langen Haare festhalten, damit sie ihr nicht ständig ins Gesicht flatterten. Schließlich legte das schlanke Fährschiff der Color Line am Pier an. Annika war aufgeregt, als sich das große Tor öffnete und sich die lange Schlange von Autos und Lastwagen in Bewegung setzte. Es war eine völlig neue Erfahrung für sie, auf ein Fährschiff aufzufahren. Aber es war überhaupt nicht schwierig. Sie reihte sich einfach nach den Autos vor ihr auf dem Parkdeck ein. Nicht viel anders als in einem Parkhaus. Anschließend machte sie sich auf die Suche nach ihrem gebuchten Sitzplatz. Der Passagierbereich war luxuriös ausgestattet und Annika ließ sich mit einem leisen Seufzer in den weichen Stuhl sinken. Die Überfahrt nach Kristiansand würde etwas über drei Stunden dauern. Genügend Zeit für ein Nickerchen. Anschließend hatte sie noch etwa neunzig Minuten Fahrt bis nach Åraksbø. Sie war sich nicht sicher, was sie dort zu finden erhoffte, doch sie würde wenigstens Dennis’ Grab besuchen können. Es war nach wie vor ein merkwürdiges Gefühl, dass sie ihre ersten zwei Lebensjahre mit einem Bruder verbracht hatte, an den sie sich nicht mehr erinnern konnte. Dazu haderte sie immer noch mit der Tatsache, dass ihre Eltern ihr seine Existenz verschwiegen hatten. Sie war begierig, mehr über das kurze Leben ihres Zwillingsbruders zu erfahren, doch ihre Mutter hatte sich bis zu ihrer Abfahrt schlichtweg geweigert, ihr etwas über ihn zu erzählen. Immerhin hatte sie auf Annikas Frage, ob Dennis im Åraksfjord ertrunken war, den Kopf geschüttelt und bei der Erwähnung des Hovatn zögerlich genickt. Damit stand der See ganz oben auf der Liste der Dinge, die Annika sehen wollte. Sie war fest entschlossen, ihren Bruder kennenzulernen. Vielleicht konnte sie ihre Mutter doch dazu bewegen, ihr von früher zu erzählen. Sie musste nur einen guten Zeitpunkt erwischen.
Träge döste sie vor sich hin, bis es Zeit war, ihren Corsa aufzusuchen und von Bord zu fahren. Einen Moment lang befürchtete sie, sich trotz Navi in der norwegischen Großstadt Kristiansand endlos zu verfahren, doch die Richtungen waren ausgezeichnet beschildert. Kurze Zeit später befand sie sich auf dem Weg nach Åraksbø. Die Straßen waren schmal und die Höchstgeschwindigkeit lag bei 80 km/h, was Annika sehr gelegen kam. So konnte sie ein wenig von der Umgebung in sich aufnehmen. An einem kleinen See direkt neben der Straße hielt sie an, um eine Pause einzulegen und die Landschaft zu bewundern. Der See war tiefblau und von Bäumen umsäumt. Es sah ungemein malerisch aus und Annikas Herz begann vor Vorfreude auf ihren Urlaub aufgeregt zu pochen.
Schließlich hatte sie ihr Ziel erreicht. Eine schmale Straße bog rechts von der Hauptstraße ab und führte bergan in das kleine Dorf Åraksbø. Sie fand ihr Ferienhaus auf Anhieb. Es war ein Holzhaus aus teils schon etwas verwitterten rotbraunen Brettern und befand sich am Dorfeingang mitten in einer Wiese. Ein schmaler Feldweg führte zum Haus. Ein kleiner schwarzer SUV stand davor. Annika stellte ihren Corsa dahinter ab und hielt einen Moment inne, um sich alles anzusehen.
