Hier ein Auszug aus dem dritten Kapitel

Herr Winter hatte offensichtlich Spaß an der Monomachete, die man ihnen für den Ausflug ausgehändigt hatte. Wenn man das Ding am Griff einschaltete, versetzte eine Technik die Klinge in Vibration. Die Machete ging durch Äste wie durch warme Butter. Er überlegte sogar, sie in das Gepäck zu schmuggeln und die Klinge als Souvenir mitzunehmen.

„Vergiss es, das Ding kriegst du niemals durch die Bodenkontrolle!“ Seine Frau hatte seine Gedanken gelesen.

„Hmpf“, grummelte Herr Winter vor sich hin. Er hatte schon genügend Platz für die Machete und den RF22 in seinem Koffer gemacht und insgeheim gehofft, zumindest eines der beiden bis zur Erde zu bringen. Laut den Bedingungen der Reise war es ihnen verboten, Artefakte und Lebensformen mitzunehmen. Von Ausrüstung war aber in keiner Passage die Rede gewesen, da war sich Herr Winter sicher.

Frau Winter hatte ihre eigene Machete gar nicht mitgenommen, sondern konzentrierte sich auf das Ultrakurzwellengerät, das die zahllosen Insekten von ihr fernhielt. Sie hasste alles, was mehr als 4 Beine hatte. Und davon gab es hier eine Menge: Gliedmaßen, Tentakel und Körperteile, die sie nicht einmal benennen konnte.

„Von dem Viehzeug haben sie hier nichts erzählt, Bruno. Ganz schön widerlich!“, sprach sie mehr zu sich als zu ihrem Mann.

Es wimmelte überall von kleinen Lebewesen, und es war manchmal gar nicht klar, was Pflanze und was Tier war. Der ganze Dschungel roch ständig seltsam, und aufgrund der Sonneneinstrahlung hatte alles irgendwie immer einen Grünton.

„Bruno, über deine Definition von Urlaub müssen wir uns noch unterhalten!“, rief sie in den Dschungel.

Ihr rann Schweiß in den Nacken und ihre linke Fußsohle juckte kontinuierlich, was sie halb in den Wahnsinn trieb.

Sie war mental schon längst zurück in den Wellness-Zellen des Langliners, wo Automaten den kompletten Körper massierten, salbten und pflegten.

Sie bemerkte gar nicht, wie ihr Mann voller Enthusiasmus eine halbe Landebahn in den urweltlichen Dschungel hackte. Er hatte seine Audioimplantate mittlerweile auf volle Lautstärke gestellt und bewegte die Waffe im Rhythmus klassischer Musik des 20. Jahrhunderts.

Sie waren schon seit über einer Woche auf dem Planeten Arkturus 3, und Frau Winter hatte, wie man so sagte, die Schnauze voll. Der Planet wechselte im Rekordtempo Wetterzonen, und so gaben sich Regen und subtropische Hitze die Klinke in die Hand.



Herr Winter hatte sich bereits mental darauf vorbereitet, für den Trip noch einige Jahre Buße zu tun. Seine Frau hatte unmissverständlich klargestellt, dass die Urlaube der nächsten 100 Jahre aus Strand und Meer bestehen würden. Was er sich allerdings nicht anmerken ließ: Er hatte Spaß!

Der Planet war fremdartig und ließ das seine Besucher an allen Ecken spüren. Nichts hier roch wie auf der Erde oder fühlte sich normal an. Sogar die sich selbst erhitzenden Verpflegungspakete schmeckten anders, als sie sollten. Er hatte ein Abenteuer gewollt und genau das bekommen.

Heute war einer der Höhepunkte für ihn. Sie waren mit Antigrav-Plattformen in den tiefen Dschungel gebracht worden und erkundeten hier die Umgebung auf eigene Faust. Herr Winter hatte seine Frau schon ein paar Mal davon abhalten müssen, den Rückhol-Anruf zu tätigen. Sie würden ihre aktuelle Position übermitteln und abgeholt werden. Wenn es nach Frau Winter ging, hätte sie schon seit Stunden lieber in einer heißen Badewanne gelegen, anstatt sich durch das Dickicht zu quälen.

Doch dann hielt sie einen Moment inne.

