Lehrstätte der Arkanen

Zurück zur Schule! Sechs Tage ohne den Tyrannen, ohne dieses elende Leid. Für andere mag das nichts Besonderes sein, aber für mich ist es alles. Ich springe in den Strudel des Portals und freue mich auf den heutigen Unterricht.
Wie immer wartet Martina auf mich.
Heute bin ich so gut drauf, dass mich ihre komisch beobachtende Art nicht stört. Wir laufen zusammen zum Unterricht, wo bereits alle anderen am Quatschen sind, neue Tricks zeigen und mehr. Bis der Lehrer kommt.

Doch bevor der Unterricht beginnt, werde ich vom Schülerrat abgeholt.

»Heute ist doch gar kein Schülerrat«, sage ich verwirrt.

»Wo geht es denn hin?«

Eine der Ältesten, Liliana, lächelt mich an.

»Es ist ein Schülerratsausflug«, erklärt sie.

»Ein besonderer Anlass.«

»Toll«, sage ich, obwohl ich ein ungutes Gefühl habe. »Besser könnte es ja nicht werden!«

Obwohl ich spüre, dass ich im Schülerrat nicht sehr beliebt bin, ist es immer noch besser als zu Hause. Jeder kennt das „nette Gesicht“, die charmante, falsche Fassade des Tyrannen und seine Macht. Sie fürchten ihn und denken, ich hätte es so gut, weil er mich beschützt. Aber sie irren sich gewaltig. Sie wissen nicht, was wirklich hinter den Mauern meines Schlosses geschieht.

Für sie scheine ich prachtvoll, glücklich zu sein, aber das bin ich nicht. Ich bezahle für die Opfer meiner Vorfahren – jeden einzelnen Tag.
Sie sind so naiv, haben keine Ahnung. Wenn sie nur wüssten, würden sie sich mit ihrem eigenen Schicksal zufriedengeben und niemals mit mir tauschen wollen.

Das heutige Thema im Schülerrat ist Gestaltveränderung – ein mächtiges Werkzeug, um sich zu tarnen, zu täuschen, zu überleben.

Im Schülerrat tragen wir Mäntel, die mit Sternen verziert sind. Jeder Stern steht für eine Fähigkeit, eine Errungenschaft, ein Opfer. Je mehr Sterne deinen Mantel schmücken, desto höher ist deine Position, desto größer dein Ansehen. Ich weiß, dass viele mich deswegen hassen. Ich kam in den Schülerrat, und mein Mantel war bereits voller Sterne. Ich stehe ganz oben, ohne etwas dafür getan zu haben – zumindest denken das die anderen.

Sie mussten viel selbst opfern, um an ihre Sterne zu kommen, während mir alles in den Schoß gefallen ist, weil ich so viel „Glück“ habe. Glück! Wenn sie wüssten, was für ein Leid ich zu Hause ertrage, was meine Familie bereits alles geopfert hat, damit ich all dieses Wissen, all diese Sterne besitze.



Der Schülerrat wollte, dass ich auftrete und die Kunst der Gestaltänderung zeige. Ich hatte keine Lust. Ich komme hervor und zeige, wie ich mich in ein kleines fünfjähriges Mädchen verwandle. Mein Mantel ist so groß, dass man mich zuerst nicht sieht. Als ich aus dem Sternenmantel hervorkomme, sind die hohen Schüler und die obersten Lehrer begeistert, während gewisse Schüler, die noch nicht so weit sind, Angst und Schrecken zeigen.

Diese Blicke, die auf mich geworfen werden… dieses Geflüster! Ich hasse es.

Da es für mich selbstverständlich war, habe ich auch keine Erklärung. Die Leiterin übernimmt das für mich. Ich sitze wieder an meinem Platz und bin genervt – immer noch in Gestalt eines kleinen Kindes. So fühle ich mich auch!

Ich höre jemanden hinter mir sagen:

»Wir haben es nicht leicht. Was für eine Ironie, etwas zu können, ohne es gelernt zu haben.«

Ich schaue nach hinten, doch da ist niemand.
Nur die leeren Blicke der anderen Schüler, die mich anstarren. War es eine Einbildung?
Hat jemand wirklich etwas gesagt, oder bilde ich es mir nur ein? Vielleicht ist es der Fluch, der mir Streiche spielt, oder die Last der Sterne, die auf meinen Schultern ruht. Ich weiß es nicht.