Der Eingang war auf der rückwärtigen Seite. Dort befand sich eine Terrasse aus dunklem Holz mit einem einfachen Tisch, einer Holzbank und zwei Plastikstühlen. Annika lehnte sich an die Brüstung und genoss die Aussicht. Direkt vor dem Haus führte ein Hang hinunter zur Hauptstraße, der spärlich mit einigen Bäumen bewachsen war. Im Hintergrund lag der Åraksfjord. Ein Boot schaukelte sanft auf dem klaren Wasser. Minutenlang stand Annika nur so da und merkte, wie sie zur Ruhe kam. Dann wandte sie sich zur Tür, die offen stand. Sie sah sich um. Es schien niemand da zu sein. Ob sie einfach eintreten sollte? Zögernd ging sie durch die Tür in einen schmalen Gang. Links von ihr befand sich das Badezimmer. Es war nicht sehr groß, aber mit Dusche, Waschbecken und einer anscheinend neuen Toilette ausgerüstet. Auch eine Waschmaschine fand sie vor. Das nächste Zimmer war ein Schlafzimmer mit einem einzelnen Bett an der breiten und einem Stockbett an der schmalen Seite. Ansonsten war hier gerade noch Platz für einen Schrank. Die Wände waren in einem beigen Ton gestrichen und rochen noch leicht nach Farbe. Auch die Bettgestelle sahen neu aus. Kissen und Bettdecken hatten jedoch deutliche Gebrauchsspuren. Annika rümpfte die Nase. Sie war froh, dass sie nicht nur wie gefordert eigene Bettwäsche mitgenommen hatte, sondern einer spontanen Idee folgend Kissen und Decke über ihrem Gepäck ausgebreitet hatte. Eigentlich hatte sie sich nur das lästige Überziehen sparen wollen, aber nun sah sie, dass ihre Eingebung goldrichtig gewesen war. Die Tür klemmte, als sie sie beim Verlassen schließen wollte, und ließ sich nur auf zehn Zentimeter zuziehen, aber damit konnte sie leben.
Das angrenzende Zimmer war vollgestopft mit Arbeitsutensilien. Gehobelte Bretter lagen neben Farbtöpfen. Hammer, Nägel und Schrauben befanden sich ordentlich sortiert in einer Ecke. Annika sah einige Geräte, die sie benennen konnte, wie einen Schwingschleifer und eine Handsäge, aber auch welche, deren Bezeichnung sie nicht kannte. Ihr Vater hatte versucht, ihr etwas handwerkliches Wissen zu vermitteln, war dabei jedoch erfolglos geblieben. Ob Dennis geschickter gewesen wäre? Sie konnte direkt vor sich sehen, wie Vater und Sohn gemeinsam geschraubt und gehämmert hätten und wie immer, wenn sie an die beiden Menschen dachte, die sie verloren hatte, fuhr ein scharfer Stich durch ihr Herz.
Sie wandte sich ab und betrat den großen Raum auf der rechten Seite des Flurs. Das Wohnzimmer war nicht allzu üppig, aber gemütlich eingerichtet. Auf der linken Seite befand sich eine Couch, die mindestens vier Leuten Platz bot, rechts an den beiden Fenstern war ein schwerer Esstisch aus Eichenholz mit sechs Stühlen. Von der Tischplatte konnte sie allerdings nicht viel sehen, denn das ganze Geschirr war darauf gestapelt. Gleich rechts hinter der Tür war die Küchenzeile. Die Schränke waren ebenfalls aus heller Eiche und sahen neu aus. Alle Türen und Schubladen standen offen und rochen nach Holz. Im hinteren Teil des Zimmers befand sich eine weitere Couch mit einem Flachbildfernseher davor und einem Bücherregal an der Seite. Neugierig trat Annika näher und studierte die Titel. Es war ein buntes Sammelsurium aus norwegischen, deutschen und englischen Büchern. In einer Ecke lagen mehrere schwarze Bände, die wie Tagebücher aussahen. Sie nahm eines zur Hand und blätterte darin. Es waren Einträge früherer Gäste, meistens nur kurze Zeilen mit einem Dank an die Besitzer für die komfortable Unterbringung, aber einige hatten auch von ihrem Urlaub erzählt und teilweise ihren Bericht mit Fotos untermalt.
Annika sah auf, als sie ein Geräusch vor dem Haus hörte. Plötzlich kam sie sich vor wie ein Eindringling. Ob es dem Besitzer gefiel, dass sie so einfach hereinspaziert war?