Irgendwo am Rande ihres Sichtfeldes hatte etwas aufgeblitzt und ihr Interesse geweckt. Sie konnte keine Lianen und Gestrüpp mehr sehen und hoffte auf irgendetwas Interessantes.

Sie war sich mittlerweile sicher, etwas gesehen zu haben, und schob sich vorsichtig durch die Pflanzenwelt darauf zu. Noch wollte sie ihren Mann nicht informieren. Er war ohnehin mit der Vernichtung der lokalen Pflanzenwelt beschäftigt.

Ohne die Machete erwies sich das Vorankommen zwar als schwierig, aber nicht unmöglich. Sie war sportlich und gelenkig und bahnte sich ihren Weg durch Ranken und Äste. Doch mit einem Mal verlor sie den Halt und den Boden unter ihren Füßen. Sie schrie, während sie in die Tiefe fiel, und hoffte, dass ihr Mann sie hören würde.

Und dann verlor sie auf einmal das Bewusstsein.

 

Frau Winter öffnete langsam die Augen und blickte sich um. Ihr Blick war unscharf und sie hatte überall Schmerzen. Langsam richtete sie sich auf und zählte im Stillen ihre Knochen. Frau Winter klopfte sich ab und stellte fest, dass der Schreck tiefer saß als irgendwelche Verletzungen. Irgendetwas hatte ihren Fall abgefedert und sie unversehrt gelassen. Über ihr war eine Art Kuppel, die diffuses Licht verbreitete. Sie konnte keine Öffnung erkennen, durch die sie durchgefallen war. Aber die Decke war mindestens 10 Meter hoch. Es war ein Wunder, dass sie sich nichts gebrochen hatte. Unter ihr bestand der Boden aus einer Art Metallgeflecht, das gelblich schimmerte.



Frau Winter stand auf und nutzte das Zwielicht, um sich zu orientieren. Sie befand sich in einer großen Höhle, deren Ausmaße sie nur schwer ausmachen konnte. Vor ihr in einiger Entfernung war eine Art Säule, von der ein leises Summen ausging. Da das der einzige markante Punkt war, lief sie darauf zu. Ihre Schritte waren vorsichtig und etwas wackelig. Ihr war schwindelig.

Nach ein paar Schritten hatte sie das Konstrukt erreicht, das bis zu ihrer Hüfte reichte. Licht kam zwar von überall, aber war so diffus, dass sie keine Details erkennen konnte. Die Säule wirkte aus der Nähe metallisch und war über und über mit Pflanzen bewachsen. Doch irgendwie zog sie das Ding an. Das Summen war lauter geworden und ging definitiv von dem Konstrukt aus. Sie musste sich auf ihren Tastsinn verlassen.

Sie hasste es wie die Pest, in Sachen hineinzugreifen, die sie nicht sehen konnte. Vorsichtig streckte sie die linke Hand aus und berührte das Ding. Die Säule fühlte sich an metallisch an. Dazwischen waren immer wieder Wurzeln und Blätter von Pflanzen. Zumindest hoffte sie, dass es Pflanzen waren.

„Hmm“, sagte sie und wünschte sich, ihr Mann würde ihr in diesem Moment einen Rat geben. Bruno war in solchen unerwarteten Situationen immer spontaner.

Sie fuhr mit der Hand nach oben auf die Oberseite. Etwas lag hier, das sich zuerst wie Holz anfühlte, dann aber unmittelbar zu Staub zerfiel.

Angeekelt zog sie die Hand zurück.

Doch in derselben Sekunde erwachte etwas in der Säule zum Leben. Unter ihr begann der Boden leicht zu vibrieren, und das diffuse Licht wurde hell genug, um Details zu erkennen.

In Frau Winter schoss Übelkeit empor, denn was da auf der Säule unter ihren Fingern zu Staub zerfallen war, waren die Überreste einer fremdartigen Hand.

„Bäh!“, rief sie angewidert. „Das ist ja ekelhaft!“

Die Hand hatte eine undefinierbare Anzahl an langen Fingern und war mit Resten einer Art Handschuh bedeckt. Als die Säule vibrierte, zerfiel auch der Rest der Hand zu Staub. Frau Winter trat einen erschreckten Schritt zurück und stolperte über etwas Geröll. Aus der Säule heraus kamen metallische Tentakel, die in ihre Richtung schossen. Die Dinger waren so schnell, dass sie nicht reagieren konnte.



