Kapitel 2: Leora

„Du hast gestern mit deinem Vater telefoniert“, stellte meine Mum fest und ich verschluckte mich an der Nudel, die ich mir kurz zuvor in den Mund geschoben hatte. Ein heftiger Husten überkam mich und für einen kurzen Moment konnte ich kaum Luft holen. Als ich endlich wieder zu Atem kam, legte ich meine Gabel weg – der Appetit war mir vergangen.

„Woher weißt du das?“ fragte ich nervös und schaute in ihre braunen Augen, die mir mein ganzen Leben so viel Trost gegeben hatten.

„Du warst nicht gerade leise“, bemerkte sie und lächelte kurz, aber das Lächeln verschwand schnell aus ihrem Gesicht, als sie den Ernst der Lage erkannte. „Warum hast du ihn angerufen?“

Ich schaffte es nicht mehr, ihr in die Augen zu sehen und senkte den Blick auf den Tisch, der mit vielen Kratzern und Schrammen übersät war. Warum fühlte ich mich so schuldig? Das Telefonat hatte ich nur geführt, um ihr zu helfen.

„Ich dachte, er könnte uns vielleicht das Geld für deine Chemotherapie bezahlen oder ausleihen“, murmelte ich leise, überzeugt, dass sie es hörte, da sie verdammt gute Ohren hatte.

Auch sie legte ihr Besteck wegund das Essen war vergessen. Wir wussten beide, dass dieses Gespräch länger dauern würde.

„Ach Schatz“, seufzte sie und ich konnte die Müdigkeit in ihrer Stimme spüren. „Wir werden das schon irgendwie hinbekommen, da brauchen wir seine Hilfe nicht. Ich werde in den nächsten Wochen einfach ein paar Stunden mehr arbeiten und mir vielleicht noch einen zweiten Job besorgen. Das Geld wird schon irgendwie reinkommen.“

Geschockt schaute ich sie an. Meine Mum war schon lange nicht mehr die jüngste Frau. Auch gesundheitlich ging es ihr, abgesehen vom Krebs, nicht gut. Sie hatte immer so viel gearbeitet und sich um mich gekümmert, dass ich nicht wollte, dass sie sich noch mehr belastete.

„Nein, Mum! Du musst dich erst recht jetzt schonen, schließlich hast du Krebs. Ich werde mich um das Geld kümmern. Das verspreche ich dir!“ Die Entschlossenheit in meiner Stimme war stark, doch tief in meinem Inneren nagte die Angst, dass ich es nicht schaffen würde.

Die Vorstellung, innerhalb von ein paar Wochen so viel Geld zusammenzubekommen, war schier unmöglich, es sei denn, ich wollte eine Bank ausrauben. Doch ich war bereit, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um meine Mum zu retten.




Auch eine Bank ausrauben. Aber das war mein Plan Z.

Ich wusste, dass die Zeit drängte und während ich auf den leeren Teller starrte, überkam mich die Verzweiflung. Ich musste einen Plan schmieden – und zwar schnell.

„Hast du schon die Stellenanzeige angeschaut, die ich dir geschickt habe?" fragte Lacy über mein Laptop, ihre Stimme klang geduldig und unterstützend, aber ich konnte das Frustrationsgefühl, das sie vielleicht auch empfand, in ihren Worten heraush...

„Hast du schon die Stellenanzeige angeschaut, die ich dir geschickt habe?“ fragte Lacy über mein Laptop, ihre Stimme klang geduldig und unterstützend, aber ich konnte das Frustrationsgefühl, das sie vielleicht auch empfand, in ihren Worten heraushören.

„Ja, aber die nehmen nur Leute an, die Erfahrung in dem Bereich haben“, seufzte ich, während ich durch die Seiten im Internet blätterte. Jedes Mal, wenn ich eine Anzeige las, die für mich wie ein Lichtblick aussah, wurde ich von den Anforderungen wieder in die Realität zurückgeholt.

Lacy war meine beste Freundin und das schon seit wir klein waren. Unsere Mütter arbeiteten beide als Putzfrauen im gleichen Betrieb und waren eng befreundet. Es war schön zu wissen, dass wir eine Art Familie waren, auch wenn die Umstände unserer Kindheit oft alles andere als einfach waren.