Gleich darauf kam ein großer, blonder Mann ins Zimmer. Er trug einen Arbeitsoverall und hatte einen Einlegeboden für einen der Küchenschränke in der Hand. Annika entspannte sich. Das war nur einer der Handwerker, der die Renovierung durchführte, von der die Dame vom Reisebüro gesprochen hatte. Er sah süß aus mit den ungekämmten Haaren, die ihm widerspenstig in die Stirn fielen. Er lächelte sie freundlich an. Und Annika sah sich vor dem nächsten Problem. Wie sollte sie ihn ansprechen? Auf Deutsch? Oder besser auf Englisch?
Doch der junge Mann, der ungefähr in ihrem Alter war, nahm ihr die Lösung ab. »Hi, du bist ja schon da«, begrüßte er sie in einwandfreiem Deutsch.
»Ja«, entgegnete sie verlegen. »Es war offen und niemand da, deshalb bin ich reingegangen.«
Er winkte ab. »Das ist schon okay. Ist ja dein Haus für die nächsten zwei Wochen.« Er grinste sie an. »Ich wollte allerdings noch vorher die klemmende Tür im Schlafzimmer reparieren und die Küchenschränke einräumen.«
»Die Tür stört mich nicht und Einräumen kann ich auch«, bot Annika an.
»Gern.« Er streckte ihr die Hand hin. »Ich bin Jan.«
»Annika«, stellte sie sich vor.
»Freut mich. Hoffentlich ist dir die Unordnung nicht zu viel.«
»Ist doch nicht so schlimm«, wehrte sie ab. »Ich bin vorbereitet worden, dass ich nur Schlaf- und Wohnzimmer zur Verfügung habe.«
»Sehr viel mehr gibt es ja auch nicht.« Jan zuckte mit den Schultern. »Außer dem zweiten Schlafzimmer. Hast du dich schon umgesehen?«
Sie nickte.
»Gut. Ich bringe dir später noch eine vernünftige Bettdecke und ein anderes Kissen. Das Dach hatte ein Loch und es hat letzten Winter hereingeregnet, deshalb ist das Zeug so vergammelt. Ich habe neue Betten bestellt und gehofft, dass sie bis heute da sind. Ist nur leider nicht der Fall. Aber ein Freund kann mir aushelfen.«
»Kein Problem. Ich habe meine eigene Bettdecke und ein Kissen dabei.«
»Oh, das ist perfekt.« Jan lachte. »Dann spare ich mir den Aufwand, die Betten meines Freundes durch die Gegend tragen zu müssen.«
»Du sprichst hervorragend Deutsch«, komplimentierte Annika ihn. »Du hast überhaupt keinen Akzent.«
»Danke.« Er freute sich sichtlich. »Mir gefällt die Sprache. Sie ist mir immer leicht gefallen. Sogar leichter als Englisch.«
»Dabei ist Deutsch deutlich schwerer.«
»Ich weiß. Vermutlich liegt es daran, dass wir eine deutsche Nachbarin haben. Sie hat mit mir und meinem Bruder immer Deutsch gesprochen. In der Schule war es allerdings komplizierter, als es um Grammatik ging, aber ich mag diese ganzen Fallkonstruktionen. Deutsch ist anspruchsvoller als Englisch.« Er grinste schon wieder und zeigte ihr dabei weiße, ebenmäßige Zähne.
›Verliebe dich nicht in einen Norweger‹, kam ihr die Mahnung ihrer Mutter in den Sinn. Innerlich schüttelte sie den Kopf. Sie hatte keineswegs die Absicht, sich zu verlieben. Deshalb konnte sie Jan ja attraktiv finden, oder? Denn das war er definitiv.
»Weißt du, wann der Besitzer kommt?«, erkundigte sie sich. »Es hieß, er würde anwesend sein, um noch einige Dinge mit mir zu klären.«
»Ach, du denkst, ich bin hier nur der Handwerker, oder?«
»Bist du nicht?«
»Das Haus gehört meinem Vater. Aber er kümmert sich schon seit Jahren nicht mehr darum. Es ist praktisch stillschweigend auf mich übergegangen. Außer der Miete. Die kassiert er.«
»Entschuldige.« Annika spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Der Groschen hätte fallen müssen, als er von den Betten gesprochen hatte. Wie peinlich.