Instinktiv hob sie die Arme, um sich zu schützen. Dann spürte sie einen stechenden Schmerz im linken Unterarm und verlor erneut das Bewusstsein.

Dunkelheit umfing sie.

 

„Kovaluktor!“ Die Stimme war laut, metallisch und für Frau Winters Empfinden unglaublich nervig.

Frau Winter hatte Kopfschmerzen und wusste nicht, wie lange sie ohne Bewusstsein gewesen war.

„Kovaluktor!“ Die Stimme blieb hartnäckig.

Sie lag nicht auf dem Boden, sondern auf einer Art weichem Bett. Langsam richtete sie sich auf und suchte nach dem Ursprung der Stimme. Ihr fiel auf, dass sich das Lager aus dem Boden heraus geformt hatte.

Vor ihr in der Luft schwebte eine Art Konstrukt. Es erinnerte sie an einen Würfel mit zu vielen Seiten. Eines von den Dingern, die Bruno und seine Freunde benutzt hatten, als sie jünger gewesen waren. Das Ding war durchscheinend und allem Anschein nach eine Projektion. Es war so groß wie ein Kopf und änderte ständig Form und Farbe. Es schwebte abwartend vor ihr.

Einem Gefühl folgend betrachtete sie ihren Unterarm und erschrak. Ein Teil ihres Overalls war zerrissen, und sie hatte auf der Innenseite ihres linken Unterarms so etwas wie eine metallene Plakette. Sie schien mit ihrer Haut verbunden zu sein und juckte furchtbar. Das Ding schimmerte irisierend und war von seltsamen Linien durchzogen. Instinktiv kratzte sie daran herum.

„Das würde ich dir nicht empfehlen“, sprach die Projektion erneut, deren Stimme auf einmal nicht mehr ganz so metallisch klang. „Kova…“, begann das Ding einen weiteren Satz, aber wurde unterbrochen.

„Ich hab dich beim ersten Mal schon gehört!“, herrschte Frau Winter die Projektion an. Sie ließ von der Plakette ab und wandte sich dem Ding zu.

Das Objekt war metallisch, aber hatte die durchscheinende Transparenz eines Hologramms. Frau Winter vermutete, dass es sich um eine KI handelte. Obwohl die Menschheit eingesehen hatte, dass künstliche Intelligenzen nicht der Wahrheit letzter Schluss waren, waren sie dennoch überall präsent. Mal mehr, mal weniger nützlich und aufdringlich. Das Ding hier war Frau Winters Erachtens nach auf jeden Fall nervig.

„Was willst du von mir?“, sprach sie das Ding an und zog eine Augenbraue hoch.



Das seltsame Objekt wurde etwas größer und kam näher. „Großer Kovaluktor! Benenne deinen Gefechtsagenten!“, gab das schwebende Ding von sich. Der Tonfall wurde fast feierlich. Die Projektion pulsierte, fast einen Herzschlag imitierend.

Frau Winter überlegte für einen Moment, warum sie das Ding verstehen konnte. Die Frage hob sie sich für später auf.

„Gefechtsagent? Was denn für ein Gefecht?“, fragte sie verwirrt. Sie schaute sich hektisch um. Doch sie war mit dem seltsamen Ding allein in der Höhle. Von einem Kampf war hier weit und breit nichts zu sehen.

„Ich bin dein zugewiesenes Kommandokonstrukt und mit allen Befugnissen ausgerüstet, um die Basis zu …“, begann das Ding, bevor es wieder unterbrochen wurde.

Frau Winter wedelte abweisend mit der Hand. Dann hielt sie die ausgestreckte Hand vor ihr Gesicht. „Mach mal langsamer, ich habe Kopfschmerzen. Und ich verstehe nur die Hälfte, von dem, was du da von dir gibst“, sagte Frau Winter, die sich den Kopf hielt. Sie hatte die Augen zugekniffen und kämpfte gegen eine Migräneattacke. Am liebsten wäre ihr nun eine Couch, Decke und ein Glas Tee gewesen. Stattdessen war sie in einer halb eingestürzten Höhle von „Gott weiß wem“ mehrere Lichtjahre von zuhause entfernt. Sie nahm sich vor, das Thema „Abenteuerurlaub“ zu Hause mit ihrem Mann ausgiebig, unter Einbindung eines Kataloges hübscher und sehr teurer Handtaschen, auszudiskutieren.