Nur hatte ich Lacy seit ein paar Monaten nicht mehr gesehen, seit sie in Europa Jura studierte. Sie hatte die Chance auf eine bessere Zukunft ergriffen, während ich hier in Amerika festsaß, gefangen in der Realität meiner Sorgen. Umgeben von Pflanzen, die immer nach nur ein paar Tagen verwelkten. Aber ich war froh, dass zumindest einer von uns beiden etwas Richtiges lernte und ihren Traum verfolgte.

Als ich Lacy erzählte, dass meine Mum Krebs hatte und die Chemotherapie sehr teuer war, hatte sie sich sofort daran gemacht, Stellenanzeigen im Internet zu suchen. Wir telefonierten jetzt schon seit mehr als zwei Stunden zusammen, suchten unermüdlich nach einer Stelle, die es mir ermöglichen würde, schnell Geld zu verdienen, ohne dass ich eine spezielle Ausbildung benötigte. Denn das hatte ich nicht, trotz das ich 23 Jahre alt war.

„Was ist mit dem Job in der Kantine?“ schlug sie vor.

„Ich habe gesehen, dass sie schon ein paar neue Leute eingestellt haben. Die Anzeige ist wahrscheinlich veraltet… oder sie haben schon genug Bewerber“, murmelte ich, während ich nervös auf dem Bleistift kaute, dessen Spitze längst zerbrochen war. Es war eine alte Gewohnheit, die ich kaum noch bemerkte, aber in Momenten wie diesen, wenn die Unsicherheit mich überkam, griff ich immer wieder zu ihm.




Nach der Schule hatte ich ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Pflegeheim gemacht, das mir viel bedeutete. Es war eine Zeit, in der ich viel über Empathie und Fürsorge gelernt hatte. Danach wollte ich eigentlich studieren, aber mein Vater hatte uns verlassen und meine Welt war auf den Kopf gestellt. Ich musste für meine Mum genug Geld verdienen, um über die Runden zu kommen und Schulden abzubezahlen. Seitdem arbeitete ich in einem kleinen Café hier in der Stadt.

„Wir finden etwas, ich verspreche es dir“, sagte Lacy und ihre Stimme klang voller Zuversicht, doch in mir regte sich eine tiefe Skepsis. Ich wollte an ihre Worte glauben, aber die Realität sah oft düster aus und die Schwere der Situation lastete wie ein unsichtbares Gewicht auf meinen Schultern.

„Danke, dass du für mich da bist, Lacy.“

„Hast du noch irgendetwas gefunden?“ fragte ich sie nach einer weiteren halben Stunde, in der Hoffnung, dass sie etwas entdeckt hatte, was ich übersehen hatte.

Mein Blick wanderte über die unzähligen Stellenanzeigen auf dem Bildschirm, die alle in einem ähnlichen Tonfall schrieben: „Wir suchen motivierte Mitarbeiter“, „Erfahrung erforderlich“ „Mindestlohn“– das alles fühlte sich an wie ein weiteres Hindernis, das mir in den Weg gestellt wurde. Ich brauchte einen zweiten Job der viel Geld hergab und. Und vielleicht, ohne mich in eine Richtung zu drängen, die ich wirklich nicht gehen wollte. Wie Stripperin, zum Beispiel.

„Nein, tut mir leid. Ich bin wirklich alles durchgegangen. Es sieht echt schlecht aus“, seufzte sie und ich konnte die Verzweiflung in ihrer Stimme hören, die sich mit meiner eigenen vermischte. In diesem Moment fühlte ich mich, als ob wir beide im selben Boot saßen, gefangen in einem Sturm, ohne Ausweg.

Nach ein paar weiteren Minuten des Suchens fiel mein Blick auf eine recht unauffällige Stellenanzeige, die in der Fülle der anderen leicht übersehen werden konnte. Als ich auf das Einstelldatum schaute, wurde mir klar, warum sie mir nicht schon früher aufgefallen war – sie war erst vor wenigen Minuten hochgeladen.

Die Überschrift lautete: „Pflegekraft für einen Monat gesucht.“ Mein Herz schlug einen Takt schneller, als ich mit nicht allzu vielen Erwartungen darauf klickte.




„Uhh, ich glaube, ich habe eine ganz gute Anzeige gefunden. Warte, ich lese sie kurz laut vor“, sagte ich und fühlte, wie ein Funken Hoffnung aufkam.