»Warum?«, meinte er. »Du hast recht. Ich bin nur der Handwerker. Ich habe daheim in Kristiansand eine kleine Schreinerei. In meiner freien Zeit versuche ich, das Haus hier wieder auf Vordermann zu bringen. Ich habe praktisch die ganze Einrichtung neu gebaut.«
»Wirklich?« Annika sah sich bewundernd um. »Respekt.«
»Danke.«
»Den Tisch auch?« Sie musterte den massiven Tisch mit seinen abgerundeten Ecken und den gedrechselten Füßen.
»Auf den bin ich besonders stolz.«
»Wie lange bist du hier schon beschäftigt?«
»Ich habe nach der letzten Sommersaison angefangen. Ich kann nur an den Wochenenden und am Feierabend hier arbeiten. Und da habe ich auch nicht immer Lust. Aber nach dem Anruf vom Reisebüro habe ich mich richtig reingehängt. Wie du siehst, ist das Haus schon fast wieder bewohnbar.«
»Nicht nur fast. Es ist perfekt.«
»Die Frau vom Reisebüro hat angedeutet, wie wichtig es dir ist, so kurzfristig noch ein Ferienhaus zu finden.«
»Ja, das ist es.«
Jan sah sie abwartend an, doch als sie keine Anstalten machte, ihm nähere Erklärungen zu geben, nickte er. »Dann ist es gut, dass ich dir helfen konnte.« Er sah auf die Uhr. »Ich bin bei meinem Freund zum Abendessen eingeladen. Ich schlafe auch dort. Morgen komme ich noch einmal vorbei und dann lasse ich dich in Ruhe deinen Urlaub genießen.«
Schade eigentlich. Annika mochte den jungen Mann. Sie hätte nichts dagegen, ihn etwas besser kennenzulernen. Vielleicht konnte er ihr weiterhelfen.
»Kennst du den Hovatn?«, fragte sie ihn, als er schon an der Tür stand.
»Natürlich. Den kennt hier jeder. Warum?«
»Ich will da in den nächsten Tagen hin.«
»Klar. Alle Touristen wollen zum Hovatn. Es ist wirklich schön dort.«
»Mein Bruder ist da ertrunken«, murmelte sie leise. Sie wusste nicht, warum sie Jan so etwas Intimes anvertraute, doch sie spürte das plötzliche Bedürfnis, ihm die Wahrheit zu sagen.
»Ach.« Betroffen starrte er sie an. »Das tut mir leid. Kürzlich erst?«
»Nein, es ist schon dreiundzwanzig Jahre her. Ich habe gerade erst erfahren, dass ich überhaupt einen Bruder hatte.«
»Hört sich nach einer interessanten Story an.«
Annika biss sich auf die Lippe. Sie hatte schon zu viel gesagt.
Jan nickte verstehend. »Ich bin dann mal weg. Passt dir morgen gegen zehn Uhr?«
»Natürlich«, stimmte sie zu.
»Prima, dann schlaf gut.« Er reichte ihr eine Visitenkarte. »Hier ist meine Telefonnummer. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du etwas brauchst.«
»Danke.« Sie warf einen kurzen Blick darauf. Jan Sørensen aus Kristiansand. Der Name hatte einen guten Klang. Sie lächelte ihn an. Ob er jedem Gast so bereitwillig seine Telefonnummer gab? Möglich, denn er war für das Haus verantwortlich, trotzdem fühlte sie sich geehrt.