Sie wandte sich wieder dem seltsamen Ding zu, das erwartungsvoll vor ihr schwebte. „Was war das andere? Kovaluktor?“, fragte sie mehr zu sich selbst als zu dem Ding. „Dann nenn ich dich doch einfach so … Kova… Kovalund… Kovaluktor oder so.“ So ganz verstand Frau Winter nicht, was das Objekt von ihr erwartete. Sollte es doch heißen, wie es wollte.

„Ich? Nein, einen solchen Titel kann ich nicht annehmen. Bitte benenne deinen bescheidenen Sklaven!“, fuhr das seltsame Ding fort.

„Sklaven?!“, entfuhr es Frau Winter erbost. „Was seid ihr denn für eine Gesellschaft?“

Für die Projektion war es der erste Kontakt mit einem Menschen, und sie lernte quasi in Echtzeit. Allerdings machte es ihr Frau Winter auch nicht leicht.

„Ich bin dein … Diener, großer Kovaluktor!“ Versuchte es die Projektion erneut.



Frau Winter jedoch verlor langsam die Geduld. „Wie du zweifellos mit irgendeinem deiner Sensoren sehen kannst, bin ich eine Frau. Das Wort Kovaluktor endet auf -tor, was eine männliche Endung ist. Wenn du schon mit mir redest, dann deklinier mich wenigstens richtig!“

„Kovalukta?“, fragte die Projektion vorsichtig.

„Schon besser. Klingt aber ein wenig wie ein Medikament gegen Geburtsschmerzen oder eine vilandesische Nudelsuppe“, antwortete Frau Winter nicht sonderlich begeistert.

„Kovalu…“ Das Ding machte eine Pause mitten im Satz und hoffte auf Hilfe, die aber von nirgendwo kam. Darauf hatten es seine Erbauer ganz und gar nicht vorbereitet.

 

„Kannst du mich nicht einfach beim Namen ansprechen und mich Jen nennen?“, fragte Frau Winter mit fast schon versöhnlicher Stimme. Ihr Schädelbrummen ließ langsam nach, und sie konnte sich wieder auf das Wesentliche konzentrieren. Sie kratzte sich wieder am linken Arm.

„Der Titel ist fest mit der Steuerung der Basis und dem Oberbefehl verbunden. Und verzeih meine Offenheit, aber ‚Jen‘ klingt nun nicht sonderlich spektakulär. Daher haben die Erbauer dir den Titel des Kovaluktor verliehen“, antwortete das Konstrukt naiv, aber pflichtbewusst.

Obwohl die Projektion mit Sicherheit das Sprichwort nicht kannte, bewegte sie sich auf dünnem Eis. Und zwar ausgesprochen dünnem.

„Was an meinem Namen ist denn bitte nicht spektakulär?“ Frau Winters Stimme klang fast süßlich. „Du weißt doch sicher, was er bedeutet, oder?“

Die Projektion interpretierte die Stimmlage als Sympathiebekundung. Was daran lag, dass für sie Sarkasmus noch ein äußerst abstraktes Konzept war.

Ein Konzept, das es erst seit wenigen Sekunden lernte. „Ich habe nicht die geringste Ahnung, aber der Name ist der Aufgabe nicht angemessen“, kam die Antwort.

Frau Winter atmete tief durch. Wenn sie der fremden Projektion nun erklären würde, dass ihr Name ursprünglich aus dem Walisischen kam, würden sie hier heute nie fertig.

Sie kratzte sich erneut an der seltsamen Metallplakette an ihrem Arm. Frau Winter war inzwischen aufgestanden und streckte sich. „Irgendwo hier muss es doch einen Ausgang geben“, sagte sie laut. „Weit weg von diesem Ding und seinem Gefecht.“



„Große Kovalese, ich bitte um Verzeihung!“, versuchte es die Projektion, mit Zuversicht in der Stimme.

Frau Winter drehte sich wieder zu dem Ding um. „Kovalese? Das hört sich an, wie eine Hunderasse!“ Frau Winter war nun endgültig der Geduldsfaden gerissen. „Du wirst mich Frau Winter nennen!“, sagte sie bestimmend.

Die vermeintliche KI hatte binnen weniger Minuten die Konzepte von Sarkasmus, Niederlage und Resignation verstanden und verinnerlicht.

