Schneewittchen bei der Paartherapie

»Also gut, Herr und Frau König, warum sind wir heute hier?« Die Therapeutin schaut über den Rand ihrer Brille und notiert sich irgendetwas auf ihrem Klemmbrett. Schneewittchen verschränkt die Arme vor der Brust, ihr Blick eisig. Neben ihr sitzt der Prinz, den alle immer nur ›der Prinz‹ nennen. Sein eigentlicher Name? Den kennt keiner, nicht mal er selbst so genau.

»Weil er mich nicht mehr sieht!« faucht Schneewittchen plötzlich. »Seit wir geheiratet haben, ist alles anders. Keine Lieder mehr, keine spontanen Tänze im Wald, keine romantischen Küsse. Stattdessen hängt er nur noch am Handy und scrollt durch irgendwelche Ritter-Memes!«

Der Prinz verdreht die Augen. »Weil du immer mit den Zwergen schreibst! Ihr habt eine WhatsApp-Gruppe! ›Team Schneewittchen‹, echt jetzt?«

»Zumindest hören die mir zu, wenn ich was sage!« Schneewittchen schnauft. »Du warst damals ja nur der, der mich geküsst hat, als ich im Glaskasten lag. Aber seitdem? Keine Gespräche. Keine Nähe. Nur deine Pferde und deine Ritter-Kumpels!«

Die Therapeutin nickt langsam. »Und haben Sie, Herr Prinz, je darüber gesprochen, wie Sie sich fühlen?«

»Fühlen? Ich? Ich dachte, wir leben im Märchen. Da hat das alles ein Happy End. Das war der Deal!«

»Falsch!« schießt Schneewittchen dazwischen. »Das war der Anfang. Wir haben nie über uns gesprochen, nie herausgefunden, ob wir überhaupt zueinander passen. Du hast mich im Koma gesehen, geküsst und – zack – Ehe! Keine Fragen, keine Dates. Du weißt nicht mal, was mein Lieblingsessen ist!«

Der Prinz zuckt mit den Schultern. »Äpfel?«

Schneewittchen rollt mit den Augen. »Sehr witzig.«

Die Therapeutin räuspert sich. »Vielleicht sollten wir klären, was Sie beide voneinander erwarten. Frau König – oder darf ich Schneewittchen sagen? – was wünschen Sie sich?«

»Ehrlichkeit. Aufmerksamkeit. Und dass er endlich mal meinen Namen richtig ausspricht. Er nennt mich dauernd ›Schatzi‹, weil er sich nicht sicher ist, ob ich mit ›Schneewittchen‹ oder ›Witti‹ angesprochen werden will.«

Der Prinz lacht verlegen. »Stimmt. Ich war mir nie sicher.«

»Und Sie, Herr Prinz?«

Er kratzt sich am Kopf. »Ich will einfach mal wissen, wer ich eigentlich bin. Ich hab nicht mal einen Vornamen. Ich will mehr sein als ›der Typ, der Schneewittchen geküsst hat‹. Vielleicht heißt das ja, dass wir rausfinden müssen, wer wir wirklich sind – jeder für sich. Und dann… vielleicht wieder gemeinsam?«



Die Therapeutin lächelt. »Ein Anfang.«

Schneewittchen lehnt sich zurück, schaut den Prinzen lange an. »Okay. Aber wenn du nochmal ›Schatzi‹ sagst, dann ziehst du wieder bei den Zwergen ein.«

Ein kurzes Lächeln huscht über beider Gesichter. Vielleicht kein Happy End – aber immerhin ein Gespräch. Und für ein Märchen ist das schon fast revolutionär.

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