Der freundliche junge Mann ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie telefonierte mit ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie angekommen war, und berichtete kurz von ihrer Reise und dem Haus. Jan erwähnte sie mit keinem Wort. Kerstin hätte wieder die Flöhe husten hören und ihr einen Vortrag gehalten, dass sie versprochen hatte, sich nicht in einen Norweger zu verlieben. Warum eigentlich nicht? Natürlich konnte Annika die Motive ihrer Mutter verstehen. Ungefähr sechshundert Kilometer Luftlinie und zwei Landesgrenzen waren für eine Liebe nicht sehr vorteilhaft. Aber Kerstin schien ein besonderes Vorurteil gegen Norweger zu haben. Bei Annikas früheren Auslandsurlauben war ihr nie ein ähnliches Gebot auferlegt worden. Sie fand Jan nett. Und sie dachte nicht daran, sich den Umgang mit ihm vermiesen zu lassen, nur weil ihre Mutter irgendeinem Hirngespinst nachjagte.
Nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hatte, richtete sie sich aus ihren mitgenommenen Vorräten ein einfaches Abendessen. Sie aß es auf der Couch vor dem Fernseher, da der Tisch mit dem Geschirr belegt war. Morgen war genug Zeit, es einzuräumen.
Das Fernsehprogramm war eine Enttäuschung. Es gab nur norwegische Sender, die ihr herzlich wenig halfen. Eine Weile verfolgte sie eine amerikanische Serie, die im Original mit norwegischen Untertiteln ausgestrahlt wurde, musste sich jedoch zu sehr konzentrieren, um die Handlung zu verstehen. Schließlich schaltete sie ab und nahm wieder die Tagebücher zur Hand. Das älteste Buch begann Ende der siebziger Jahre mit dem Eintrag eines Ehepaars, das davon schwärmte, wie klein und schnuckelig und rustikal die Hütte wäre. Annika sah sich um. Sie hatte etwas deutlich Kleineres erwartet, in ihren Augen war das Haus sogar ziemlich groß.
Sie überblätterte die Einträge, die in skandinavisch, englisch und sogar französisch gehalten waren und konzentrierte sich auf die deutschen. Sie erfuhr von etlichen Ausflügen zum Hovatn und fühlte sich wie ein Eindringling in fremde Leben, als sie die vielen Urlaubserlebnisse las. Viele Namen sah sie öfter, einige hatten sich sogar jedes Jahr eingetragen.
Als sie Mitte der achtziger Jahre angelangt war, legte sie mit einem Seufzer das Buch auf den kleinen Couchtisch und stand auf. Sie streckte sich und trat ans Fenster. Die Aussicht über den Åraksfjord war atemberaubend. Sie hatte schon mehrere Fotos an Rieke geschickt, aber noch keine Antwort erhalten. Vielleicht hatte sie schlechten Empfang. Oder sie genoss ihre letzten Tage in Kroatien und sah nicht ständig aufs Handy. Für einen Moment vermisste Annika ihre Clique, doch das Gefühl verschwand sehr schnell, als sie wieder hinaus auf den See sah, der im Licht der untergehenden Sonne funkelte. Sie warf einen flüchtigen Blick zur Uhr und riss die Augen auf. Es war schon halb elf Uhr abends. Bei der ungewohnten Helligkeit war ihr jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen. Kein Wunder, dass sie so müde war. Sie war seit vier Uhr auf den Beinen. Höchste Zeit, das neue Bett auszutesten.
Als sie das Tagebuch vom Tisch nahm, um es ins Regal zurückzustellen, schlug die nächste Seite um. Beim Zuklappen erhaschte sie einen vagen Blick darauf, doch das genügte, um ihr Interesse zu wecken. Ihr Plan, ins Bett zu gehen, war für den Moment vergessen. Sie setzte sich wieder und blätterte hastig in dem Tagebuch, um die Stelle wiederzufinden, die sie gerade gesehen hatte.
Es war ein kurzer Bericht aus dem Jahr sechsundachtzig über eine unvergessliche Urlaubsreise. Aber das war es nicht, was sie aufgeschreckt hatte. Es war das bereits leicht verblichene Polaroidbild, das daneben klebte. Zwei fröhliche junge Frauen prosteten sich lachend mit einem Weinglas zu. Die eine war ihre Mutter. Die andere war Iris.































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