„Ich habe verstanden Frau Winter!“ Die Projektion verlor etwas ihres metallischen Schimmers.

Frau Winter nickte zustimmend und wollte sich weiter in der Höhle umsehen.

„Frau Kova… Winter?“, fragte die KI zögerlich.

„Was?“, antwortete Frau Winter barsch.

„Ich möchte nicht unangenehm auffallen, aber du hast mich immer noch nicht benannt. Ich bin hmm…“ Die Projektion ging in Millisekunden das gesammelte Wissen der Datenbanken der elektronischen Geräte durch, die Frau Winter mit sich herumtrug. Auf einem Gerät, das wohl eine Art primitiver Kommunikationsermöglicher war, wurde sie schließlich fündig. Die Rasse des Kovaluktors hatte ein primitives System, das sie Omni-Net nannten.

Die Projektion fand zwar den Vergleich mit dem, was Frau Winter als KI bezeichnete, herablassend, aber sie ließ sich des lieben Friedens willen darauf ein.

„Ich bin deine persönliche Künstliche Intelligenz! Auf welchen Namen soll ich hören?“ Die Projektion versuchte, möglichst freundlich zu klingen.

Frau Winter legte den Kopf ein wenig schief und betrachtete das schwebende Konstrukt.

„Du bist also eine KI?“, fragte sie vorsichtig.

„Ja, Kova… Frau Winter, das bin ich!“ Die Stimme hatte mittlerweile Emotionen in der Stimmlage, die die KI ebenfalls aus Frau Winters Geräten und dem Omni-Net extrapoliert hatte.

Frau Winter erschien das Bekenntnis zur künstlichen Intelligenz etwas wenig überzeugend, beließ es aber dabei. Dann winkte sie abweisend mit der rechten Hand. „Danke, aber ich brauche keine KI. Brunos Klo ist mir schon intelligent genug.“ Frau Winter winkte weiter ab. Sie drehte sich um und suchte nach einem Weg aus der Höhle.

Auch mit dieser Antwort hatte die KI nicht gerechnet.

Doch genau in diesem Augenblick überwog die Neugier in Frau Winter. Eigentlich war das doch genau, was sie sich auf dem fremden Planeten erhofft hatten. Sie kicherte etwas, denn ihr Mann würde sicher eifersüchtig werden, weil sie anstatt ihm diese Entdeckung gemacht hatte.



„Geschieht dir recht, Bruno“, sagte sie laut. Dann drehte sie sich wieder zu dem Konstrukt um, das weiterhin abwartend in der Luft schwebte.

„Bruno?“, antwortete das Konstrukt leicht enttäuscht. „Ich bestätige B… R… U…“

„Stopp!“, rief Frau Winter. „Nicht du! Einer von denen ist mir schon genug. Bei zwei von der Sorte kann ich mich ja gleich in einen Sarg legen und warten, bis ich dran bin.“

Wenn die KI bis hierhin nicht schon verwirrt war, stand sie gerade vor einem binären Kollaps. Sämtliche ihrer Subroutinen versuchten, die Situation zu analysieren.

Frau Winter betrachtete die KI sehr genau aus dem Augenwinkel und traf eine Entscheidung. Sie kam einen Schritt zurück und schaute die Projektion genau an.

Das Objekt veränderte kontinuierlich die geometrische Form, seine Oberfläche und Farbe.

„Ich nenne dich Mercia!“, sagte sie mit Bestimmung.

„Bist du sich…?“, fragte die KI vorsichtig.

„Übertreib es nicht!“, warf Frau Winter ein.

„M-E-R-C-I-A!“ Die Bestätigung der KI klang fast ein wenig enttäuscht.

„Was ist denn nun schon wieder?“, fragte Frau Winter angriffslustig. „Stimmt etwas mit dem Namen nicht?“

„Nein, nein! Der Name ist angemessen“, antwortete Mercia.

Die Projektion drehte sich einmal um die eigene Achse. Eigentlich eine völlig überflüssige Bewegung, aber sie wollte Frau Winter signalisieren, dass sie verstanden hatte.

Frau Winter nestelte wieder an ihrem linken Arm herum. „Und was ist das hier?“ Frau Winter schnippte gegen die Metallplakette an ihrem linken Unterarm. Das unangenehme Kribbeln war einer Wärme gewichen. Irgendwie fühlte sich das Metall lebendig an.