Ich wende mich wieder nach vorne und versuche, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, aber die Worte des unbekannten Sprechers hallen in meinem Kopf wider.

»Wir haben es nicht leicht…«

Wer sind »wir«? Und was bedeutet es, etwas zu können, ohne es gelernt zu haben? Je mehr ich darüber nachdenke, desto verwirrter werde ich.

Ich beschließe, die Frage vorerst beiseite zu schieben und mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.
Ich bin im Schülerrat, ich bin in der Akademie, und ich bin frei – zumindest für den Moment.

Im Schülerrat herrscht angespannte Stille. Eigentlich redet fast niemand mit mir. Doch dann sehe ich auf meiner linken Seite den, von dem die Stimme kam. Da sitzt ein Junge, ohne ein Wort zu sagen. Schon als ich ihn sehe, weiß ich, dass er Pablo heißt. Seine Augen ähneln meinen auf seltsame Weise – düster und doch mit einem Funken Licht, der aber schwächer leuchtet als meiner.

Er sieht mich an, und ich ihn. Er errötet, und sein Blick weicht zur Seite.



Er sagt: »Das wird schon.«

Ich weiche einen Schritt zurück und frage ihn: »Du auch?«

Durch unsere Augen erkennen wir, dass wir ein ähnliches Schicksal teilen.

Er hat auch schon ganz viele Sterne, sogar ein paar mehr als ich.

Er sagt: »Komm, gehen wir. Das alles hier müssen wir doch nicht nochmals lernen, oder?«

Er lächelt mich an – ein ehrlicheres Lächeln als das von Martina. Ich sage einfach „okay“ und gehe mit Pablo mit.

Obwohl wir nicht reden, reden wir doch.
Ich verstehe ihn. Pablo ist ein Meisterzauberer, und ich spüre, dass er sich nicht darum schert, was man ihm sagt. Er missachtet jede Regel und jeden Befehl. Dafür mag ich ihn.

Pablo spricht einen Zauber der Verschollenheit, damit wir aus dem Unterricht abhauen können. Als wir im Flur sind, laufen wir zum Fenster, das zum Garten zeigt. Pablo lächelt mich ganz süß an und öffnet das Fenster – und plötzlich sprudelt ein Regenbogen herein! Farben und Glitzer jeder Art!

Ich schaue hinein – und da ist nicht mehr der Garten, sondern ein prachtvoller Himmel voller Türen!

Er schaut mich an und sagt:

»Auf was wartest du?«

Er nimmt meine Hand und springt mit mir hinein! Ganz viele Blubberblasen und Wolken kommen uns entgegen, und als sie verschwinden, befinden wir uns auf einer Chilbi!

»Ein bisschen Spaß schadet nicht«, sagt er und lächelt mich wieder an.

Wir verbringen die ganze Zeit dort – Achterbahn im Wasser, Wolkenlabyrinth, Blumenwiesen-Trampolin, Zuckerwatte und Eis. Es sind auch andere dort, alle so nett. Seine Freunde stellt er mir vor. Irgendwie verlieben wir uns. Pablo zeigt mir jede Attraktion, die es gibt.
Diese Welt hat er selbst erschaffen.

Wir haben so viel Spaß und machen viele Fotos. Die Zeit fühlt sich an wie eine Ewigkeit.
Immer wieder stoppt er, schaut mir tief in die Augen und sagt meinen Namen.

»Pablo, hast du keine Angst vor dem Vorstand, dass wir uns so rausschleichen?«

Pablo lacht. »Und wenn schon? Das Leben ist kurz! Wenn nicht jetzt, dann gar nicht.
Wo will ich sonst Spaß haben?«

Dann verwandelt er sich in einen kleinen Jungen und sagt: »Jetzt bin ich fünf – wie du«, und lacht. Wir rennen herum, klettern auf Karussells, werfen Dosen ab und gewinnen riesige Stofftiere.




Die Musik ist laut, die Lichter blinken, und überall riecht es nach gebrannten Mandeln und Popcorn.

Ich fühle mich wie in einem Traum, so weit weg vom düsteren Schloss und dem Tyrannen.
Hier, in Pablos Welt, bin ich frei.