Wir suchen eine Pflegekraft für unseren Neffen, der krank ist und auf dauerhafte Pflege angewiesen ist. Da wir für mehrere Wochen verreisen, benötigen wir jemanden, der während dieser Zeit die Betreuung übernimmt. Die Person sollte während dieses Zeitraums bei uns wohnen und wird mit einem eigenen Zimmer sowie Verpflegung versorgt. „

Ich hielt inne. Ein Zimmer und Essen? Das klang fast zu gut, um wahr zu sein.

„Im Gegenzug erwarten wir, dass die Pflegekraft das Haus im Auge behält und für Sauberkeit sorgt. Für Pflege und Reinigung bieten wir etwa tausend Dollar pro Tag. Natürlich ist das eine anspruchsvolle Aufgabe, aber genauere Details werden dann persönlich besprochen „

Mein Herz schlug schneller. Tausend Dollar pro Tag! Ich hätte nie gedacht, dass es so viel Geld für einen Job geben könnte. Aber was bedeutete das in der Praxis? Würden sie mir wirklich so viel Verantwortung anvertrauen?

„Die Voraussetzungen sind, dass die Person volljährig ist, Erfahrung im Pflegebereich hat und sehr zuverlässig ist. Wenn alles passt, senden Sie Ihre Bewerbung an die unten angegebene E-Mail-Adresse.“

„Tausend Dollar am Tag?!“ riefen Lacy und ich gleichzeitig. Ein erleichtertes Lächeln huschte über mein Gesicht. Wenn dieser Artikel wirklich stimmte und ich tatsächlich genommen wurde, könnte doch noch alles gut werden.

„Jack Point“, fügte Lacy hinzu. „Du musst denen sofort schreiben, sonst schnappt sich noch irgendjemand anderes diese Stelle!“

Doch während die Begeisterung in mir wuchs, überkam mich plötzlich ein mulmiges Gefühl. Irgendetwas stimmte an dieser Stellenanzeige nicht. Wer würde so viel Geld für so wenig Arbeit anbieten? Waren sie einfach nur reich, oder gab es einen Haken?

Ich stellte mir vor, wie die Familie hinter der Anzeige aussah. Was für eine Art von Krankheit hatte der Neffe? Warum mussten sie für so lange Zeit weg sein? Und vor allem: Was war mit dem jungen Menschen, der gepflegt werden sollte?

„Was ist, Lea? Hast du Bedenken?“ fragte Lacy, ihre Stimme klang besorgt. Ich sah sie an und wusste, dass sie ebenfalls Zweifel hatte.




„Ich weiß nicht“, murmelte ich. „Es fühlt sich einfach… zu einfach an. Tausend Dollar pro Tag? Wo ist der Haken?“

„Wir könnten es zumindest versuchen“, schlug Lacy vor. „Schreib ihnen und frag nach weiteren Details. Du hast nichts zu verlieren.“

Ich nickte zögernd. Es war ein Risiko, aber vielleicht war es auch die einzige Chance, die ich hatte, um meiner Mum zu helfen.

Mit einem tiefen Atemzug setzte ich mich wieder an den Laptop und versuchte die Email zu schreiben. Doch meine Finger blieben über den Tatsten hängen.

„Ich würde einen Monat von meiner Mum getrennt sein. Erst recht jetzt kann ich sie nicht so lange alleine lassen“, seufzte ich, während meine Sorgen sich wie ein schwerer Mantel um mich legten.

„Leora, du wirst nicht die Chance auf das Geld verpassen! Mach dir keine Sorgen um deine Mum“, erwiderte Lacy sofort, ohne zu zögern. „Ich kann meine Mum anrufen und sie darum bitten, täglich bei deiner vorbeizuschauen. Sie kann ihr auch im Haushalt helfen, wenn es nötig ist.“

Ihre Worte trafen genau den richtigen Nerv. Die Last auf meinen Schultern wurde plötzlich ein wenig leichter und meine Laune besserte sich merklich. Lacy hatte recht – diese Gelegenheit war zu wichtig, um sie verstreichen zu lassen. Das Geld war die einzige Chance, meiner Mum zu helfen.

„Lacy, du bist einfach die Beste“, sagte ich mit einem kleinen Lächeln, das endlich wieder über meine Lippen kam.

„Ich weiß“, antwortete sie mit einem spielerischen Grinsen in der Stimme. „Und jetzt schreib endlich diese doofe Bewerbung!“

Ich nickte, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Ohne weiter Zeit zu verlieren, begann ich, die E-Mail zu tippen.

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