Mercia hatte sich gerade mit Begriffen wie Trotzigkeit vertraut gemacht und war auch kurz davor, diese in der Praxis anzuwenden. Diese Menschen, wie sie sich laut ihrem Omni-Net nannten, hatten eindeutig zu viele Emotionen und Eigenheiten. Logik behielt aber für Mercia die Oberhand. Für jetzt.

Die KI kam näher und beleuchtete das Implantat mit einem fokussierten Lichtstrahl.

„Das ist das Artexomal, das dir die Basis implantiert hat“, antwortete Mercia pflichtbewusst.

„Arte… was? Implantiert? Ich will nichts implantiert haben!“ Frau Winter war verärgert, dass man ihr ohne Rückfrage etwas in den Arm operiert hatte. „Mach das wieder ab“, fügte sie hinzu und knibbelte mit dem Fingernagel an dem Implantat herum. „Und welche Basis überhaupt?“, forschte sie nach.



Sie sah sich erneut um, aber außer Geröll und Staub gab es hier nichts. Schon gar nicht eine Basis.

„Aber der Kovaluktor trägt das Artexomal zur Kontrolle der Basis“, sagte Mercia und bemühte sich, verwirrt zu klingen.

Mercia verstand die Konversation nicht. Einige Subroutinen verliefen in die Unendlichkeit. Hätte eine KI so etwas wie Migräne bekommen können, wären das hier die ersten Ansätze gewesen.

Frau Winter schob mit dem Fuß einige Steine auf dem Boden herum. „Wie eine echte Basis sieht das aber nicht gerade aus, findest du nicht? Und ich bin weder euer Kovaluktor, noch habe ich eine Ahnung, von welchen Gefechten du hier redest“, sagte Frau Winter, die eigentlich nur hier weg wollte. Wenn sie hier raus war, würde sie Bruno die Höhle zeigen, er konnte ein paar Holovids aufnehmen und sich anschließend wie Magellan oder Vasco da Gama fühlen.

Die KI war verwirrt, ihre Subroutinen konnten die kausale Verkettung nicht aufbrechen.

Anscheinend hatte der Stützpunkt die Lebensform aufgrund einer Fehlfunktion als Kovaluktor identifiziert und ihr das Artexomal implantiert. Es gab allerdings in der Datenbank keine Information darüber, was zu tun war, wenn der Kovaluktor fehlidentifiziert wurde. Der Kovaluktor trug das Artexomal, genau wie das Artexomal den Kovaluktor identifizierte.

Die Basis war unfehlbar. Eigentlich.

„Wir machen das jetzt einfach, Mercia“, sagte Frau Winter. „Du entnimmst mir dieses Ding hier wieder und zeigst mir den Ausgang. Und als Gegenleistung erzähle ich irgendwelchen Trotteln im Basiscamp von der Höhle hier. Dann kannst du dir einen passenden Kovasonstwas aussuchen. Da war sogar ein Typ, der wirklich scharf auf einen Konflikt mit Außerirdischen war! Hmm?“, forderte Frau Winter die KI auf. „Wenn ihr es implantieren könnt, könnt ihr es auch wieder herausnehmen, oder?“

Sie hob den Arm in Richtung Mercia und die KI wich einige Zentimeter zurück. Auch das war ein Sonderfall. Einen Kovaluktor zu Ent-Kovaluktisieren, war in der Datenbank ebenfalls nicht vorgesehen. Die KI entwickelte gerade tatsächlich eine höhere Form elektronischer Migräne. Ein Kovaluktor wurde Ent-Kovaluktisiert durch Vernichtung oder Transition in eine höhere Dimension. Was wollte denn der neue Kovaluktor?



Mercia durchsuchte die Datenbanken des Omni-Net und blieb besonders beim Begriff „Trottel“ stehen. Dort wurden wesentlich andere Attribute genannt, als einen Kovaluktor standardmäßig auszeichnen sollten.

„Frau Winter?“, begann Mercia, die langsam Klarheit in alle offenen Fragen bringen wollte. „Was ist ein Trottel?“

„Jen? Je-en?“, rief eine männliche Stimme in einiger Entfernung. Die Höhle formte aus dem Ruf ein leises Echo, das sich mehrfach fortpflanzte.