Doch plötzlich spüre ich eine Kälte. Ein Schatten fällt über mich, und eine Stimme flüstert in meinem Kopf:

»Das ist nicht echt… Es ist nur eine Illusion…«

Ich schaue mich um – alles scheint normal.
Aber die Stimme wird lauter:

»Wach auf… du gehörst hier nicht hin…«

Panik breitet sich in mir aus. Ist das alles nur ein Traum? Bin ich wirklich frei? Oder nur eine Marionette in Pablos Spiel?
Ich schaue Pablo an – sein Gesicht verschwimmt, verzerrt. Nur Dunkelheit bleibt.

»Pablo…«, flüstere ich. Er antwortet nicht.
Er lächelt nur weiter, dieses süße, unschuldige Lächeln, das mir jetzt so fremd vorkommt.Dann ist er weg. Die Chilbi verschwindet.
Die Musik verstummt.

Ich stehe allein im Flur der Akademie, vor dem Portal. Liliana steht hinter mir, legt eine Hand auf meinen Rücken.

»Sechs Tage sind vorbei. Du musst nach Hause.«

Ich erschrecke. Sie sagt, es tut ihr leid, dass sie mich zurückholen muss, aber nächstes Mal soll ich selbst auf die Zeit achten – besonders, wenn ich den Schülerrat schwänze.
Sie würde es diesmal für sich behalten.

»Die Akademie ist groß, Jemea, und es gibt Verräter. Für dein Bestes: triff Pablo nicht mehr. Er hat seinen Eid gebrochen und folgt den Regeln nicht. Nur seine Macht schützt ihn noch.
Mit so jemandem solltest du keine Zeit verbringen.«

Ich halte ein Foto in der Hand – Pablo und ich beim Eisessen.

»Okay«, sage ich leise.

Doch als ich nochmals auf das Foto sehe, steht Pablo da… und hinter ihm drei schwarze Gestalten, Schattenwesen. Nur ich kann sie sehen.

»Das war kein Traum«, flüstere ich.

Ich schaue wieder hin – das Foto ist blutbefleckt. Pablos Gesicht unkenntlich.

»Nein… nein!«

Liliana sieht mich streng, aber traurig an.

»Es tut mir leid, Jemea. Geh nach Hause.«

»Pablo ist nicht schlecht! Ihr wisst gar nicht, was für er durchmacht!«

Martina die auch da war sagt plötzlich:
»Wer ist Pablo?«

Ich starre sie an.
»Wir reden doch gerade über ihn!«



Liliana runzelt die Stirn. Ich zeige ihr das Foto – doch darauf bin nur ich. Kein Blut, keine Schatten. Nur ich mit einem Eis.

»Ich sehe niemanden«, sagt Martina.

»Vielleicht solltest du dich ausruhen«, meint Liliana leise.

»Aber er ist doch hier! Er ist mein Freund!
Ihr versteht das nicht!«

Liliana antwortet sanft:
»Pablo ist nicht gut für dich. Du musst ihn vergessen – für dein eigenes Wohl.«

Tränen steigen mir in die Augen. Ich verstehe nichts mehr. Versuchen sie, mich zu manipulieren? Oder bin ich wirklich verrückt?

Ich renne davon. »Ich werde ihn nicht vergessen!«

Ich laufe durch die Gänge, frage jeden nach Pablo. Niemand kennt ihn. Es ist, als hätte er nie existiert.BVoller Verzweiflung renne ich in den Schülerrat. Wieder nur leere Blicke.

»Es gibt keinen Pablo«, sagen sie.

Liliana tritt vor. »Lass es gut sein, Jemea.
Es ist vorbei.«

Ich schreie, weine, hämmere auf das Portal ein – bis es sich plötzlich öffnet. Ich renne hindurch, zurück nach Hause, in mein Zimmer, in die Dunkelheit, die ich so sehr hasse.

Die Worte Lilianas hallen in meinem Kopf wider:

»Du sahst das Blut auf dem Bild. Du weißt, was es bedeutet. Du sahst seine Augen. Du sahst die schwarzen Geister. Nimm es an. Es tut mir leid, Jemea. Rechnungen werden nicht nach unseren Wünschen beglichen.«

»Nein!«, schreie ich. »Er ist nicht tot! Sie lügen!«

Eine sanfte Stimme antwortet mir aus dem Nichts:

»Es tut mir leid, Jemea.
Seine Augen sagten es voraus.
Diese düsteren Augen.
Diese schwache Flamme.
Dieses ehrliche Lachen, als wäre es sein letztes Mal. Er ist fort. Der Bund hat ihn eingeholt.«

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