„Wenn man vom Teufel spricht, was?“, kommentierte Frau Winter die wohlbekannte Stimme.

Ihr Mann hatte sie wohl endlich gefunden. Sie konnte allerdings nicht identifizieren, woher die Stimme kam. Die Höhle musste irgendwo noch einen Eingang haben, durch den man nicht durchfallen musste.

„Ich bin hier unten, Bruno!“, rief sie erleichtert zurück.

Auch ihre Stimme formte ein Echo, und sie hoffte, dass es laut genug für ihren Mann war. Dann erschrak sie leicht und bedeckte den Arm mit dem Implantat mit ihrer Jacke.

„Jeeeeen?“, die Stimme kam näher und hallte in der Höhle wieder.

Frau Winter wandte sich Mercia zu. „Und du, verschwinde! Wir werden das später beenden!“

„Sehr wohl, Kovaluktor“, sagte Mercia mit voller Absicht. „Ich freue mich auf unseren Austausch!“

Die Projektion verschwand, bevor Frau Winter protestieren konnte.

 

Auf der panischen Suche nach seiner Frau war Herr Winter über einige alte Ruinen gestolpert und hatte eine Art Höhlensystem gefunden. Zu ihrer Ausrüstung gehörten Lichtquellen und Orientierungsdrohnen. Auch wenn die Signale der Ortung unscharf gewesen waren, hatten sie dennoch hier ausgeschlagen. Er verfluchte die Tatsache, nicht das „Premium Ausflugspaket“ gebucht zu haben, dann hätte er wenigstens eine Nadelpistole und Beleuchtungsdrohnen gehabt.

Die Notfallmeldeeinrichtung hatte seine Frau an den Gürtel geschnallt, so dass er keine Möglichkeit gehabt hatte, um Hilfe zu rufen. Zudem hatten sich seine Männlichkeit und sein Abenteuergeist vereint, um zumindest einmal in ihrer Ehe den Retter in der Not zu spielen. Daher hatte er den Abstieg gewagt. Er war froh, dass seine Frau ihn nicht beobachtet hatte, denn allzu gelenk hatte er sich nicht mit den Plastikseilen und selbstbohrenden Haken angestellt.



Er war schließlich auf dem Boden angekommen und auf ausgesprochen neugierige Fauna gestoßen. Die Reiseleitung hatte die Touristen davor gewarnt, dass es auf dem Planeten mit Sicherheit die eine oder andere unbekannte Lebensform geben würde, die durch die „Standardisierte Lebensformerfassung der planetar-irdischen Bioabteilung „gerutscht“ war. Unter den zahlreichen elektronischen Formularen zur Einreise waren auch einige Verzichtserklärungen versteckt gewesen, für den Fall, dass einige der etwaigen Lebensformen sich als allzu „neugierig“ herausstellen würden. Herr Winter, der alle Formulare ausgiebig gelesen und dennoch ignoriert hatte, wünschte sich allerdings in diesem Moment, dass sie den Begriff „neugierig“ ein wenig präzisiert hätten.

Nach einer geraumen Zeit der Suche hatte ihm Jen endlich geantwortet. Doch seine aufkeimende Euphorie wurde gerade von einem dieser neugierigen Wesen unterbunden, das anscheinend durch die Erkennung gerutscht war. Er fragte sich in diesem Moment, wie genau es diese Scanner eigentlich nahmen, denn das Vieh vor ihm war mit Sicherheit über zwei Meter groß und massiv wie ein Felsbrocken.

Es war ihm in die Höhle gefolgt und blockierte den Ausgang. Das Wesen sah aus, als ob man einen terranischen Bären mit einer Kakerlake gekreuzt hätte.

Es hatte für die Größe viel zu viele Zähne und sah nicht nur ausgesprochen neugierig, sondern auch sehr hungrig aus.

Herr Winter hatte die Monomachete an seinem Gürtel befestigt und ging ohnehin davon aus, dass er mit der Klinge das Vieh nur wütender machen würde. Allerdings sah das Monster aus wie ein gewaltig überzüchtetes Insekt, daher hoffte er, dass die kleine Anti-Insekten-Spraydose an seinem Vielzweckgürtel Erfolg bringen würde.

„Schhh! Ruhig!“ Er hob die Hände und versuchte, das Wesen zu beschwichtigen. Er nahm sich vor, dass die letzte Hoffnung es mit einem Vegetarier zu tun zu haben mit ihm sterben würde.

„Hey!“, erklang die Stimme seiner Frau auf einmal hinter ihm. Und zwar äußerst laut.

„Jen!“, sagte Herr Winter, ohne den Blick von dem Wesen abzuwenden. „Du machst es nur auf dich aufmerksam. Keine gute Idee!“

„Ja DU!“, rief Frau Winter an ihrem Mann vorbei und ignorierte seine Warnung.



Das Vieh streckte einige Dinge aus, die wie Augen aussahen, um die Quelle der Geräusche zu orten. Dann flog ein Stein an Herrn Winter vorbei und traf das Wesen am Kopf. Herr Winter zuckte zusammen.

Entweder hatte seine Frau einen schrägen Plan oder sie hatte den Verstand verloren. Sie wollte das Wesen klar provozieren und dessen Aufmerksamkeit auf sich lenken.

Ein weiterer Stein flog.

Herr Winter nahm sich vor, für den Fall, dass er hier lebend rauskam, ein ernstes Wort mit der Reiseleitung zu reden und ihre Definition von „einzelnen, kleineren Lebensformen“ in Frage zu stellen. Herr Winter hatte aufgegeben, Klauen und Zähne zu zählen. Zudem stank das Ding, was wohl aber das kleinste ihrer Probleme war.

„O Gott, Jen, was machst du da?“, rief er laut. Er drehte sich nicht zu seiner Frau um und rief über die Schulter.

Die Aufmerksamkeit von dem Vieh hatten sie so oder so. Ein bisschen weiterer Lärm würde hier keinen Unterschied mehr machen.

Ein dritter – überraschend großer – Felsbrocken flog und landete diesmal krachend im Maul des Wesens. Was hatte seine Frau nur vor?

„HEY!“ Frau Winter ließ nicht locker. Ihre Stimme klang fest und bestimmt.

Das Grollen des Biests hallte in der Höhle nach und reichte Herrn Winter bis in die Knochen.

Herr Winter ging nun an den Rand der Höhle. Anscheinend hatte seine Frau einen Plan, so wenig er ihn auch erkennen konnte. Das Wesen fokussierte sich auf Frau Winter und kam auf sie zu.

„Ja, genau! Ich rede mit dir. Du hässlicher Vogel!“ Ihre Stimme zeigte keine Furcht, lediglich eine Spur Ungeduld. „Und jetzt lässt du gefälligst meinen Mann in Ruhe!“, fügte sie bestimmend hinzu.

Herr Winter wollte protestieren. Auch wenn er sich keine Chancen gegen die Bestie ausrechnete, war da irgendwo noch sein Beschützerinstinkt. Inzwischen waren klassische Geschlechterrollen zwar nicht mehr vorhanden, aber so ganz wollte er das doch nicht auf sich sitzen lassen. Aber wenn er in den letzten 23 Jahren Ehe eines gelernt hatte, dann, in den richtigen Momenten still zu bleiben.

Das war einer dieser Momente.

Das Wesen fuhr inzwischen noch ein paar mehr Krallen an Körperstellen aus, an denen eigentlich keine Krallen sitzen sollten.



Herr Winter stellte zwar seine Männlichkeit spontan in Frage, aber er wollte seine Frau auch nicht unbedingt gefressen sehen. Er nahm das Anti-Insektenspray vom Gürtel und streckte den Arm aus. „Schhhh! Ab!“, sagte er mit leicht bebender Stimme. Ein dichter Nebel kam aus der Sprühflasche.

Die Wirkung blieb aber aus, es reichte nicht einmal dafür aus, den Fokus der Bestie auf sich zu ziehen. Herr Winter hingegen atmete eine beträchtliche Menge des Nebels ein und hustete.

Seine Frau kam allerdings im selben Moment äußerst gewandt ein seine Seite und ließ dabei das Monster nicht aus den Augen. Mit einem kurzen Ruck riss sie die Monomachete von Herrn Winters Gürtel. Dann spürte er einen kräftigen Klaps auf seinen Hintern, der ihn fast aus der Balance brachte.

„Warte kurz, Hase“, sagte Frau Winter und sprang das Wesen mit hoch erhobener Klinge an.

An das Folgende konnte sich Herr Winter auch später nur noch spärlich erinnern.

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